Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Sich fürs Ausziehen bezahlen lassen
Myra Rotermund, fotografiert von Daniel Jung.

Sich fürs Ausziehen bezahlen lassen

Viele Mieter haben es sich in grossen Wohnungen bequem gemacht, auch wenn sie den Raum gar nicht mehr benötigen. Eine Wechselprämie könnte den städtischen Wohnungsmarkt beleben – ganz ohne neue Regulierungen.

 

Nehmen wir an, Sie wohnen seit 1990 in einem schönen Altbaumehrfamilienhaus in Zürich zur Miete. Ihre Kinder sind längst ausgezogen. Sie wissen, dass Sie zu den Glücklichen gehören, die eine grosse, bezahlbare Wohnung in städtischer Lage mieten können. Weshalb werden Sie nie ausziehen, auch wenn Sie lieber eine andere Wohnung hätten? Und weshalb bezahlen Ihre neuen Nachbarn viel mehr für eine identische Wohnung auf Ihrer Etage?

Unsere Städte kennen viele Regeln, den knappen Wohnraum möglichst gerecht zu verteilen. Trotzdem reicht es nicht für alle. Mehr Wohnraum zu produzieren, ist zwar möglich. Höher und dichter zu bauen, stösst aber oft auf Widerstand und ist oft mit Ausgleichsmechanismen verbunden, wie das Beispiel der Neugestaltung des Hardturmareals in Zürich zeigt. 90 Prozent der Bewohner von Zürich leben zur Miete1, sie gestalten die Politik. Ohne positives Votum seitens der Mieter hat eine Vorlage in einer Stadt wie Zürich keine Chance auf Erfolg. Was kann man tun?

Die Ausgangslage: Sie wissen, dass Sie weniger bezahlen als Ihre neuen Nachbarn für die identische Vierzimmerwohnung auf Ihrer Etage. Sie hatten Glück! Die Referenzzinsen für Hypotheken befanden sich nach einem Anstieg Ende der 1980er-Jahre in einem Sinkflug und das Mietrecht spielte zu Ihren Gunsten. Dieser Anstieg war damals der Grund, einen entsprechenden Passus über Mietzinsanpassungen gemäss Referenzzinssatz in der Verordnung über die Miete und Pacht aufzuführen.2 Damit war es Vermietern möglich, höhere Zinskosten auf die Miete zu überwälzen. Wie Sie wissen, kam es anders: Die Zinsen sanken.

Eine bezahlbare Wohnung

Ihre Miete betrug beim Einzug vor über 30 Jahren 1500 Franken pro Monat (exklusive Nebenkosten). Das entsprach einem Drittel des damaligen Durchschnittsgehalts3 – eine bezahlbare Miete. In der Zwischenzeit ist Ihre Miete nach geltendem Recht sukzessive um 6 Prozent zurückgegangen und beträgt noch 1400 Franken pro Monat. Der Hauptgrund, warum Sie heute nicht nur weniger als Ihre neuen Nachbarn, sondern sogar weniger als 1990 bezahlen, liegt an den gesunkenen Referenzzinsen. Dieser Effekt wirkt sich mit – 34,4 Prozent aus. Demgegenüber stehen Mietzinssteigerungen von 15,5 Prozent aufgrund der allgemeinen Kostensteigerung (0,5 Prozent pro Jahr4) und 13,1 Prozent aus der allgemeinen Teuerung (40 Prozent gemäss Landesindex der Konsumentenpreise, LIK).

Das allgemeine Preisniveau ist seit 1990 um 33 Prozent5 gestiegen und die Löhne um 54 Prozent6. Im Verhältnis zum allgemeinen Preisniveau und vor allem zu Ihrem Lohn ist Ihre Wohnung also sehr viel günstiger geworden. Wenn die Preise und die Löhne parallel ansteigen, können Sie mit Ihrem Lohn immer gleich viel kaufen. In der Differenz zwischen Lohn- und Preisentwicklung liegt der Wohlstandsgewinn.

«Wenn Mieter nicht mehr wechseln können, wenn sich

ihre Bedürfnisse ändern, führt das zu einer

schlechten Verteilung des Wohnraums für alle.»

Nehmen wir an, Ihre Vermieterin möchte bezahlbare Wohnungen vermieten und orientiert sich bei der Neuvermietung jeweils am aktuellen Lohn- und Preisniveau. Damit kosten ihre Vierzimmerwohnungen zu jedem Zeitpunkt ähnlich viel. Rechnet Ihre Vermieterin die Miete von 1990 anhand der allgemeinen Teuerung hoch, kommt sie für 2021 gerundet auf 2000 Franken pro Monat. Rechnet sie die Miete über die Lohnentwicklung hoch, kommt sie auf 2300 Franken pro Monat. Ihre neuen Nachbarn haben für 2100 Franken pro Monat unterschrieben. Das lässt noch Raum für Nebenkosten und Versicherungen und entspricht etwas weniger als einem Drittel eines heute durchschnittlichen Lohns – eine bezahlbare Miete.

