Seid sportlich!
Mit dem «nationalen Zusammenhalt», permanent beschworen, wird Missbrauch getrieben. Der Bundesrat und staatsnahe Kreise kaschieren damit bloss ihre eigenen Interessen. Nicht Differenz und Dissens sind das Problem der Eidgenossenschaft, sondern voreilige Versöhnung und Pseudoharmonie.
Ich halte mich an die Aktualität und das Konkrete. Wovon ist heute in der Schweiz die Rede, wenn von «nationalem Zusammenhalt» gesprochen wird? Wer tut das? Was meint er damit? Was bezweckt er? Und hat diese Rede überhaupt noch einen Sinn?
Fallbeispiel 1: Französischunterricht und nationaler Zusammenhalt
Hätte ein ausländischer Besucher oder ein Ausserirdischer, dem der Schweizer Diskurs fremd ist, in diesen Monaten eine Schweizer Zeitung gelesen, das Schweizer Fernsehen eingeschaltet oder den Verlautbarungen der Schweizer Regierung gelauscht – er wäre bestürzt gewesen. Er hätte unweigerlich den Eindruck gewinnen müssen, das nur scheinbar ruhige und friedliche Land stehe kurz davor auseinanderzubrechen. In dramatischen Appellen warnte der Bundesrat davor, der «nationale Zusammenhalt» sei «gefährdet».1 Das Schweizer Fernsehen bot der Regierung Flankenschutz: Zu bester Sendezeit diagnostizierte es eine «Art Stellvertreterkrieg, der auf tiefgreifende Spannungen in der Schweiz hinweist».2 Die Geschäftsdatenbank des Schweizer Parlaments verzeichnet mehrere Vorstösse, die ebenfalls den «nationalen Zusammenhalt» in Gefahr sehen.3 Auch das staatsnahe Boulevardblatt «Blick» reproduzierte die alarmierten Aufrufe in fetten Lettern.
Was ist geschehen in der Alpenrepublik? Steht ein Bürgerkrieg bevor? Droht Sezession? Will der Kanton Basel-Stadt der EU beitreten? Hat das Tessin den Anschluss an die Lombardei beschlossen? Oder verrichtet, unbemerkt von der in der Sommerhitze dösenden Öffentlichkeit, die fünfte Kolonne einer fremden Macht ihre heimlich-unheimliche Wühlarbeit?
Nichts dergleichen. Der ausländische Betrachter oder der Alien von einem andern Stern werden sich wundern: Anlass für diese vielstimmige Rhetorik höchster Eskalationsstufe ist die Absicht einiger Deutschschweizer Kantone, ein bisschen früher mit dem Englischunterricht zu beginnen – früher als mit dem Französischen, also einer der offiziellen Landessprachen. Manche Kantone erwägen, das sogenannte Frühfranzösisch in der Primarschule zu streichen und – wie noch vor wenigen Jahren üblich – erst ab der Oberstufe eine zweite Landessprache zu unterrichten.
Gefährdet dieses Ansinnen, wie der sozialdemokratische welsche Innenminister Alain Berset und mit ihm der Gesamtbundesrat mahnen, tatsächlich «den nationalen Zusammenhalt und die nötige Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften»? Driften die Landesteile auseinander, wenn ein Schaffhauser Drittklässler «That’s an apple» sagt, bevor er «C’est une pomme» buchstabiert? Was taugt das Argument des «nationalen Zusammenhalts» im vorliegenden Fall?
Die nüchterne Antwort ist: nichts. Denn erstens ist durch zahlreiche, auch internationale Studien erwiesen – und jeder ehrliche Lehrer wird es bestätigen –, dass die aufwendige Einführung des frühen Fremdsprachenlernens keinen messbaren Erfolg gezeitigt hat.4 Schon nach wenigen Monaten in der Oberstufe ist der Vorsprung jener Schüler, die bereits in der Primarschule mit einer Fremdsprache begonnen haben, gegenüber jenen Kameraden, die kein Frühfranzösisch (oder Frühenglisch) genossen haben, dahingeschmolzen. Fakt ist: der Unterricht ist schlicht zu wenig intensiv, um nachhaltig zu sein. At the end of the day – pardon! – können die beiden Vergleichsgruppen gleich viel. Darauf – und nur darauf – kommt es schliesslich an. Sogar das Sprachengesetz, das die Hüter des «nationalen Zusammenhalts» zur Untermauerung ihrer Appelle gern bemühen, verlangt in Artikel 15, Absatz 3 explizit, «dass die Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit über Kompetenzen in mindestens einer zweiten Landessprache und einer weiteren Fremdsprache verfügen».
