Sicherheit ist Dynamik
In der Schweiz herstellen und digital verbreiten: Zeno Staub will die Schweizer Vermögensverwaltung zu einer globalen Exportindustrie machen. Ein Gespräch über Tempo, persönliche Beziehungen und die Voraussetzungen für künftige Spitzenpositionen.
Herr Staub, der Google-Chef von Europa, Matt Brittin, meinte kürzlich, heute sei der langsamste Tag für den Rest Ihres Lebens. Wie wirkt sich die durch Technologie angetriebene Beschleunigung auf Ihren eigenen Rhythmus aus?
Die Finanzbranche wurde in den letzten zwanzig Jahren von drei Revolutionen überrollt: In der Finanzmarkttheorie kam das Konzept der wissenschaftlich begründeten Diversifikation auf. Die zweite Welle wurde durch die Entwicklung von Derivaten ausgelöst. Als ich zu Beginn der 1990er Jahre bei einer Bank ein Praktikum machte, haben wir damals das bis dahin zweite strukturierte Produkt in der Schweiz herausgegeben. Das war wochenlange echte Handarbeit. Heute emittieren wir an einem guten Tag automatisiert vielleicht 10 000 Produkte dieser Art.
Und die dritte Welle?
Das war dann die Technologie, mit der man all diese Produkte auf der ganzen Welt vertreiben konnte. Es mag sein, dass vieles schneller wird. Aber die Technologie ist in unserer Branche eine von vielen Wellen. Ich habe spät genug angefangen zu arbeiten und damit entscheidende Brüche miterlebt. Dabei habe ich gelernt: wenn es schnell geht und sich vieles wandelt, ist es wichtig, ein klares Ziel zu haben. Und sich immer wieder darauf zu fokussieren. Mark Twain sagte einmal: «Und haben Sie einmal das Ziel aus den Augen verloren, so verdoppeln Sie Ihre Anstrengung.» Gerade grössere Organisationen sind gut darin, in diese Falle zu tappen.
Was ist denn Ihr persönliches Ziel?
Das Ziel ist und bleibt: Vermögen schützen und mehren. Das ist die Aufgabe. Und dafür brauchen wir verantwortungsvolle Beratung, aktives Asset Management, massgeschneiderte Lösungen. Die Instrumente und Methoden mögen sich über Zeit verändern, aber das Ziel ist invariant. Das gibt Halt und hilft, Veränderung als Instrument, Hindernis oder Chance einzuordnen.
Wie entscheiden Sie denn, welche Veränderungen relevant sind und welche nicht?
Ich überlasse die Entscheidung weder Algorithmen noch externen Experten. Vieles ergibt sich aus Diskussionen – mit Kunden, unter uns, mit anderen Industrien. Letztlich muss ich meiner eigenen Einschätzung vertrauen und bereit sein, diese immer wieder zu hinterfragen.
In der Schweiz war das Bankgeschäft im 20. Jahrhundert durch den regulatorischen Spezialfall des Bankkundengeheimnisses geprägt. Es gab keinen Zwang, das eigene Geschäftsmodell anzupassen.
Dem würde ich widersprechen.
Nur zu.
Eigentlich muss man immer über seine eigenen Kerndienstleistungen nachdenken. Es ist so: das Bankkundengeheimnis hat unserem Standort früher Vorteile verschafft. Es war ein abgeschotteter geschützter Markt mit massiven Zugangsbarrieren. Entsprechend verhielten sich die meisten Marktteilnehmer. Das alte Modell bestand darin, dass Kunden aus der ganzen Welt zu uns in die Schweiz gekommen sind, uns vor Ort besucht und minimste Vertriebsleistungen erwartet haben.
Für international agierende Schweizer Banken ist dieses Modell keine Option mehr.
