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Sich laben an den Phantasien

Reflexionsstücke über Schiller

Spielt ein Dichter auch dann, wenn er einen tragischen Stoff behandelt?

Trug, Schuld und höhere Wahrheit. Schillers Kurzballade «Pegasus im Joche». Ein darbender Poet verhökert auf dem Haymarket zu London «der Musen Ross», ein geflügeltes Pferd also, wissend, dass es keinen praktischen Nutzen haben kann. Indem er es einem arglosen Bauern verkauft, der glaubt, dem Pferd die Flügel stutzen und es sich dienstbar machen zu können, wird der Poet zum «Täuscher», zu einem, der täuscht und Pferd gegen Geld tauscht. Absurde Szenen werden unausweichlich. Pegasus, vor Kutschen gespannt, zieht diese in den Abgrund, und auf dem Feld: «Im lächerlichen Zuge/Erblickt man Ochs und Flügelpferd am Pfluge». Nur ein etwas mit Kunst begabter «lustiger Gesell» vermag den musenlosen Ackersmann von seinem «Hippogryphen» zu befreien. Auf ihm reitet der Musenstiefsohn zuletzt durch die Lüfte gen Parnass. Oder gen Sais.

In «Das verschleierte Bild zu Sais» will ein junger Mann das Bild der Wahrheit im Tempel der Isis entschleiern. Er missachtet die Warnungen des Orakels und wird zu Boden geworfen, nachdem er den Schleier gelüftet hat; wenig später stirbt er. Seine letzten Worte: «Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld!/Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.» Man erinnert sich an die Schlussformel der «Braut von Messina»: «Der Übel grösstes aber ist die Schuld.» Je entschlossener Schiller Freiheit predigte, Emanzipation durch das Geistige, desto bohrender stellte sich ihm die Frage nach der Schuld. Die Schuldfrage ist der Preis für den Glauben an das Genie und für den Glauben des Genies an sich selbst.

Zur Fülle der unabgeschlossenen Dramenprojekte Schillers. Sie gewann ihrerseits eine tragische Dimension. Denn je deutlicher es Schiller wurde, dass er nicht mehr würde genesen können, desto sprunghafter nahm die Zahl seiner Entwürfe und Themenskizzen zu. Die Projekte kann man als Form seiner inneren Panik verstehen. Oder schlicht als bunte Vielfalt, die er zu sich nehmen konnte wie ein Elixier: sich laben an den Phantasien, die von blossen Titeln ausgehen.

Hofmannsthal bekundete eine «leidenschaftliche Vorliebe» für die frühen Prosadramen Schillers. Man beschäftige sich zum Beispiel mit dem «republikanischen Trauerspiel» «Die Verschwörung des Fiesco zu Genua», um diese Leidenschaft nachzuempfinden oder selbst in sich zu entdecken. Es handelt von der Tragödie des Republikanismus und des Prinzips Rebellion. Zeigen will es, wie die Genueser mit ihrem Stadtstaat Genua «Unzucht trieben», wie es im Stück heisst. Man stellt freilich fest, dass die frühen Dramen einen Sprachaufwand betreiben, der durch die damit verbundenen Gedanken nicht gedeckt ist.

