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Sekt passt nicht in Pappe

Zwei Vorschläge zur Rettung der Rechtschreibung

Es gibt Szenen von grosser symbolischer Kraft. Als am 14. Juli 1998 das deutsche Bundesverfassungsgericht der neuen Orthographie für die Schule freie Bahn gab, tranken die Urheber der Reform und Verlagsvertreter Sekt aus Pappbechern. Sekt passt nicht in Pappe, und unser Deutsch passt nicht in das Gefäss der Neuregelung. Deswegen ist der Duden des Jahres 2000 gegenüber jenem von 1996 in Hunderten von Fällen wieder zu den herkömmlichen Schreibweisen zurückgekehrt. Und die Literatur? Reclam verwendet je nach Titel die herkömmlichen oder die neuen Regeln. Klett mischt die beiden Orthographien in ein und demselben Buch, im neuen «Herrn der Ringe». Die Einheit der Rechtschreibung, die wir bis 1996 unbewusst und undankbar hatten, ist in Gefahr. Kann man diesen Zustand begrüssen? Der Redaktor, welcher den neuen orthographischen «Wildwuchs» rühmt, will doch nur soviel davon, dass die eigenen Äusserungen verständlich bleiben. Eben hier versagt die Neuregelung. Sie macht den folgenden Satz unverständlich: «Rosegger war damals wohl bekannt, aber lange nicht so berühmt wie der grosse Franzose Louis Ulbach.» Der Autor, ein Klassiker der Stilkunde, meint zwar bekannt, aber das lässt sich nicht mehr erkennen, wenn man, reformiert, auch dann wohl bekannt schreibt, wenn wohlbekannt stehen sollte. Lesen wird zum Rätselraten. Wie lässt sich die einheitliche, gute Rechtschreibung retten?

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sieht die Lösung in einem Kompromiss. Ihre Broschüre bietet nach einer kurzen Einführung eine Wörterliste, welche in vier Spalten die herkömmliche Schreibweise, die Neuregelung, Duden 2000 und den Vorschlag der Akademie zeigt. Verantwortlich ist der Linguist Peter Eisenberg, der 1998 aus der Reformkommission austrat, als die deutschen Kultusminister alle Korrekturen am Regelwerk untersagten. Nun korrigiert die Akademie: Handvoll, plazieren, sogenannt, im voraus, fleischfressend, hierzulande, behende, – sie stellt tausend Wörter und Wendungen wieder her, die abgeschafft oder grundlos verändert wurden. Und worin liegt der Kompromiss? Darin, dass einige Neuerungen übernommen werden, weil sie «keinen allzu grossen Schaden anrichten». Denkt man an Eisenbergs frühere Urteile über das Regelwerk, nämlich dass es sprachwissenschaftlich auf den Müll gehöre und dass aus der Geschichte des Deutschen kein vergleichbarer Angriff auf das Sprachsystem bekannt sei, so verwundert das Einlenken. Politische Macht hat die Akademie nicht, sie kann also ihre Stärke nur aus ihren Argumenten beziehen. Was soll ein Kompromiss, wo richtig oder falsch in Frage steht? Der Althistoriker Christian Meier, früherer Präsident der Akademie, zitiert im Vorwort Wilhelm von Humboldt über die «Grenzen der Wirksamkeit des Staates». Die Grundfrage ist also erfasst. Wer aber im Namen der Wissenschaft dem Staat seine Grenzen zeigen will, der darf nicht einmal eine halbe weisse Fahne im Gepäck haben.

Den besseren und billigeren Vorschlag bringt Reiner Kunze im Bändlein «Deutsch. Eine Sprache wird beschädigt». Er empfiehlt, die Reformschreibung als «vorübergehend gleichberechtigt» zu werten, vom nächstmöglichen Zeitpunkt an aber ganz, nicht nur in Teilen, auf sie zu verzichten. Das Büchlein sammelt die Beiträge einer Veranstaltung der Bayerischen Akademie mit Vertretern aus Wissenschaft, Literatur, Recht und Schule. Dazu kommen eine Bilanz der Reform, eine scharfe Beurteilung des akademischen Kompromisses und Zeichnungen von Paul Flora.

Wie geht es weiter? Deutschland denkt nach. «Wir hätten die Reform nicht machen sollen», sagte im April Hans Zehetmair, der bayerische Minister für Wissenschaft. Am Ende des Jahres, wenn die Reformkommission ihren nächsten Bericht vorgelegt hat, werden die Bundesländer entscheiden. Klarer würden allerdings die Verhältnisse, wenn Zeitungen und Verlage Kunzes Vorschlag folgten.

Stefan Stirnemann, geboren 1960, studierte Theologie und Klassische Philologie in Basel. Er war Lexikograph am Thesaurus linguae Latinae in München und publizierte zahlreiche Untersuchungen zu den Aporien der sogenannten neuen Orthographie.

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