Nein und das ist gut so. Mich stört, dass sich die Finanzbranche nach aussen und nach innen zu stark auf den Standortvorteil des Bankgeheimnisses reduzieren liess. Das war und ist falsch. Denn wenn es gestimmt hätte, gäbe es den Bankenplatz Schweiz heute gar nicht mehr. Wir müssen nun dagegen kämpfen und endlich aus dieser Steuerecke rauskommen. Es ist mühsam, wenn man als erstes immer Abbitte leisten und dieselbe Diskussion führen muss. Das Steuerthema gehört also endlich vom Tisch. Andere Dienstleistungsindustrien zeigen, dass wir durchaus weltweit mithalten können. Wir stehen als Branche und auch als Unternehmen vor einem Berg von Hausaufgaben. Aber was macht letztlich ein System stabil? Es sind keine statischen Konzepte wie das Bankkundengeheimnis. Es sind Faktoren wie Wettbewerbsfähigkeit, Finanzierbarkeit von Staatsschulden, sichere Sozialsysteme, gute Ausbildung, Vollbeschäftigung, Innovationsfähigkeit. In all diesen Dimensionen sind wir in der Schweiz gut aufgestellt. Solange das so ist, können wir ein relativer Hort von Stabilität bleiben. Und diese Kombination macht es attraktiv, Vermögensdienstleistungen global zu exportieren. Es ist Zeit für solche neuen Ideen.
Zum Beispiel für den digitalen Vertrieb von Bankdienstleistungen?
Ich sehe den Dienstleistungsexport als Modell der Zukunft. Wir könnten etwa das Swiss Private Banking vom passiven Kundenimporteur zum aktiven Dienstleistungsexporteur machen. Die Digitalisierung ermöglicht, das Produkt «Vermögensverwaltung», das zentral in der Schweiz «hergestellt» wird, global zu vertreiben. 2015 war die Schweiz in der länderübergreifenden Vermögensverwaltung immer noch die Nummer 1, gefolgt von UK und USA. An vierter Stelle ist Singapur. Wieso der Spitzenplatz? Investmentkompetenz, Servicekompetenz, Stabilität, Sicherheit, Qualität – ich glaube, dass die Schweiz auch in Zukunft gute Chancen hat, in den Top 3 zu bleiben.
Weil die Faktoren derzeit so gut sind, oder weil sie in der Vergangenheit gut waren?
Weil wir Standortvorteile haben, über die wir viel zu wenig reden.
Zum Beispiel?
In welchem Land finden Sie 40 000 Kundenberater, die in aller Länder Sprachen auf hohem Ausbildungsniveau Leute in Vermögensfragen beraten können? Wo haben Sie einen vergleichbaren Pool von Know-how? Sicher in London, vielleicht in den USA – wobei sich die Kompetenzen dort auf institutionelles Asset Management konzentrieren. Bei uns können Sie Ihren Kundenberater anrufen und sagen: Ich hätte gerne einen amerikanischen Steuerausweis, einen deutschen Steuerausweis, eine Ertragsaufstellung für meinen italienischen Treuhänder. Es gibt kaum ein Land neben der Schweiz, das diese Komplexität und Qualität im Backoffice bewältigen kann. Weil es um Diversifikation von Vermögen geht, wird der Markt auch nicht auf einen einzigen Platz reduziert werden. Also haben wir faire Chancen, vorne mit dabei zu sein. Und vergessen Sie nicht: Bei aller neu entstandenen Unübersichtlichkeit schätzen unsere Kunden unser persönliches, zwischenmenschliches Engagement ja sogar noch mehr als früher.
Ihre Rechnung ist so einfach? Je schneller die Welt, desto grösser der Wert einer langjährigen Beziehung zum Kundenberater?
Ich glaube zumindest nicht, dass durch die Digitalisierung die Bedeutung persönlicher Beziehung abnehmen wird. Der Mensch wird aus der Gleichung nicht verschwinden. Aber die Art der Interaktion verändert sich: Der Kunde will die Möglichkeit haben, jederzeit zu sehen, wie es seinem Vermögen geht. Er will nicht permanent mit seinem Berater in Kontakt sein, aber er will den digitalen Zugriff auf alle Dienstleistungen haben. Wir können die Tiefe an Informationen und Intensität an Dienstleistungen physisch nicht anbieten. Also brauchen wir den digitalen Kanal. Kurz: wir glauben, dass wir die Vermögenskompetenz zentral herstellen und dann digital verbreiten können.
