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Millionen von Menschen planen ihre Ausreise aus afrikanischen Ländern. Viele sehen ihre Chance in Europa. Sie sind auf der Suche nach Arbeit, Wohlstand und Komfort. Hat eine der grössten Wanderungsbewegungen der Menschheitsgeschichte erst begonnen?
Im Februar 1946 empfiehlt die UNO-Vollversammlung, dass ein Flüchtling gegen seine begründeten Einwände nicht in sein Heimatland zurückgeschickt werden dürfe.1 In dieser Geburtsstunde des internationalen Rechts auf Asyl leben auf der Welt 2,4 Milliarden Menschen. Ende 2015 werden es fünf Milliarden mehr sein. Das ist – für einmal passt das Wort – eine Herausforderung.
An Demographie dachte im Jahre 1946 niemand. Man kümmerte sich um die Entwurzelten des Zweiten Weltkriegs, die nicht in kommunistische Hände fallen wollten. Dass eines Tages viele hundert Millionen oder gar Milliarden von zu Hause nur noch weg wollen – und das ganz ohne Waffengetümmel –, lag jenseits aller Vorstellungskraft. Prognosen über 7,4 Milliarden Erdbewohner 2015 und mindestens 9,6 Milliarden mit Wohlstandsanspruch im Jahre 2050 wären als Machwerke durchgeknallter Professoren beiseitegelegt worden.
So ändert sich die Welt – allerdings nicht unbedingt der Blick auf sie. Die alte Welt hat immer noch Mühe, diese Dimensionen zu begreifen, weil sie in Europa selbst nicht greifbar sind. So gab es 1914 im Gebiet von Österreich, Deutschland und der Schweiz 80 Millionen Einwohner. 2014 sind es mit 95 Millionen nicht wesentlich mehr. Ohne Migranten wären es mit 75 Millionen sogar weniger. Lateinamerika hingegen hatte 1914 rund 75 Millionen Einwohner. 2014 sind es 615 Millionen. Hätte man sich im Gebiet von Österreich, Deutschland und der Schweiz ebenfalls um 820 Prozent vermehrt, hätten unsere Nachbarn es nicht mit 95, sondern mit 656 Millionen Deutschsprachigen zu tun.
Doch Europas unruhiger Südkontinent heisst nicht Lateinamerika, sondern Afrika. Dort wuchs die Bevölkerung zwischen 1914 und heute von 115 Millionen Menschen auf 1,1 Milliarden (35 pro Quadratkilometer gegen 115 in der EU). Rund 18 Millionen Tote aus Bürgerkriegen, grenzüberschreitenden Angriffen und Genoziden seit den 1950er Jahren haben immer wieder Resolutionen und gelegentlich auch Interventionen bewirkt. Der explosiven Wucht von so viel juveniler Kraft konnten diese jedoch nichts anhaben – die Bevölkerung in Afrika wächst rasant.
Den Kampf gegen die Kolonialmächte nahmen zu Beginn der 1960er Jahre rund 280 Millionen Afrikaner auf. Aber schon 2050 werden 2,4 Milliarden auf dem (auch dann noch dünn besiedelten) Kontinent denselben Komfort begehren wie ihre bereits nach Nordamerika oder Westeuropa entkommenen Verwandten. Da Kinder die Zukunft sind, ist nirgendwo mehr Zukunft als südlich des Mittelmeers: 25 Prozent des Nachwuchses unter 18 Jahren weltweit – das sind 540 Millionen – leben heute in Afrika. 37 Prozent bzw. eine Milliarde sollen es 2050 sein.2
2009 ermittelte das Beratungsunternehmen Gallup, dass 38 Prozent aller Afrikaner ihren Kontinent verlassen wollten.3 Bleibt das so, würden 2050 über 900 Millionen die Ausreise planen. Gegenüber rund 515 Millionen Menschen in der EU – plus Schweiz und Norwegen – wäre das die Basis für die grösste Wanderungsbewegung der Menschheitsgeschichte. Ein Brasilien mal vier müsste dann für Europas Karnevalsverrückte kein Traum mehr sein.
