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Sie sind das Ziel!

Die Digitalisierung erweitert die Möglichkeiten der Werbewirtschaft, uns zu manipulieren. Wie man es besser macht, zeigt ein Projekt in Aarau.

Sie sind das Ziel!
Illustration von Stephan Schmitz.

Read the English version here.

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war und die Welt in Trümmern lag, da war es mit der «Propaganda» keineswegs vorbei – auch wenn Hitler darauf sein Reich begründet hatte. Das gleichnamige Buch von Edward Bernays hatte zu Goebbels Lieblingslektüre gehört.1 Unter dem harmlosen Begriff «Public Relations» blieb Propaganda nach dem Krieg rund um den Globus weiter Grundlage von Politik. Auch Werbefirmen bedienten sich fleissig ähnlicher psychologischer Tricks.

Seither sind die eingesetzten Methoden nicht unbedenklicher geworden – im Gegenteil.2 Mit der Digitalisierung griff eine flächendeckende Massenüberwachung durch Staaten und Unternehmen um sich. Mit spionageähnlichen Methoden werden Profile von überrumpelten Internetnutzern erstellt, die heute zum Teil so detailgetreu sind, dass man sie als «digitale Zwillinge» bezeichnet. Damit lassen sich Botschaften zielgenau platzieren. Die Rede ist vom (Micro-)Targeting. Sie sind das Ziel!

«Nach zwei Wochen wissen wir alles»

Die Methode ähnelt durchaus den digitalen Waffen, die vom Militär im Informationskrieg benutzt werden.3 Ein Branchenkenner formulierte es so: «Indem wir Ihre Cookies verfolgen, wissen wir nach zwei Wochen alles über Sie!» Und: «Im Rahmen der Vorschriften darf Werbetechnologie Sie nach Strich und Faden manipulieren.»

Doch das ist nicht das einzige Problem, mit dem Demokratien im digitalen Zeitalter kämpfen. Die freie Wahl und die geheime Wahl sind zwei ihrer Grundpfeiler. Ein dritter ist das Prinzip «eine Person – eine Stimme». All diese Grundpfeiler wurden erschüttert, um nicht zu sagen: zerstört. Denn mit Big Data ist es heutzutage nicht schwer, anhand Ihres Surfverhaltens im Internet zu erraten, welche Partei Sie wählen würden. Das beschädigt die geheime Wahl. Auch die freie Wahl wird in Mitleidenschaft gezogen, denn durch Meinungsmanipulation lässt sich das Wahlverhalten entgegen den eigenen Interessen ändern – zu einem gewissen Grad jedenfalls. So geschehen über viele Jahre in mehr als 60 Ländern4, wie man seit den Skandalen um Cambridge Analytica und Team Jorge weiss. Es sind indessen nicht die einzigen Firmen, die Wähler ins Visier nehmen. So kann, wer mehr Geld in digitale Wahlwerbung oder «Meinungsbildung» investiert, am Ende mehr Stimmen gewinnen – also gewissermassen «kaufen» –, im Widerspruch zum dritten Grundpfeiler.

«Mit Big Data ist es heutzutage nicht schwer, anhand Ihres Surfverhaltens im Internet zu erraten, welche Partei Sie wählen würden.»

Von den digitalen Möglichkeiten der Beeinflussung wird rege Gebrauch gemacht – von Werbefirmen wie von digitalen Plattformen5, von Geheimdiensten und Militärs.6 Jeden Tag sind wir der Konkurrenz um unsere Aufmerksamkeit, Gedanken und Gefühle fast rund um die Uhr ausgeliefert. Man kann dies durchaus als globalen Krieg um unsere Köpfe sehen. Und so haben wir «Meme Wars» statt konstruktiver Diskussionen. Das Ergebnis ist eine Kakophonie von Fake News, eine Pandemie der Desinformation und eine durch Hate Speech vergiftete ­Debattenkultur. Ein fairer Wettbewerb der Ideen und eine ­kon­struktive, partizipative Lösungsfindung, wie sie Grundlage unserer Demokratie sein sollten, sehen anders aus.

«Von den digitalen Möglichkeiten der Beeinflussung wird rege Gebrauch gemacht – von Werbefirmen wie von digitalen Plattformen, von

Geheimdiensten und Militärs.»

