Seniorensitting-Tauschbank für die Schweiz?
Von einer Tauschbörse für Altenbetreuung versprechen sich manche die Linderung drängender Finanz- und Sozialprobleme. Die Idee ist eher gut gemeint als gut.
«Sehr geehrte Damen und Herren! ‹Zeit und Politik. Zeit in der Politik. Politik in der Zeit.› Dies ist das Thema der diesjährigen Petersinselveranstaltung.»
Mit diesen Worten beginnt die auf der Website des Eidgenössischen Departements des Inneren veröffentlichte Durchschrift des diesjährigen Auftritts von Bundesrat Pascal Couchepin auf der Halbinsel im Bielersee. Und der Bundesrat fährt fort:
«Die Zeitbörse – der Austausch von Zeit!… Diese Idee sieht eine Tauschbörse für Freiwilligenarbeit auf nationaler Ebene vor. Einfache Pflegeleistungen, für die keine fachspezifische Ausbildung notwendig ist, könnten künftig ‹junge Pensionierte› oder auch andere Interessierte freiwillig und unentgeltlich erbringen. Unentgeltlich, aber nicht wertlos. Ganz im Gegenteil. Für die erbrachte Leistung wird ein Gutschein ausgestellt, der wiederum gegen Hilfeleistung eingelöst werden kann. Die Gutschriften werden in einer Datenbank gespeichert, … Ziel eines solchen Systems wäre es, die Zeit-Ressourcen von jungen Pensionierten (und anderen Interessierten) besser zu nutzen.»
Der genius loci des Naturnostalgikers Rousseau auf der Petersinsel im Bielersee mag Bundesrat Pascal Couchepin zur Idee einer Zeittauschbörse für Seniorensitting inspiriert haben. Der Bundesrat ist freilich nicht der erste noch wird er der letzte sein, der sich von finanzfreien, auf Freiwilligkeit beruhenden Bürgerdienst-Modellen die Linderung drängender Finanz- und Sozialprobleme verspricht. Seit dem Beginn der «Finanziarisation» der Welt in der Morgendämmerung der Geschichte sind immer wieder Entwürfe aufgetaucht, die zu einer flächendeckenden oder sektoralen Rückkehr zur einfachen, natürlichen und naturalen Tauschwirtschaft aufrufen. Auch in unserer nur scheinbar durch-finanziarisierten Welt gibt es in Wirklichkeit permanent eine ganze Menge spontaner Naturaltauschakte. Genau genommen ist jeder Mensch dauernd informell in Naturaltausch und Naturalschenkung verwickelt, wobei das eine vom anderen meist nicht leicht zu unterscheiden ist. Schliesslich genügt ein Blick ins Internet, um sich davon zu überzeugen, dass rund um den Globus zahllose Zeitbörsen – oder besser: Zeitbanken – bestehen, in denen zeitdenominierte Dienstleistungsguthaben verwaltet und getauscht werden. Über deren effektiven Wirkungsgrad und deren langfristige Lebenstüchtigkeit erfährt man allerdings wenig. Es bleibt aber dabei: wo solche formellen oder informellen Naturaltransaktionen spontan zustande kommen, ist es auch richtig und effizient, dass sie erfolgen.
Was die immer wieder nachwachsenden Wiedererfinder grossflächiger Naturaltauschvisionen jedoch mit geradezu rührender Unbeirrbarkeit übersehen, ist die ausserordentlich beschränkte Anwendbarkeit und vor allem die Störanfälligkeit formalisierter Naturalleistungszirkulation, sobald die Teilnehmerzahlen, der Zeithorizont und der Operationsraum grösser werden, und namentlich, sobald die Ano-nymität zunimmt. Alle diese Gutschein- und Guthabenschemata, die quasi Naturalersparnis ermöglichen sollen, kranken letztlich am fundamentalen Erfordernis der räumlichen, zeitlichen und qualitativen Komplementarität der Bedürfnisse, am Problem, das die Ökonomen das Erfordernis des physischen, räumlichen und zeitlichen Zusammentreffens der gegenseitigen Bedürfnisse – double coincidence of wants – nennen.