So entsteht ein Dilemma. Bleiben Sie in Ihrer Wohnung, sparen Sie im Vergleich zu einem Umzug in eine vergleichbare Wohnung jeden Monat mindestens 600 Franken. Das sind 7000 Franken pro Jahr. Und in den nächsten fünf Jahren sogar 35 000 Franken. Freiwillig werden Sie deshalb nicht ausziehen, auch wenn Sie lieber eine andere Wohnung hätten. Jede vergleichbare Wohnung wird Sie mehr kosten, selbst eine kleinere.

Sie sitzen in Ihrer Wohnung fest

Es ist ein Problem für Sie, weil Sie in Ihrer Wohnung festsitzen und ohne Aufpreis nicht mehr wechseln können. Wäre es nicht angenehm, auch Sie könnten sich mal wieder umschauen? Womöglich gibt es Wohnungen, die Ihren heutigen Bedürfnissen besser entsprechen. Übrigens, je kürzer Ihr Mietverhältnis andauert, desto geringer die Einsparung. Aber sogar für Mietverträge von 2015 ist es ein vierstelliger Betrag pro Jahr (in unserem Beispiel).

Es ist aber auch ein Problem für alle anderen Wohnungssuchenden. Wenn Mieter nicht mehr wechseln können, wenn sich ihre Bedürfnisse ändern, führt das zu einer schlechten Verteilung des Wohnraums für alle. Überall sitzen dann Mieter in Wohnungen, die eigentlich gar nicht mehr passen. Das langfristige Ziel sollte also sein, dass eine identische Vierzimmerwohnung gleich viel kostet, auch wenn der Mietbeginn zu unterschiedlichen Zeitpunkten liegt.

Bei einer repräsentativen Umfrage 2016 gaben 10 Prozent der befragten Schweizer Haushalte an, dass ihre Wohnung zu gross sei für sie. Das entspricht hochgerechnet 350 000 Haushalten7, die einen Umzug in Betracht ziehen, wenn er für sie vorteilhaft wäre8. Bei einem knappen Gut wie städtischem Wohnraum ist es wichtig, diesen Mietern einen Umzug zu ermöglichen.

Um das Dilemma zu beheben, gibt es eine einfache Lösung, die Wechselprämie. Das sind die Prämissen:

  1. Sie behalten Ihren Vorteil.
  2. Sie können trotzdem ausziehen und jemand anderes, Passenderes zieht in Ihre Wohnung ein.
  3. Vergleichbare Wohnungen werden künftig ähnlich viel kosten, auch wenn der Mietbeginn zu unterschiedlichen Zeitpunkten liegt.
  4. Der Vorschlag überzeugt Mieter- und Vermieter.
  5. Der Vorschlag lässt sich privatrechtlich umsetzen und benötigt keine Revision des Mietrechts.

Das geltende Mietrecht von 1990 zu revidieren, wurde mehrmals versucht. Zuletzt scheiterte es 2010 im wesentlichen an der geforderten Aufhebung der Anbindung an den Referenzzinssatz.9 Es ist diesbezüglich nicht mehr dringend, denn das Problem ist bereits angerichtet und das weitere Abwärtspotenzial der Zinsen beschränkt. Aus Mietersicht ist die Anbindung der Miete an den Referenzzinssatz im Moment positiv (für Altmieter) oder neutral (für Neumieter). Bei einer Mietermehrheit, wie wir sie haben, ist eine Aufhebung unrealistisch. Die Situation ändert sich erst bei steigenden Zinsen, wenn die Mieten aller Mieter erhöht werden können.

Unter der Annahme, dass die Zinsen nicht mehr im selben Ausmass sinken werden – seit 2013 liegt der Referenzzinssatz bei 2 Prozent und tiefer –, ist die maximale Ungleichheit zwischen Neu- und Altmietern heute erreicht. Neumieter bezahlen eine Miete nahe am Markt und haben nicht mehr die Möglichkeit, im selben Ausmass von sinkenden Zinsen zu profitieren. Jetzt ist der Zeitpunkt, Mietern einmalig die Möglichkeit einzuräumen, in eine passendere Wohnung umzuziehen, ohne ihren Vorteil zu verspielen.

Verlangen Sie eine Wechselprämie!

