Selbst schuld, lest doch Orwell!
Christian Kracht: « Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten». Köln: Kiepenhauer & Witsch, 2008.
Es ist Winter und seit fast einhundert Jahren Krieg. Die Engländer haben sich mit den faschistischen Deutschen verbündet und Lenin ist es gelungen, die friedliche Schweiz in ein sich bis nach Afrika erstreckendes Imperium zu verwandeln. Die Hauptfigur der Geschichte, ein afrikanisch-schweizerischer Politkommissar dunkler Hautfarbe, verfolgt einen polnisch-jüdischen Obersten durch das verschneite Berner Oberland und trifft ihn schliesslich im hart umkämpften Réduit, der Alpenfestung der sowjet-schweizerischen Armee. Was hat es mit diesem polnischen Obersten auf sich, dass er verfolgt werden muss? In dieser Geschichte ist seine einzige Funktion wohl die, dass er der realistische, nein schon zynische Gegenspieler des idealistischen Politkommissars ist, dem er am Ende die Augen öffnet. Während seines Aufenthalts in der Festung erkennt der Kommissar nicht nur, dass der Krieg nie enden wird, sondern auch, dass die rassistische Gesinnung seiner Mitsoldaten kein Ende findet.
Auch in Orwells «1984» ist die Welt beherrscht vom Krieg zwischen totalitären Staaten. Auch in «1984» stehen sich der noch nicht unterworfene Winston Smith und der unterwerfende Vertreter der Inneren Partei, O’Brien, gegenüber. O’Brien genügt die glaubhafte Androhung von Folter, um Smith zum Verrat gegenüber seiner Geliebten Julia zu bewegen, einen Selbstverrat, den jener am Ende nicht überleben wird. Bei Kracht will Brashinski den Kommissar unvermittelt mit einer Ahle erstechen, was ihm nicht gelingt, weil dessen Herz in der rechten Brusthälfte schlägt. Daraufhin sieht Brashinski sein Attentat auf die ehemals auch von ihm vertretenen, im anderen verkörperten Ideale gescheitert und sticht sich selbst die Augen aus. Der Kommissar hingegen beginnt erst recht zu sehen und verlässt die Alpenfestung in Richtung afrikanische Heimat.
Bis etwa zu dieser Stelle ist das Buch wie ein skurriler Krimi mit Spannung zu lesen. Doch danach beginnt man leider zu ahnen: so ernst war es nun wieder nicht gemeint! Hatte das Buch dramatisch begonnen, so endet es unfreiwillig komisch. Nicht nur genug, dass Mutter Natur dem Helden das Leben rettet, indem sie ihm das Herz auf die rechte Seite gesetzt hat, jetzt bietet sie noch umfassendere Hilfe an. Satz um Satz tauscht sich – warum nur? – die kalt-winterliche Kriegswelt gegen eine blühende Sommerlandschaft aus. Es geht gen Afrika! Dort offensichtlich ist alles gut, und zwar von Natur aus gut. Die echten Afrikaner, von den Schweizer Architekten mit modernen Städten und technischer Infrastruktur aus ihren Dörfern gelockt, kehren in dieselben zurück, so als hätten sie keinen anderen Auftrag als den, der Einsicht des Kommissars in die unvermeidlich destruktive Gewalt von Wissenschaft und Technik, die Verbindung von Zivilisation und Krieg zahlreich Ausdruck zu geben. Der letztverantwortliche Schweizer Stararchitekt verzweifelt über diesen Rückfall und erhängt sich an einem Laternenpfahl.
Mit diesem Ende wird sichtbar: die mit schönem Schaudern beschriebene Kriegssituation, das Verwirbeln von Ländern und Zeiten, war nichts als ein Spiel mit der Phantasie, ohne phantastische Einsicht. Die sich im Helden entwickelnden blauen Augen, an denen sich ein neuer Evolutionsschub andeuten soll, sind ein von Hollywood kopierter Gag und kein Anzeichen von Tiefsinn. In diesem Buch beschreibt der Autor mit knappen Sätzen offene und deshalb spannende Szenen. Solange diese tatsächlich offen bleiben, der Mörder nicht gefasst ist, das Rätsel nicht gelüftet, ist alles prima. Wenn allerdings die Rechnung tatsächlich präsentiert, der Schleier gehoben werden muss, dann ist leider klar: Selbst schuld, lest doch lieber Orwell!
besprochen von Anton Leist, Zürich2