Fiesco schwankt zwischen rebellischem Republikanismus und Vorliebe fürs Autokratische. Er täuscht alle Welt über seine wahren Gefühle und Intentionen; er tut anfangs so, als bedeute ihm das Leben soviel wie Träumen; überhaupt stellt dieses Trauerspiel die Frage nach dem richtigen Sehen und Einschätzen von Problemsituationen. Desgleichen fragt es nach der angemessenen Optik für geschichtliche Begebenheiten und ihrem Vorbildcharakter für die Gegenwart. So glaubt Verrina, ein aufrechter Republikaner und ursprünglich Freund Fiescos, der zuletzt dem siegreichen, zum Herzog von Genua Ausgerufenen den Todesstoss ins Meer versetzen wird, diesen durch ein Gemälde, das den Sturz des Tyrannen Appius Claudius darstellt, zum Aufbegehren gegen die Dorias, die bisherigen Tyrannen Genuas, inspirieren zu können. So gut hatte Fiesco zunächst die Rolle eines Schlaraffenländers und Hedonisten gespielt, dass selbst Verrina dieses Bild für den wahren Fiesco halten musste. Eindrücklich dann das Streitgespräch zwischen Fiesco und dem Künstler Romano, der ihm eine seiner «Szenen aus dem nervigen Altertum», eben das Claudius-Gemälde, schenken will. Fiesco reagiert zum Schein auf den Schein des schönen Bildes, um zunächst seine Freunde irrezuführen. Er tut so, als habe er nur Augen für die schmachtende Virginia und nicht für den stürzenden Appius Claudius: «Ich könnte hier stehen und hingaffen und ein Erdbeben überhören.» Oder eben eine sich anbahnende Rebellion in Genua gegen die Dorias, von der seine Freunde hoffen, dass er sie führe. In letzter Minute nun dekonstruiert Fiesco den Schein des Gemäldes, in den er zunächst vorgegeben hatte versunken zu sein und wirft dem Künstler Romano vor, «Leben auf toten Tüchern» zu heucheln, «Tyrannen nur auf der Leinwand» stürzen zu können. Dem «Gaukelwerk» der Kunst will er, Fiesco, nun die Tat, die wirkliche Rebellion, entgegensetzen. Nun wiederum sieht Verrina in neuem Licht und im plötzlich so tatenhungrigen Fiesco einen künftigen Tyrannen, der noch gefährlicher werden könnte als derjenige, den zu stürzen er sich anschickt.

Damit hat Fiesco jedoch nicht das letzte Wort zum Thema Kunst gesprochen. Denn noch den Beginn der eigentlichen Rebellion gegen die Dorias inszeniert er wie ein Schauspiel, aus dem dann eine Tragödie wird, als er seine ihm in tiefer Liebe zugetane Leonore im nächtlichen Getümmel versehentlich ersticht. Galten ihm zuvor die Sinne als «blinde Briefträger, die nicht wissen, was Phantasie und Natur miteinander abzukarten haben», so macht ihn jetzt das Schicksal zum blinden Täter.

Was Gianettino Doria von sich sagt, der Verrinas Tochter vergewaltigt hat, trifft für die meisten Charaktere im «Fiesco» zu: «Der Teufel, der in mir steckt, kann nur in Heiligenmaske incognito bleiben.»

Immer schwingt bei der Betrachtung der Grossen die unselige Frage mit: Wie verhält es sich mit ihnen heute? Dieses Heute liefert ein fraglos berechtigtes und ebenso zweifelsfrei lächerliches Kriterium in allen ästhetischen Debatten. Wen das Heute verwirft, der hat entweder Anspruch auf Zeitlosigkeit oder versinkt im Verschwiegenen. Auf die Frage, was aus ihm, dem eitlen Hofmarschall werde, wenn der Herzog ihn entlasse, antwortet der Präsident in «Kabale und Liebe»: «Ein Bonmot von vorgestern», also eine traurige Gestalt, die keinen Anspruch mehr auf Gegenwart habe. Schiller heute. Fällt einem nichts mehr zu diesem Thema ein, dann bleibt immer noch dieses: durch Schiller, Mozart oder van Gogh sich im Heute «neu» selbst erfahren. In der (Wieder- oder Neu-) Begegnung mit Schillers Werk herausfinden, wer man sei. Das meint konkret: Wenn ich auf Lady Milford oder den Chor in der «Braut von Messina» oder auf Wallenstein in seinen letzten Stunden so oder so reagiere, erfahre ich, wer ich bin. Erinnere ich mich dann noch daran, wie ich vor, sagen wir, zwanzig Jahren den «Wilhelm Tell» verstanden habe und was er mir heute sagt, dann habe ich etwas über meinen Entwicklungsgang gelernt. Schiller heute, Schiller nach zweihundert Jahren, Schiller überhaupt – das bedeutet: Olymp und Messina, Escorial und Hellespontos, Genua und Schwyz, Krakau und Fotheringhay geteilt durch Marbach mal Jena plus Weimar. Das wäre die Formel einer geographischen Arithmetik des Idealismus. Die Frage also: Haben wir einen solchen Schillerschen Idealismus nötig – heute?