Es kann sein, dass die ganze Beratung über elektronische Wege bald gratis sein wird.
Hochwerte Beratung und Vermögensverwaltung wird nicht umsonst zu haben sein. Das Asset Management hat diese Frage eigentlich schon beantwortet. Im Asset Management gibt es nur noch Management Fees und Performance Fees. Alles ist transparent. Ich glaube, die Private-Wealth-Branche muss es schaffen, analog zum Asset Management den grössten Teil ihrer Einkünfte aus Beratung und Management der verwalteten Gelder zu beziehen. Damit wären wir wieder beim invarianten Ziel. Es wird immer überdurchschnittlich wohlhabende Menschen geben, die einen Teil ihres Vermögens langfristig, diversifiziert, werterhaltend, professionell und relativ sicher verwaltet haben wollen. Das gab es schon immer. Und das gibt es auch morgen. Also gibt es auch einen Markt.
Die Frage ist trotzdem: Wieso soll gerade die Schweiz ein Standort bleiben, an dem dieses Produkt hergestellt und angeboten wird? Die Konkurrenz schläft ja nicht – und die Rechtssicherheit, ein alter Vertrauenspfeiler der Schweiz, scheint gerade in ihre Einzelteile zu zerfallen.
Damit irgendwo ein Cluster entsteht, braucht es eine lokale Nachfrage. Wir haben die starke Nachfrage nach Vermögensdienstleistung aufgrund des Reichtums, den das Land selbst aufgebaut hat. Wir stehen an 97. Stelle, was die weltweite Bevölkerung nach Ländern betrifft. Gleichzeitig sind wir am Bruttoinlandsprodukt gemessen die 20.-grösste Volkswirtschaft der Welt. Der institutionelle Markt in der Schweiz beträgt rund 800 Milliarden CHF.
Von insgesamt etwa 6000 Milliarden CHF in der Schweiz verwalteten Vermögen.
Richtig. Es gibt also eine Art natürlichen Heimmarkt. Die Asset-Management-Industrie ist aber dort ansässig, wo es lokale Pensionskassenmärkte gibt: in Boston, Chicago, New York, London und in der Schweiz. Den institutionellen Heimmarkt haben wir. Zweitens glauben wir, dass Asset Management immer mehr zu einer globalen Aufgabe wird. Ich bin überzeugt, dass die Schweiz prädestiniert ist, eine globale Anlegersicht zu entwickeln, diese umzusetzen und global zu vertreiben.
Was macht Sie so sicher?
Wieso sind so viele globale Firmen in der Schweiz? Weil sie so klein ist. Sie überleben nicht, wenn sie sich auf den Heimmarkt konzentrieren. Es gibt also einen natürlichen Drang, hinauszugehen und zu exportieren. Die Schweiz ist auch neutraler, was den sogenannten home bias betrifft. Der Chef eines grossen Staatsfonds sagte mir einst: «Ich kann in meine Depots schauen und, ohne auf die Namen zu schauen, sagen, wo der Asset Manager sitzt. Wenn er in London sitzt, hat das Depot mehr UK-Aktien. Wenn er in Frankfurt sitzt, mehr Deutschland-Aktien.
Und diese Gefahr besteht in der Schweiz nicht?
Ich glaube, sie besteht weniger als in grossen Märkten. Wir haben nie geglaubt, die Welt beherrschen zu können. Wir müssen aber rausschauen. Deswegen sind wir inhaltlich gut gerüstet.
Was sind die weiteren Hürden? Spontan würde ich sagen: Compliance für länderübergreifende Dienstleistung ist aufwendig und teuer.