Nehmen wir an, Sie haben eine Wohnung in Aussicht, die Ihnen besser gefällt. Es spielt keine Rolle, ob Sie schon 30 oder erst 5 Jahre in Ihrer Mietwohnung wohnen. Klar ist, dass Sie bei einem Umzug in eine vergleichbare Wohnung mehr bezahlen müssten, als Sie es heute tun. Sie haben nun aber die Möglichkeit, sich mit Ihrer Vermieterin über eine Wechselprämie zu einigen. Sie haben berechnet, dass Sie mit Ihrer aktuellen Miete in den nächsten fünf Jahren 35 000 Franken sparen werden.10 Wie viele Jahre Sie hochrechnen, ist Ihnen überlassen respektive ist Verhandlungssache. Vertrauen Sie auf Ihr Bauchgefühl. Ziel ist ja, dass es für Sie und für Ihre Vermieterin ein gutes Geschäft ist. Gehen Sie mit Ihrem Vorschlag auf die Vermieterin zu und bitten Sie um eine Wechselprämie im Gegenzug für Ihren Auszug. In Ihrem Fall könnten Sie es mit 30 000 Franken versuchen.

Ihre Vermieterin wird zuerst irritiert sein von Ihrem Vorschlag. Sie bezahlen bereits eine tiefe Miete, und nun wollen Sie von ihr zusätzlich eine Prämie, damit Sie ausziehen? Sie wird kurz überlegen, ob sie Ihnen nicht einfach die Wohnung kündigen soll, schliesslich denken Sie bereits über einen Umzug nach. Bei genauerer Betrachtung wird sie jedoch erkennen, dass ihre Altmieter einen vergleichsweise tiefen Mietzins bezahlen. Dies beruht auf einer dreissig Jahre alten Gesetzgebung, bei deren Beschluss die Zinsentwicklung nicht vorhergesehen werden konnte. Die Vermieterin wägt die Zeit und Kosten eines möglichen Gerichtsprozesses ab, ebenso die anschliessende Möglichkeit der Anfechtung des neuen Anfangsmietzinses. Dann rechnet sie.

Die Vermieterin hat eine Vorstellung, zu welchem Mietzins sie Ihre Wohnung wieder vermieten kann und wie lange Sie ohne Wechselprämie noch in der Wohnung bleiben werden. Diese zwei Zahlen vergleicht sie und ermittelt, wie hoch eine für sie günstige Wechselprämie ist. Je näher die Vermieterin am Markt vermieten darf und je länger sie Ihren sonstigen Verbleib in der Wohnung schätzt, desto höher wird Ihr Gegenangebot sein. Sie schätzt Ihren weiteren Verbleib etwas kürzer ein und schliesslich einigen Sie sich auf eine Wechselprämie von 20 000 Franken. Damit können Sie machen, was Sie wollen. Zum Beispiel eine passendere Wohnung mieten. Oder eine kaufen.

Ihre Wohnung, die Ihren Bedürfnissen nicht mehr genügend entsprach, ist nun frei für andere, die genau eine solche Wohnung suchen. Die Wohnung wird zum selben Preis wie für Ihren Nachbarn, für 2100 Franken pro Monat, wieder vermietet. Das entspricht Ihrer Anfangsmiete von 1990 hochgerechnet auf das aktuelle Lohn- und Preisniveau und lässt Raum für Nebenkosten und Versicherungen. Eine bezahlbare Miete. Ihre ehemalige Vermieterin muss nicht befürchten, dass sich der neue Mietzins allzu stark von der Lohn- und Preisentwicklung entkoppelt, da sie davon ausgeht, dass die Zinsen zukünftig nur noch leicht sinken werden, stagnieren oder sogar anziehen. Beim neuen Anfangsmietzins kann sie sich darauf verlassen, dass die Gerichte den neusten Bundesgerichtsentscheid zur Missbräuchlichkeit von Mietzinserhöhungen vom Mai 202111 kennen und umsetzen. Im Urteil steht: «Vorausgesetzt [für die Missbräuchlichkeit] ist vielmehr eine massive Erhöhung des Mietzinses von deutlich über 10 Prozent, welche nicht durch die Entwicklung des Referenzzinssatzes bzw. der schweizerischen Konsumentenpreise […] erklärt werden kann.» Die Wechselprämie funktioniert ohne Anpassung der geltenden Gesetze. Das Problem kann rein privatrechtlich gelöst werden.

Auch die Nachbarn werden glücklich mit dem Deal. Zukünftig werden identische Vierzimmerwohnungen ähnlich viel kosten, egal zu welchem Zeitpunkt sie vermietet wurden. Unter den Nachbarn entsteht ein gutes Gefühl von Fairness und der Freiheit, umziehen zu können.