Der beliebte Einwand, dass diese 515 Millionen doch vornehmlich aus Wirtschaftsflüchtlingen bestünden und deshalb auf den Schutz der Asylgesetze keinen Anspruch hätten, könnte sich bald einmal als Irrtum erweisen. Denn in den meisten Subsahara-Ländern liegen die Kriegsindexmarken zwischen 4 und 6, sie sind also ein sehr heisses Pflaster. Auf hundert 55- bis 59-Jährige, die sich der Rente nähern, folgen dort 400 bis 600 Männer im Alter von 15 bis 19 Jahren, die den Kampf um eine Karriere unter schwierigen Bedingungen aufnehmen müssen – und denen dazu viele Mittel recht sind. Zum Vergleich: in der Schweiz und Österreich folgen nur 80 und in Deutschland sogar nur 70. Ab einem Kriegsindex von 3 ist die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen gross, und sobald das Töten beginnt, werden aus Armutsflüchtlingen Kriegsflüchtlinge, die niemand in ihre Heimat zurückschicken darf.
Aufzuhalten ist der Zugang nach Europa auf legalem Wege also kaum bzw. nur dann, wenn die Gesetze geändert und konsequent durchgesetzt werden. Anderseits dürften in 35 Jahren auch nicht mehr allzu viele alteingesessene Europäer vor Ort sein, die sich über Stagnation und Abstieg beklagen. Sie werden, vielleicht nicht alle, aber doch viele von ihnen, in die weltweiten Kompetenzfestungen emigriert sein, die mit strikten Einwanderungsregeln beim War for Foreign Talent mitmischen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die ostasiatischen Hightechländer, die es – anders als etwa Südamerika – in den letzten Jahren geschafft haben, aus ihren simplen Industrien des 20. Jahrhunderts die industrielle Weltspitze zu formen – mitunter dank Immigration der Besten.
Die Stärke ostasiatischer Volkswirtschaften erwächst aus Innovationen, die fast ausschliesslich von den global kompetentesten fünf Prozent kommen. Die sind in Ostasien nun einmal überrepräsentiert. Oder wie es Laszlo Bock als Personaldirektor von Google auf den Punkt bringt: «Ein Topingenieur ist dreihundertmal so viel wert wie ein Durchschnittsingenieur.»4 Der weltweite Pool, aus dem solche Leute kommen, ist der Hauptkampfplatz im War for Foreign Talent:
Schüleranteil in der allerhöchsten Pisa-Leistungsklasse für Lesen und Naturwissenschaften (ausgewählte Nationen 20095).
Singapur: | 9.10 % | (Kompetenzfestung) |
Südkorea: | 4.40 % | (Kompetenzfestung) |
Schweiz: | 4.25 % | (Kompetenzfestung) |
Neuseeland: | 4.10 % | (Kompetenzfestung) |
Australien: | 3.30 % | (Kompetenzfestung) |
Kanada: | 3.10 % | (Kompetenzfestung) |
Deutschland: | 2.60 % | (relativ freizügig) |
Frankreich: | 2.20 % | (relativ freizügig) |
USA: | 1.70 % | (relativ freizügig) |
Polen: | 1.45 % | (Talenteabfluss) |
Grossbritannien: | 1.40 % | (relativ freizügig) |
Italien: | 1.00 % | (Talenteabfluss) |
Türkei: | 0.65 % | |
Brasilien: | 0.10 % |
Afrika muss, um zu Asien, Nordamerika, Europa und auch Südamerika aufzuschliessen, noch tüchtig Schularbeiten machen. Wohlfeile Hinweise, man möge sich endlich auf die Hinterbeine stellen und ohne Hilfszahlungen auskommen, blenden aus, dass Afrika der Konkurrenz technisch bislang hoffnungslos unterlegen – und vom Welthandel auch politisch weitgehend ausgeschlossen – ist.