Natürlich. Wenn man wählen könnte, hätte jeder Kaufmann gerne uneingeschränkten freien Marktzugang. So funktioniert die Welt aber nicht mehr. Die Zeiten der Deregulierung liegen bis auf weiteres hinter uns. Das gilt es zu akzeptieren. Andere Exporteure standen und stehen vor den gleichen Problemen. Versicherungsgesellschaften sind ebenfalls national reguliert. Ein Schweizer Pharmaunternehmen hat eine Reihe von Fachleuten, die sich mit den amerikanischen FDA-Kriterien beschäftigen. Sie alle benötigen Marktzugang. Damit müssen wir in unserer Branche jetzt auch umgehen.
Das heisst, Sie brauchen für jeden nationalen Markt ein Aufklärungsteam?
So etwas in der Art. Es gibt unterschiedliche Grade. Unser Modell geht davon aus, dass man sich mit den in der Schweiz hergestellten Lösungen an lokale Konsumentenschutzregeln halten muss. Dafür braucht es pro Land eine kritische Masse, damit es Sinn macht. Das ist so. Man muss sich fokussieren. Das Gute dabei ist: oft ist der digitale Zugang liberaler als der physische.
Was können Sie von anderen Exportbranchen – Maschinenbau, Pharma, Uhren – lernen? Von denen, die ebenfalls mit Margendruck konfrontiert sind?
Sehr viel. Ich denke etwa an den Automatisierungsgrad. Wir haben heute sogenanntes straight through processing: der Prozess von der Erfassung eines Auftrags bis zur Abwicklung an der Börse und Verbuchung auf den Konten. Es ist noch nicht lange her, da rief der Kunde seinen Relationship Manager an, dieser rief den Börsenhändler an, das war im Vergleich völlig ineffizient. Automatisierung ist in Zukunft noch wichtiger. Dann die Frage, was man selber machen kann und was man besser auslagert. Wenn Autohersteller den gleichen Insourcing-Grad wie Banken hätten, würden sie die Kühe züchten, deren Leder sie dann für die Sessel benutzen. Dieser alte Spruch ist wohl nicht komplett falsch. Ein heutiger Industriebetrieb hat seine Wertschöpfungskette komplett zerlegt. In diese Richtung geht es auch in unserer Branche.
Wie wichtig ist Ihnen das «Swissness»-Label? Es hilft der Uhren- und Schokoladenindustrie, vielleicht also auch den künftigen Vermögensverwaltern?
Das ist so. Der Brand «Swiss» mag in Europa gelitten haben, aber wenn Sie in Asien, in den USA, in Lateinamerika oder im Mittleren Osten unterwegs sind, dann steht die Schweiz immer noch sehr hoch im Kurs. Wir neigen in der Schweiz dazu, uns kleiner zu machen, als wir sind. Die Voraussetzungen für künftige Spitzenpositionen in der globalen Wertschöpfungskette sind generisch vorhanden.
Das ist eine optimistische Sicht: die Mittel zum Erfolg sind vorhanden, die Unternehmen haben es selbst in der Hand, wettbewerbsfähig zu bleiben.
Ja. Und ja, unsere Industrie verdient heute in der Regel weniger als 2006. Es ist anstrengender, härter, unsicherer. Alles das ist wahr. Aber bis zu einem gewissen Grade handelt es sich einfach um einen Nachvollzug der Wirkung der Globalisierung. Der Weg ist hart, aber gleichzeitig eine Chance, eine sehr wettbewerbsfähige und globale Exportindustrie zu erhalten beziehungsweise wieder aufzubauen. In der Unternehmenswelt gilt, dass nichts so beständig wie der Wandel ist. Wie viele der heutigen Top 500 waren schon vor 10 Jahren top? Für unsere Branche gilt: Sicherheit ist heute nicht mehr statisch, wie noch vor ein paar Jahren. Sicherheit ist heute: Dynamik.
Das ist anstrengend…
…aber zielführend!
Zeno Staub
ist promovierter Ökonom und CEO von Vontobel.
Florian Rittmeyer
ist Chefredaktor des «Schweizer Monats».