Das Ideal und das Leben. Wie autokratisch ist das Ideal? Wer oder was herrscht, wenn das Ideal regiert? Die «Freiheit der Gedanken». Schiller deutete das Leben als Schatten des Ideals. Dieser Schatten ist aber auch der Ort, wo das «schwere Traumbild sinkt und sinkt und sinkt». Der Traum von den Sinnen, die – laut Schiller – nur beschränken können. Auf dem Ideal lag für ihn kein Schatten. Schiller führte keinen kritischen Diskurs über das Ideal, nur über den Weg dorthin.

Was Schiller als Ideal feiert, ist die Gegenwelt zu den Niederungen des Betrugs, des berechnenden Verhaltens, der lustvollen Täuschung. Kein Drama Schillers, das den Betrug nicht thematisierte. Nur dem Schein des Schönen billigte er Recht auf Täuschung zu. Selbst die Hoffnung darf dieses «Recht» nicht geltend machen: «Und was die innere Stimme spricht,/Das täuscht die hoffende Seele nicht.»

Wo Schiller die Tiefe der Geschichte sah, erkennen wir nur noch Abgründe.

Die einen suchen nach den Schnittpunkten von «Schillers künstlerischem Schaffen und der Gesamtheit seiner theoretischen Äusserungen» (Ilse Graham), nach dem Brennpunkt seiner verschiedenen Denk- und Sprachformen; die anderen sehen in beidem je einen der Brennpunkte einer Ellipse, auf der sich sein Gesamtschaffen bewegte: einmal stärker vom theoretischen Anspruch angezogen, dann wieder mehr im Bann des rein Schöpferischen.

Bei Schiller ist der Mensch nicht Spieler, sondern Spielender. Spieler ist er bei Dostojewski. Trägt er aber in beiden Fällen eine Maske? Dann wäre er ohne sie freilich schwerer zu erkennen.

Nach Schillers Tod begann Cotta damit, die Charaktere der Schillerschen Dramen auf Spielkarten erscheinen zu lassen; es entstanden sogenannte Kartenalmanache. Jeanne d’Arc stach als Pik- (nicht Herz-!) Dame.

Die Kultur solle den Menschen, so Schiller, wieder zur Natur zurückführen. Sie, die Kultur, erreiche ihren Höhepunkt, wenn ihr dieser Akt der Selbstaufhebung gelänge. Ins Poetische übersetzt, hiesse das: Erst wenn ein Gedicht uns zum Naturlaut hinführt, ist es gelungen. Die Erscheinungen der Natur: «Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen.» Oder: Wie man mit Zeitebenen und der Logik des Wünschenswerten spielt. Noch in Nietzsches später Formel «Wie man wird, was man ist» bleibt etwas von dieser Art des Spielens erkennbar.

Die besten Kostüme für das Weimarer Hoftheater kamen von den Angehörigen des herzoglichen Hofes. Vielen erschien die Einrichtung eines Hoftheaters in Weimar überflüssig, weil sich der Hof selbst so perfekt darauf verstand, pseudo-politisches Theater zu spielen. Politik als Posse, Macht als Maskerade: in Weimar lebte der Hof auf der Bühne. Schiller setzte auf das «innige Verstehen der Rollen», was seine Deutung der (goetheschen) «Regeln für Schau-spieler» anging.

Schiller stellte Johanna von Orleans unter Reflexionsverbot. Sie musste, «wie eine Nachtwandlerin, mit geschlossenen Augen ihre Bahn vollenden und sogar mit geschlossenen Augen in den Abgrund stürzen», so Friedrich Hebbel über Schillers naiv-religiös Inspirierte. Warum aber durfte gerade sie, die schliesslich einen politischen Auftrag erfüllte, nicht über sich reflektieren? Weil für sie ausschliesslich die Poesie des Handelns galt, auch wenn diese zu einem Verrat an ihrem Verstand wurde.

«Wer einmal aus den Schranken trat/Der kann zuletzt das heiligste verletzen.» Diese in Schillers Handschrift überlieferten Verse fanden sich auf einem Papierstreifen und wurden Anfang der sechziger Jahre von einem Heidelberger Auktionshaus versteigert. Es handelt sich um Verse aus Racines «Phèdre» in Schillers Übersetzung (ganze sechsundzwanzig Tage brauchte er, bereits von schwerer Krankheit gezeichnet, zu dieser Übertragung.)