Schon heute können allein die Kompetenzfestungen (Grenzen streng kontrolliert und durchlässig nur für Talente) einigermassen sicher sein, auch 2050 noch zu den Innovativen zu gehören – doch auch das nur, wenn ihnen das Anwerben von Könnern weiterhin gelingt. Von den EU-Ländern findet sich jedenfalls heute schon keines mehr in der Spitzengruppe. Zudem haben sie die Macht über ihre Grenzen an Brüssels Nomenklatura abgetreten, können ihr Schicksal also ohnehin nicht wenden. Deshalb wirkt einleuchtend, dass es zunehmend nur noch um das würdige Bewältigen geht. Christopher Hein, Vorsitzender des Italienischen Flüchtlingsrats (Consiglio Italiano per i Rifugiati), findet für diese noble Haltung eine ganz neue Poesie: «Zu entscheiden, wer kommt oder wie viele kommen, ist nicht uns gegeben. Was wir allein beeinflussen dürfen, sind die Umstände, unter denen diese Menschen zu uns finden.»6
Auch in Heins Okzident wird man sich aber künftig aufteilen in Schwärmer und Aktive, die auf dem Globus nach einer neuen Heimat fahnden, die ihnen angemessene und von der Leistung her auch einlösbare Lebensweisen für die Zukunft verbürgen wollen. Dabei erscheint beispielsweise Australien auf dem Radar der künftigen Aktiven, weil es bereits gegenwärtige Aktive anzieht. Australien hat die notwendigen – in der europäischen Presse aber vielfach verfemten – Schritte zur Verteidigung seiner Souveränität längst gemacht. Schon im September 2013 startete Canberra die «Operation Sovereign Borders» für das Unterbinden illegaler Schlepper, die aus der Not ein tödliches Geschäft machen.7 In den vier Monaten bis Dezember 2013 kamen noch 22 Seelenverkäufer durch. Seither funktioniert die von einem Dreisternegeneral kommandierte Grenzsicherung: Zwischen Januar 2014 und Februar 2015 durchbricht nur noch ein einziger Schlepper die Absperrungen. Heute gibt es von Australiens Regierung keine Verführung mehr zum Sterben auf dem Meer. Weil nunmehr jeder Wanderungswillige weiss, dass die Illegalen keine Chance mehr haben, geht mit ihren Nussschalen auch keiner mehr unter. Fast drei Viertel der Australier stehen hinter diesem Kurs. Ob Christopher Hein auf ähnliche Zustimmungsquoten hoffen kann wie die aus-tralische Regierung, bedarf noch europaweiter Erhebungen.
Eben durch seine Konsequenz gerät Ozeanien ins Blickfeld aller Könner, die nicht nur leisten, sondern durchaus auch helfen wollen, dafür – nebst ihrer neuen Nation – aber handlungsfähig bleiben müssen. Länder von Kanada bis Neuseeland ermöglichen mithin erst die Aufteilung des Abendlandes in jene, die auf ewige Sozialhilfe hoffen, und jene, die sich dafür nicht mehr krummlegen wollen. Canberras Einladung an Menschen, deren «Kreativität, Energie und Produktivität das Wirtschaftswachstum unseres Landes vorantreibt», wie es offiziell heisst, wird dabei als genau die Herausforderung verstanden, der sie sich stellen wollen. Zwischen 2015 und 2050 möchte Australien durch solche Neuankömmlinge von 24 auf 35 Millionen Einwohner wachsen. Während bis dahin Millionen in Europas soziale Netze strömen, werden gleichzeitig Millionen Träger dieser Netze ihren Einfallsreichtum anderen Kontinenten zuführen. Beide Bewegungen haben politische Gegner und Anhänger. Aber am Ende werden die einzelnen Menschen entscheiden. Indem sie gehen. Oder indem sie bleiben.
1 Absatz c:ii der «Question of Refugees»-Empfehlung der UNO-Vollversammlung, Sitzung vom 12.2.1946 (daccess-dds-ny.un.org/doc/RESOLUTION/GEN/NR0/032/59/IMG/NR003259.pdf?OpenElement).
2 http://www.unicef.org/publications/files/UNICEF_Africa_Generation_2030_en_11Aug.pdf
3 http://www.gallup.com/poll/124028/700-million-worldwide-desire-migratepermanently.aspx
4 Work Rules! Insights from Inside Google that Will Transform How You Live and Lead, New York & Boston: Twelve, 2015.
5 http://www.businessinsider.com.au/countries-with-the-most-brainpower-2013-10
6 Migration: In Europe, the Refugees Keep Coming. In: Bloomberg Businessweek,March 9-15, 2015, S. 21.
7 http://www.customs.gov.au/site/operation-sovereign-borders.asp
«Da Kinder die Zukunft sind, ist nirgendwo mehr Zukunft als südlich des Mittelmeers.»
Gunnar Heinsohn