Auch die Vermieter wägen ab

Schlüpfen wir am Schluss in die Haut der Vermieterin des schönen Zürcher Altbaus. Sie weiss, dass sie mit den geltenden Gesetzen während eines Mietverhältnisses nur 65 Prozent der Teuerung12 auf die Miete aufschlagen kann, ohne langwierige und aufwendige Prozesse zu riskieren. Wie lange ein Mieter bleiben wird, weiss sie aber nicht. Je länger er bleibt, desto schlechter wird ihr Geschäft. Also wägt sie ab. Wie viel höher muss sie die Anfangsmiete setzen, damit es über die gesamte Mietdauer ein gutes Geschäft bleibt? Zu hoch darf sie nicht sein, dann springt ihr der Mieter bei der nächsten Gelegenheit wieder ab. Ein Mieterwechsel ist auch für sie mit Aufwand und Kosten verbunden. Wenn die Vermieter wissen, dass sie über die Dauer des Mietverhältnisses Kostensteigerungen in einem angemessenen Umfang überwälzen dürfen, werden sie die Anfangsmiete entsprechend tiefer ansetzen und sich über langjährige Mieter freuen. Auch die Vermieter stehen untereinander in Konkurrenz um die besten Mieter. Wer eine ansprechende Miete anbieten kann, hat mehr Auswahl bei der Wiedervermietung. Eine angemessene Miete ist somit auch im Interesse des Vermieters.

Acht Jahre in der gleichen Wohnung

In der Stadt Zürich gab es letztes Jahr 207 500 Wohnungen, davon waren 13 500 in städtischem Besitz und 194 000 in privater Hand.13 Die Stadt Zürich hat erhoben, dass die durchschnittliche Verweildauer in Mietwohnungen 8 Jahre beträgt, wobei gemeinnützige Wohnungen nur alle 14 Jahre neu vermietet werden, private Mietwohnungen alle 7 Jahre.14 2023 werden mit der neusten Strukturerhebung erstmals schweizweit genaue Daten zur Dauer von Mietverhältnissen publiziert. Dann lässt sich ermitteln, wie viele Mieter wie stark von den gesunkenen Referenzzinsen für Hypotheken profitieren.

Die Wechselprämie schafft die Voraussetzung, dass festsitzende Mieter mit Umzugsabsichten in eine passende Wohnung umziehen können, ohne ihren Vorteil zu verspielen. Davon profitieren alle Mieter. Es braucht noch nicht einmal eine Gesetzesänderung. Die Wechselprämie lässt sich schon morgen umsetzen.

  1. http://www.web.statistik.zh.ch/data/KTZH_717_si_2020_bestandsmieten.pdf

  2. Rohrbach, 2014: Die Entwicklung des schweizerischen Mietrechts von 1911 bis zur Gegenwart.

  3. Lohn Angestellte (m/w) 1990, Historische Statistik der Schweiz HSSO, 2012. Tab. G.10b. http://www.hsso.ch/2012/g/10b

  4. Die Bemessung der allgemeinen Kostensteigerung ist gesetzlich nicht festgelegt und wird unterschiedlich ausgelegt. 0,5 % wird oft verwendet.

  5. http://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/tabellen.assetdetail.228896.html

  6. http://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/loehne-erwerbseinkommen-arbeitskosten/lohnentwicklung/zeitreihen.html

  7. http://www.bwo.admin.ch/bwo/de/home/wohnungspolitik/studien-und-publikationen/wohnflaechenkonsum-und-wohnflaechenbedarf.html

  8. http://www.dievolkswirtschaft.ch/content/uploads/2017/02/16_Delbiaggio_Wanzenried_DE.pdf

  9. http://www.bwo.admin.ch/bwo/de/home/mietrecht/mietrecht–politik/mietrechtsrevision-2007-2010.html

  10. Differenz Miete Mietrecht zu Miete Teuerung, Berechnung mit Mietzinsrechner (online) und Teuerungsrechner (online, BFS).

  11. Urteil 4A_183/2020 vom 6.5.2021.

  12. 40 % LIK, variabel, bei Teuerungsziel 2 % = 0,8 % p.a. + 0,5 % allgemeine Kostensteigerung p.a.= 1,3 % Mietzinssteigerung p.a. resp. 65 % der Teuerung.

  13. Statistik Stadt Zürich, GWZ, 2021.

  14. http://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/publikationen-angebote/publikationen/webartikel/2020-09-29_Hohe-Wohnungsfluktuation-trotz-tiefem-Leerstand.html#

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!