In Frankfurt begann man zu der Zeit der Versteigerung jener Zeilen mit der Vorbereitung der Auschwitz-Prozesse.

Schiller über Goethes «Lehrjahre»: «… sonderbares Schwanken zwischen einer prosaischen und poetischen Stimmung», zwischen Naivem und Sentimentalischem, Intuitivem und Reflektiertem. Schiller meinte dies als Kritik, als habe er gespürt, dass in diesem Dazwischen die Zukunft der schreibenden Zunft liegen werde.

«Suchst du das Höchste, das Grösste? Die Pflanze kann es dich lehren. / Was sie willenlos ist, sei du es wollend – das ist’s.» So Schillers Distichon «Das Höchste». Alles Wollen, Werden und Wachsen bedinge den Schmerz, meint später Nietzsche. Zur Pflanze, zur Natur des Schmerzes werden, damit er blühe.

«Und das Dort ist niemals hier», heisst es in Schillers spätem Gedicht «Der Pilgrim» von 1803. Was aber ist hier? Das was eben nur ist. Oder womöglich das Nirgends.

In einer Rezension des «Fiesco» – es handelt sich um die umfangreichste, die zu Schillers Lebzeiten erschien, von Johann Gottfried Lucas Hagemeister, einem vorpommerschen Pädagogen und Schriftsteller verfasst und in seinem Organ, dem «Dramaturgischen Wochenblatt für Berlin und Deutschland», Anfang 1792 veröffentlicht –, in dieser eingehenden Besprechung also heisst es, es scheine, «als ob alle Ideen in Feuer, Leben, und Farbe getaucht würden, wenn sie durch seinen [Schillers] Kopf gehen». Humboldt nannte ihn zwei Jahre später den «ideenfruchtbarsten Kopf». Schiller, der Kopfgebärer, den jedoch in der Hauptsache das Vergangene zu befruchten vermochte. Je abgelebter die Zeit, desto mehr wusste er sie zu verlebendigen. Humboldts Projekt, eine «Einleitung zu einer Charakteristik des 18. Jahrhunderts», die Physiognomie einer Epoche, zu schreiben, bestehend aus Philosophie, Politik, Ästhetik, Philologie und den Naturwissenschaften, erschien Schiller zu wenig geschichtslos. Was in seinem Kopf Feuer fing, musste durch die Fluten der Zeit längst gelöscht und in ihnen erkaltet sein.

«Im ‹Tell› hat Schiller uns Schweizer durchschaut!» urteilt Thomas Hürlimann und meint damit das reaktionäre Rebellentum, das dieses Schauspiel vorführe. Schiller hat also mit seinem «Tell» ins Schwarze der Schweizer Volksseele getroffen. Weil er in seinem Schauspiel das Wetter so oft umschlagen liess. Weil er es in seinen Regieanweisungen nicht ausdrücklich untersagt hat, auf dem Rütli ein riesiges Labyrinth aus Lawinenbrettern zu errichten, in dem sich die eidgenössischen Verschwörer erst einmal zurechtfinden müssten, bevor sie zum Schwur kommen, ja, vielleicht sogar als im Labyrinth Suchende, Vereinzelte ihren Schwur sprechen, ohne einander sehen zu können, immer verzweifelter angesichts ihrer Unfähigkeit, aus dem Labyrinth zu finden. «Wilhelm Tell» wird jedoch erst dann den Beigeschmack des Provinziellen, des Altdorfer Possentheaters verlieren, wenn ein Regisseur, ein entfernter Verwandter von Kafkas Karl Rossmann womöglich, es wagen sollte, das Schauspiel im Naturtheater von Oklahoma zu inszenieren.