Der Datenschutz verlangt zwar vielerorts, dass Ihr Name durch ein Pseudonym ersetzt wird. Dennoch lassen sich Gruppen aller Art, selbst vulnerable Minoritäten, zielgenau ins Visier nehmen – auch mit Hassbotschaften. Heutzutage gibt es wohl keine demokratisch gewählten Vertreter oder öffentlich sichtbaren Wissenschafter, Schriftstellerinnen und Intellektuelle mehr, die nicht in sozialen Medien verunglimpft werden oder Morddrohungen erhalten. Insgesamt fragt man sich, ob die Demokratien durch all das nicht wesentlich mehr Schaden genommen haben als durch Terrorismus und organisierte Kriminalität, wie wir sie kennen.

Subtile Manipulation

Obwohl die Demokratie seit Churchill oft als schlechteste Regierungsform gilt – ausser all den anderen, die man ausprobiert hat –, war die Idee, ein Staatswesen auf Partizipation und kollektive Intelligenz zu gründen, eigentlich ganz gut. Doch die «Weisheit der vielen» funktioniert nur, wenn die Informations- und Lösungssuche ohne Manipulation erfolgt, damit die Diversität der Lösungsansätze gross ist.7 Durch Kombination solcher Lösungen entstehen dann oft noch bessere Lösungen, die jene übertreffen können, die nur von Experten stammen. Engt man dagegen das Lösungsspektrum durch Manipulation ein, kann leicht die «Dummheit der Massen» resultieren. Ja manche fragen sich schon, ob die Manipulation des Denkens die Welt nicht in eine Art globales Tollhaus verwandelt habe.

Die Manipulation unseres Denkens und Fühlens geschieht oft sehr subtil. Geschickt schleicht sie sich dann an unserer bewussten Wahrnehmung vorbei, damit wir die Manipulation nicht bemerken. Dabei werden unsere persönlichen Stärken und Schwächen, Hoffnungen und Ängste gnadenlos ausgenutzt. Auf Wahrheiten und Persönlichkeitsrechte wird dabei oft keine Rücksicht genommen. Es zählt nur das Ergebnis: uns zu einem bestimmten Gefühl, Gedanken oder Handlungsablauf zu verleiten. Das kann so weit gehen, dass mit Ihrem digitalen Zwilling durch Computersimulation nach Belieben Experimente angestellt werden, um herauszufinden, wie man Sie am besten «hacken» kann.

Doch nicht nur unser Leben kann so Schaden nehmen, sondern auch die Demokratie. Angesichts unserer manipulierten Weltsicht verlieren wir individuell und als Gesellschaft die Orientierung. Durch den Lärm der Aufmerksamkeitsökonomie wird es schwieriger, neu entstehende Probleme frühzeitig zu erkennen, grosse von kleinen Problemen zu unterscheiden, gute von schlechten Lösungen zu separieren und die richtigen Investitionen zu tätigen.8 Muss man sich da eigentlich noch wundern, dass das Ergebnis eine Polykrise ist? Noch dazu eine, deren Bewältigung wir immer weniger bezahlen können?

Mehr Partizipation

Dabei lässt sich kollektive Intelligenz tatsächlich nutzen und die Demokratie updaten, auch digital. Das zeigt ein Experiment namens «Stadtidee»9 in Aarau, an dem unser Forschungsteam beteiligt war.10

Dabei wurde das Verfahren der partizipativen Budgetierung verfeinert, für das 50 000 Franken bereitgestellt wurden. Menschen aus der Stadt und Umgebung waren eingeladen, Ideen vorzuschlagen, wie sich die Stadt verbessern liesse. In diversen Brainstorming-Meetings wurden die Ideen gesammelt, diskutiert und verbessert. Schliesslich wurden sie partizipativ zu Projekten ausgearbeitet und auf ihre Machbarkeit geprüft. So wurden aus über 100 Ideen am Ende 33 Projektvorschläge, über die schliesslich abgestimmt wurde.