Das Ausstellen zeitlich und räumlich transportierbarer Gutscheine und Guthaben lindert dieses Problem in nur unwesentlichem Masse. Es fügt ihm indessen gleich ein neues hinzu, dasjenige des Ungleichgewichts zwischen zirkulierender Gutscheinmenge und Leistungsnachfrage. Auf einer Börse löst sich dieses Problem automatisch durch das dauernde Auf- und Abwerten der Ansprüche. Die Initianten von Naturalgutschein-Systemen wollen jedoch genau dies nicht. Sie wollen feste Ansprüche. Deshalb sollte man besser von Tauschbanken als von Tauschbörsen sprechen. In einem System fester Preise oder Wechselkurse – und der Tausch Stunde gegen Stunde via Gutscheine ist ein System fester Preise – gibt es in jedem Moment entweder zu viele oder zu wenige Gutscheine bzw. zu viele oder zu wenige leistungswillige Personen.
Jeder Ökonom weiss, dass feste Wechselkurse – falls überhaupt – nur funktionieren, wenn ein Swing-Anbieter-und-Nachfrager (am Devisenmarkt die Zentralbank) vorhanden ist, der jederzeit zum festen Preis einen allfälligen Leistungsnachfrage-Überhang gegen Entgegennahme von Gutscheinen physisch befriedigt bzw. einen Leistungsangebots-Überhang (auch das gibt es) gegen Abgabe von Gutscheinen absorbiert, auch wenn im Moment für die gekauften Leistungen keine Nachfrage besteht. In der Tat, vieles muss «stimmen», damit der durch Dienstleistung erworbene Gutschein vollen Wert hat und behält. Was ist der effektive Wert eines einst erworbenen Gutscheins, wenn zu der Zeit und an dem Ort, wo sein Inhaber Betreuung nachfragt, niemand sich findet, der für den Gutschein die verbriefte physische Leistung in der nachgefragten handwerklichen und kulturellen Qualität, der Sicherheit und der rein persönlichen Kompatibilität zu erbringen bereit ist? Im konkreten Falle müssten die Gutscheine einen eigentlichen Generationenvertrag verbriefen. Denn anders als in den meisten existierenden Tauschsystemen, die schon genügend Probleme haben, muss hier jeweils eine neue Generation die durch eine andere herausgegebenen oder erworbenen Gutscheine erwerben, und die Eintrittsgeneration muss – wie in allen Umlagesystemen – etwas für nichts kriegen, soll das System überhaupt in Gang kommen. Die Probleme solch weitläufiger Generationenverträge zwischen anonymen Kontrahenten sind wohlbekannt.
Auch wenn – da der Tod von Tauschbanken weniger Publizität erzeugt als die Geburt – die Berichte über Erfahrungen mit Tauschbanken spärlich sind, so ist zumindest eine ausführliche Beschreibung aktenkundig. Es ist der Bericht des Ehepaars Sweeney über die berühmt gewordene Capitol Hill Baby Sitting Co-op (Joan Sweeney and Richard James Sweeney: «Monetary Theory and the Great Capitol Hill Baby Sitting Co-op Crisis», Journal of Money, Credit and Banking, February 1977). Zwei Beteiligte schildern darin in aller wünschbaren Klarheit und mit einigen augenzwinkernden Seitenhieben auf die mit Lohn- und Preiskontrollen arbeitende Antiinflationspolitik der Nixon-Administration die inhärente Instabilität eines der wohl aussichtsreichsten Fixpreis-Gutscheinsysteme der Geschichte. Die Kooperative war eine Initiative junger verheirateter Beamter des US-Kongresses, die gegenseitig Babysitting-Dienste tauschten. Die Voraussetzungen waren nahezu ideal, aber eben nur nahezu. Die Beteiligten waren in der gleichen Altersklasse und hatten ähnlichen kulturellen, professionellen und sozialen Status. Die Haltedauer der Gutscheine war naturgemäss kurz. Und dennoch tauchten schon bald die zu erwartenden Pathologien auf.
All dies ändert zwar nichts an der Tatsache, dass Naturaltausch und Naturalgeschenk wichtige und unerlässliche Ingredienzien erfüllten Lebens, Lebensmorgens und Lebensabends sind und bleiben. Wer indessen für intergenerationellen menschlichen Kontakt im Alter vorsorgen möchte, tut dies wohl noch immer am besten mit dem Aufziehen eigener Kinder und der Übernahme von Patenschaften – und zwar nicht solcher in fernen Kontinenten.