Zu den literarischen Passionen August von Goethes, des Sohnes der Söhne, gehörten – Schillers Dramen. Stephan Schütze, drittklassiger Weimarer Belletrist und Herausgeber eines «Taschenbuchs der Liebe und Freundschaft», betonte diese Leidenschaft in seinem Nekrolog auf Goethes Sohn: «Mitzuspielen in Stücken wie ‹Wallensteins Lager›, als die Weimarische Gesellschaft noch des Sommers nach Lauchstädt ging, gehörte zu seinen ersten Jugendfreuden. Bedeutende Stellen, besonders aus Schillerschen Stücken – er schien sie auswendig zu wissen – würzten oft mit sinnreicher Anwendung seine Rede.» Seinem Vater berichtet er aus Neapel, dass er in einer «Schweizerkneipe, wo es toll herging», auf lauter Deutsche traf, die Schillers «Räuberlied» schmetterten («Stehlen, Morden, Huren, Balgen/Heisst bei uns nur die Zeit zerstreun […] Ein freies Leben führen wir,/Ein Leben voller Wonne …»). Drei Wochen später starb er in Rom an «Scharlachfieber und von einem Blutschlag getroffen».

Thomas Manns Goethe im Roman «Lotte in Weimar» (1939) über seinen Freundesrivalen Schiller: «Mocht ich ihn jemals? Nie. Mochte den Storchengang nicht, das Rötliche, die Sommersprossen, die kranken Backen, nicht den krummen Rücken, den verschnupften Haken der Nase. Aber die Augen vergess ich nicht, solang ich lebe, die blau-tiefen, sanften und kühnen, die Erlöser-Augen … Christus und Spekulant.» Einen «grossen rührenden Narren der Freiheit» nennt er Schiller. Was er ihm vor allem vorwirft: dass er «Mann im Übermass und bis zur Unnatur» männlich gewesen sei. Mit anderen Worten, es habe Schiller an Androgynem gemangelt, an jenem entscheidenden Quentchen Weiblichkeit, ohne das kein grosses (sprich: goethesches!) Schaffen denkbar sei.

Im Jahre 1927 schuf Ernst Barlach den neunteiligen Holzschnitt-Zyklus zu Schillers Gedicht «An die Freude». Je Strophe ein Holzschnitt. Er begann mit der Arbeit unmittelbar nach Abschluss seines Textes «Ein Selbsterzähltes Leben». Freude als Essenz, schweben sollte sie über den Dingen. Als «bindender Zauber». Als «Seraphs Hymne». Als «Sternenrichter». Die Lithographie zu «Seid umschlungen, Millionen!» zeigt einen Einzelnen, zur Umarmung der Welt Bereiten. Auch er hat etwas Schwebendes, obgleich er festen

Schrittes zu schreiten scheint zwischen Tempelsäulen. Barlach war gut vorbereitet auf dieses Gedicht. Im Jahr zuvor schuf er eine erste Fassung des «Frieses der Lauschenden» als Entwurf zu einem Beethoven-Denkmal. Ein Jahr später folgte die Bronzeplastik «Der Singende Mann», von dem man glauben könnte, er sei Schillers Gedicht entstiegen. In unmittelbarem Anschluss an den Holzschnitt-Zyklus schuf Barlach den «Güstrower Engel», seine schwebendste Figur. Einer aus dem Schillerschen Chor der Engel, horizontal, in schwerer Schwebe verharrend, scheinbar am Übergang zur Vision. «Freude heisst die starke Feder/In der ewigen Natur.» Dieser Satz Schillers hatte es Barlach angetan. Nicht auszuschliessen, dass er seinetwegen diesen Zyklus geschaffen hat. «Freude, Freude treibt die Räder/In der grossen Weltenuhr.» Barlachs Bild-Zyklus scheint diese Räder und mit ihnen die Zeiten, die die Weltenuhr anzeigt, auflösen und in reine Bewegung, in ein dauerndes Wehen übersetzen zu wollen. Das ist es: beim Anblick dieser Bilder weht einen Freude an. Gäbe es eine sinnigere Deutung von Schillers «An die Freude»?

Brecht spricht von einer «Armut an gestischen Elementen in Schillers Gedichten» und erläutert, dass die «Wahrnehmung gesellschaftlicher Dissonanzen» eine «Voraussetzung für die neue [seine eigene!] gestische Rhythmisierung» sei. Damit trifft und verfehlt er das für Schiller Wesentliche. Schiller sah den Dichter als den «reifsten Sohn der Zeit», dessen wichtigste «Geste» im (nur angedeuteten) Gang «durch das Morgentor des Schönen» bestehe, um erst dadurch die «Dissonanzen» wahrnehmen, die Widersprüche erkennen zu können. Der Gang dieses «reifsten Sohnes» ergäbe somit Gestus, Duktus und Rhythmus seines Gesangs.