Das Ergebnis: mehr Transparenz, höhere Ressourceneffizienz, mehr Partizipation, mehr Projekte, mehr Inklusion, mehr Fairness, mehr Vertrauen und mehr Zufriedenheit. Wie das möglich war? In einem Laborexperiment hatte man zuvor die beste Wahlmethode ermittelt.11 Statt nur Projekte ankreuzen zu können, war es möglich, Punkte zu verteilen. So konnte man mehrere Projekte auswählen, aber auch die relativen Präferenzen deutlich machen. Und statt der verbreiteten Mehrheitswahl wurde das Prinzip der proportionalen Fairness angewandt.

Statt eine durchschnittliche Nutzenfunktion zu optimieren, wie es ein «wohlwollender Diktator» getan hätte, konnten so diverse Bedürfnisse befriedigt werden. Statt nur 7 Projekte kamen insgesamt 17 Projekte zum Zug, die sich durch eine hohe Stimmenzahl im Vergleich zu den Projektkosten auszeichneten. Und statt dass das Geld überwiegend ins Zentrum floss, waren die Projekte gut über die ganze Stadt verteilt.

Dirk Helbing, fotografiert von Jannick Timm.

Im Unterschied zu verbreiteten Optimierungsverfahren lassen sich so mehrere Ziele gleichzeitig erreichen. Gewissermassen ist das «besser als optimal». Erfreulich ist auch die ausgewogenere Beteiligung. Beispielsweise liessen sich mehr Frauen, mehr Jüngere und Ältere mobilisieren. Am Ende scheint nicht die «Facebook-Demokratie» die Lösung zu sein, sondern ein verbessertes Beteiligungs- und Wahlverfahren. Es braucht «Demokratie per Design».12 Plattformen für echte informationelle Selbstbestimmung zum Beispiel!13 Können wir so die Demokratie noch retten, ja sogar upgraden? Das sollte das Ziel sein – nicht Sie!

  1. Richard Gunderman: The Manipulation of the American Mind: Edward Bernays and the Birth of Public Relations. In: The Conversation, 2015. http://www.theconversation.com/the-manipulation-of-the-american-mind-edward-bernays-and-the-birth-of-public-­relations-44393

  2. Dirk Helbing: Die Werbeindustrie nach Cambridge Analytica und Facebook: Quo vadis? http://www.youtube.com/watch?v=f9KpnPGiz0g

  3. Jessica Hall: Meet the Weaponized Propaganda AI that Knows You Better than You Know Yourself. In: extremetech.com, 2017. Adam Ramsey: Cambridge Analytica Is what Happens when You Privatise Military Propaganda. In: openDemocracy.net, 2018.

  4. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Weitere Enthüllungen rund um Cambridge ­Analytica: Schützt unsere Daten! In: Frankfurter Rundschau, 8.1.2020.

  5. Tristan Harris: How a Handful of Tech Companies Control Billions of Minds Every Day. TED Talk, 2017. http://www.youtube.com/watch?v=C74amJRp730

  6. Glenn Greenwald: How Covert Agents Infiltrate the Internet to Manipulate, Deceive, and Destroy Reputations. In: The Intercept, 2014. R.A.E. van der Boor et al.: Behavioural Change as the Core of Warfighting. In: Militaire Spectator, 2017.

  7. Anita Williams Woolley et al.: Evidence for a Collective Intelligence Factor in the ­Performance of Human Groups. In: Science, 330 (2010), S. 686–688.

  8. Dirk Helbing und Florian Abaillon: Manipulated Attention: Do Digital Platforms ­Promote Bias in Science? http://www.researchgate.net/publication/369800457

  9. https://www.stadtidee.aarau.ch/

  10. https://www.nfp77.ch/en/CzvtaXphajOnEP6U/project/trust-and-legitimation-in-the-digital-democracy

  11. Joshua C. Yang et al.: Designing Digital Voting Systems for Citizens: Achieving Fairness and Legitimacy in Digital Participatory Budgeting. http://www.arxiv.org/abs/2310.03501

  12. Dirk Helbing et al.: Democracy by Design: Perspectives for Digitally Assisted, ­Participatory Upgrades of Society. In: Journal of Computational Science, 71 (2023).

  13. https://www.theglobalist.com/capitalism-democracy-technology-surveillance-privacy/

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