Selbst Appenzell Innerrhoden ist heute «woke» – und das ist auch gut so
Noch vor wenigen Jahrzehnten war Homosexualität tabuisiert und die Gleichstellung der Frau in der Ehe hochumstritten. Wer sich das bewusst macht, blickt gelassener auf den heutigen Kulturkampf.
Nach einem Kundentermin fuhren wir von Zürich zurück in die Ostschweiz. Auf der Höhe von Matzingen sagte ich zu meinem damals 30-jährigen Mitarbeiter: «Ich weiss, dass du schwul bist, und es ist okay.» Für etwa zehn Minuten herrschte Schweigen. Dann sagte er: «Du bist erst der Zweite, der es weiss.» Das war vor 24 Jahren. Er wusste seit seinem ersten Kindergartenjahr, dass er nicht wie alle anderen ist.
Ich bin gerne in den 1980er-Jahren aufgewachsen. Es war ein Jahrzehnt der Möglichkeiten. Computer, MTV, tolle Filme – es gibt tausend schöne Erinnerungen, und viele davon verkläre ich auch. Aber wenn heute Leute auf Facebook behaupten, dass Schwulsein in den 80er-Jahren kein Problem gewesen sei, dann schüttle ich den Kopf. Sicher gab es viele positive Aspekte und Fortschritte gegenüber den 70er- und 60er-Jahren, aber es war auch eine Zeit, in der Homosexualität stark tabuisiert war. «Schwul» war oft ein Schimpfwort, und die meisten Menschen hatten keine Ahnung, welche sexuellen Neigungen Künstler wie Elton John, Boy George oder Freddie Mercury hatten und dass ihre Ausdrucksformen und Lieder oft versteckte Verzweiflungsschreie waren. Noch weniger wusste man über Lesben und Transsexuelle.
«‹Schwul› war oft ein Schimpfwort, und die meisten Menschen hatten keine Ahnung, welche sexuellen Neigungen Künstler wie Elton John, Boy George oder Freddie Mercury hatten und dass ihre Ausdrucksformen und Lieder oft versteckte Verzweiflungsschreie waren.»
Die Angst dieser Gruppen war berechtigt, denn Anderssein führte sofort zu Gegendruck. Als Aids aufkam, bestellte ich mit 14 Jahren ein Aufklärungsheft. Im Lehrerzimmer wurde intensiv diskutiert – nicht darüber, wie man uns zukünftige Erwachsene aufklären sollte, sondern ob man mir das Heft aus moralischen Überlegungen überhaupt geben sollte. Was folgte, war eine Diskussion in der Klasse, die eher eine Verurteilung des Themas als eine Aufklärung war, bevor man mir das Heft widerwillig gab.
Die Zeitzeugen dieser Ära sind heute noch auf SRF zu sehen und erzählen von der tiefen Unsicherheit und dem Misstrauen, welche HIV-positive Menschen und die LGBTQ+-Gemeinschaft damals begleiteten.
Blocher und die Gleichstellung
Aus heutiger Sicht ist es kaum vorstellbar, welche strukturellen Ungerechtigkeiten noch vor wenigen Jahrzehnten herrschten. Die Abstimmung über das neue Eherecht war meine erste bewusste politische Erinnerung. Als Sohn einer alleinerziehenden Mutter fand ich diesen Christoph Blocher, der ein Referendumskomitee gegen das neue Eherecht ins Leben gerufen hatte, mit seinen konservativen Parolen zum Himmel schreiend. Warum soll der Mann über das Geld der Frau verfügen, entscheiden, ob sie einen Beruf ausüben darf, und damit praktisch die Vormundschaft über sie ausüben?
Die Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht. Ich nehme an, dass mit dem Erfolg seiner drei geschäftstüchtigen Töchter auch Christoph Blocher seine Meinung zur Gleichstellung geändert hat. Auch Homosexualität ist heute weitgehend akzeptiert, und auch wenn ich zugegebenermassen meine Augen schliesse und hoffe, dass die Szene möglichst schnell vorbei ist, wenn sich in modernen Filmen zwei Männer küssen, finde ich es toll, dass es das gibt. Denn dadurch wird es für die heutige Generation selbstverständlich, dass sich queere Menschen mit derselben Selbstverständlichkeit zeigen dürfen, wie wir Heterosexuellen das tun.
Überdrehte Feministinnen
Und damit sind wir bei dem derzeit heiss diskutierten Wort: «woke». «Woke» (Englisch für aufgeweckt) bedeutet im ursprünglichen Sinn nichts anderes, als sich sozialer Ungerechtigkeiten bewusst zu werden. Und doch gibt es Aufregung über angeblich zu viel «woke». Zum Beispiel bei der Unterbrechung eines Konzerts einer weissen Reggae-Band in einer linken Berner Kulturbeiz. Statt gelassen zu reagieren und auf die unternehmerische Freiheit zu verweisen, beschwören gewisse Kreise den Untergang der Schweiz.
Ähnlich erging es in den 70er-Jahren dem Begriff Feminismus. Nüchtern betrachtet bedeutet Feminismus nichts anderes, als dass Frauen die gleichen Rechte haben sollen wie Männer. Wie kann man dagegen sein? Das fragten sich wohl auch die Gegner der Gleichberechtigung und verdrehten den Begriff bewusst ins Extreme, um ihn negativ aufzuladen. Statt seriöser Berichterstattung gab es Bilder von keifenden Frauen und überspitzte Formulierungen, damit niemand auf die Idee kommt, so sein zu wollen wie diese Frauen. Dasselbe passiert heute mit dem Begriff «woke».
Ich bin zuversichtlich
Vielleicht braucht die Gesellschaft diesen kurzen Aufschrei gegen den Wandel, damit auch die Konservativen Zeit haben, sich auf die neue Welt einzulassen. Wahrscheinlich wird in 20 Jahren die Frage, wie viele Geschlechter es gibt, genauso geklärt sein, wie es heute selbstverständlich ist, dass Frauen wählen dürfen und gleichberechtigte Partnerinnen sind.
«Vielleicht braucht die Gesellschaft diesen kurzen Aufschrei gegen den Wandel, damit auch die Konservativen Zeit haben, sich auf die neue Welt einzulassen.»
Warum bin ich zuversichtlich? In meinem Bekanntenkreis gibt es eine junge Familie, deren Kind sich ganz und gar nicht in der ihm zugedachten Geschlechterrolle verhält. Sie leben im tief konservativen Appenzell Innerrhoden. Er kam als Junge in den Kindergarten. Aber er fühlte sich in der falschen Haut und zeigte dies unmissverständlich. Eine schwierige Situation für die Eltern, die sich für ihr Kind einen einfacheren Weg wünschten. Doch sein Wunsch, ein Mädchen zu sein, war so gross, dass sie ihn trotz der Horrorvorstellung, dass ihr Kind ausgelacht, gehänselt und ausgegrenzt werden würde, als Mädchen ins zweite Kindergartenjahr gehen liessen.
Überraschenderweise kam es anders als befürchtet. Die Schule unterstützte die Veränderungen, die anderen Eltern zeigten Verständnis. Und wie reagierten die anderen Kinder? Als wäre nichts passiert. Sie nahmen ihr neues Gspänli ganz selbstverständlich an.
Hinter vorgehaltener Hand wurde sicher auch geflüstert, aber wenn wir 2024 so weit sind, dass ein Kind sich nicht selbst verleugnen muss und zu sich stehen darf, dann leben wir in einer guten Welt.