Die «Poetisierung des Intellekts» verbinde – so Thomas Mann in einer Tagebuchnotiz vom 11. September 1954 nach einem Gespräch mit Alfred Polgar – Ibsen mit Schiller. Mit der Suche nach einem Verbindenden zwischen diesem und jenem beginnt die Poetisierung eines jeden so begründeten Verhältnisses. Betont man das Trennende, begibt man sich auf den Weg der Prosaisierung. Kein wirkliches Verhältnis jedoch ist entweder nur poetisch oder nur prosaisch. Was Schiller an Ibsen fasziniert hätte? Die Worte des Bildhauers Arnold Rubek in dessen dramatischem Epilog «Wenn wir Toten erwachen»: «Ich lebe so schnell, Maja. Wir leben nun einmal so, wir Künstler […] Ich muss ununterbrochen arbeiten – Werk schaffen auf Werk – bis zu meinem letzten Tag.» Und im Gespräch mit seinem Modell, das er ruiniert: «So lass uns denn weiter spielen!» Darauf sie: «Ja, spielen, spielen, – nichts als spielen.»

Stichwort Verhältnisse. Zurück, wieder, wie auch anders, zurück zum Urverhältnis in der deutschen Literatur, jenem zwischen Schiller und Goethe. Schiller an Goethe am 5. Januar 1798 (nach Abschluss der «Piccolomini»): «[…] denn nur der vielmalige kontinuierliche Verkehr mit einer so objektiv mir entgegenstehenden Natur [wie der Ihrigen, d.Verf.] mein lebhaftes Hinstreben darnach und die vereinigte Bemühung, sie anzuschauen und zu denken, konnte mich fähig machen, meine subjektiven Grenzen so weit auseinanderzudrücken.»

Über Freiheit. «Niemals kann Freiheit in unserem Leben länger dauern als ein paar Atemzüge lang, aber für sie leben wir», so lautet der wohl wichtigste Satz in Alfred Anderschs «Die Kirschen der Freiheit». Freiheit bedeutete für ihn, ganz konkret, der Augenblick der Desertion am 6. Juni 1944 in der Nähe des Klosters Eremo di Montevirginio. Die Überläufer in Schillers Dramen, in «Wallensteins Tod» vor allem, kennen einen solchen durch ihre Tat begründeten Freiheitsmoment nicht. Sie laufen statt dessen mitten in unlösbare Seelenqual hinein. Die dritte Position nimmt der Schon-nicht-mehr-Affe Franz Kafkas in seinem Bericht für eine Akademie ein: «Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer […] es gibt eine ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die Büsche schlagen; das habe ich getan, ich habe mich in die Büsche geschlagen. Ich hatte keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, dass nicht die Freiheit zu wählen war.»

In der Flick Collection sind sie zu sehen: Paul McCarthys Kolossalfiguren «Apple Heads» (1997/2000), Variationen über den Tellschen Apfel in Schillers Drama. Die Figuren wirken, als hätten sie sich einen fäulnisresistenten Apfel auf den Kopf gelegt, der dann dort gleichsam Wurzeln geschlagen und ins Unmässige, bis zu einem Vielfachen des kleinen Kopfes sich ausgewachsen hätte. Nun hängt der Kopf am Apfel, diesen prekär balancierend, was nur möglich ist, weil ein ebenso mächtiger Phallus dem vergleichsweise schmächtigen Körper entwächst und einem Stützpfeiler gleicht. Der Phallus könnte auch durch den Körper des Trägers gehende Hauptwurzel des Apfels sein. Sündenfall- und Tell-Parodie in einem. Kein Pfeil, Tells oder Amors, könnte diesen Apfel durchbohren, den Phallus wohl auch nicht, aber, ein genaues Auge vorausgesetzt, den kleinen Kopf unter dem Apfel. Die bei McCarthy geforderte Kunst: Triff den Kopf, nicht den Apfel. Armbrüste für die Besucher lagen in der Ausstellung nicht bereit; ein Stilfehler.

Rüdiger Görner, geboren 1957 in Rottweil am Neckar, lebt seit 1981 in London. Er ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Kulturgeschichte am Queen Mary College, University of London.

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