Placebopolitik
Zweitens sei die Frage erlaubt: Gesetzt den Fall – und das ist wahrscheinlich schon heute vielfach so –, dass künftige Generationen von Schweizer Schulabgängern allenfalls etwas besser Englisch sprechen als eine zweite Landessprache: Wäre das eine Katastrophe, eine ernsthafte Belastung für den «nationalen Zusammenhalt»? Natürlich nicht. Diese angebliche Gefahr wird heute, angeführt von Bundesrat Berset, vor allem von Vertretern aus der Romandie beschworen. Dass ihre Befürchtungen gegenstandslos sind, belegt das Beispiel des Tessins: Nach Bundesratslogik müsste der Südkanton längst weggedriftet und unrettbar entfremdet sein von den übrigen Landesteilen. Denn wer lernt in letzteren in der Primarschule Italienisch? Wer lernt in seiner Schulkarriere überhaupt noch Italienisch? Nur eine verschwindend kleine Minderheit. Dennoch ist das Tessin so sicher und fest mit der Restschweiz verbunden wie eh und je.
Noch deutlicher macht es das Exempel des Rätoromanischen: Die Sprache wird weder auf Unter- noch Oberstufe ausserhalb ihres Einzugsgebiets gelehrt. Trotzdem kommt es niemandem – nicht einmal dem Bundesrat – in den Sinn, deshalb einen nationalen Zusammenhaltsnotstand auszurufen.
Fazit: Die Rede von einer «Gefährdung des nationalen Zusammenhalts» im Kontext der Französischdebatte entbehrt jeder nachvollziehbaren Grundlage. Rhetorik und Realität sind entkoppelt. Der Ruf nach Frühfranzösisch als Klammer der Nation ist Placebopolitik. Den Schülern und damit auch dem «nationalen Zusammenhalt» – was immer damit gemeint ist – bringt es erwiesenermassen nichts.
Fallbeispiel 2: Die SRG und ihre «idée suisse»
Platz zwei in der aktuellen Rangliste jener Gruppen, die am häufigsten mit dem «nationalen Zusammenhalt» hantieren, belegen die Repräsentanten der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) und deren Fürsprecher in Bundesbern. «Der nationale Zusammenhalt ist nie für alle Zeiten erworben, wir müssen ihn uns jeden Tag neu verdienen», schreibt SRG-Präsident Raymond Loretan im Geschäftsbericht 2013. Wodurch dieser «nationale Zusammenhalt» erworben wird, macht der SRG-Präsident gleich selber klar: angeblich durch seine SRG. Ins gleiche Horn stösst Generaldirektor Roger de Weck. Von der zweifelhaften Zwangsabgabe, die jeder Haushalt und jedes Unternehmen – mit Ausnahme der SRG-Mitarbeiter – entrichten muss, egal, ob sie das SRG-Angebot nutzen oder nicht, sagt de Weck: «Die Gebühr von 462.40 Franken ist auch eine Investition in den eidgenössischen Zusammenhalt.»5 Indem die SRG SSR idée suisse, wie sie sich marketingtechnisch geschickt mit vollem Namen nennt, die Mehrsprachigkeit der Schweiz zu ihrem Label macht, behauptet sie zugleich, diese schweizerische Grundidee zu verkörpern und zu garantieren.
Im Bundeshaus findet diese Position durchaus Zuspruch. Das Parlament sprach sich für die neue Gebührenordnung aus. Stellvertretend die Aussage der CVP, der Partei von SRG-Präsident Loretan: Für sie ist der sogenannte Service public, im Medienbereich repräsentiert durch die SRG, «ein wichtiger Pfeiler der Politik und des nationalen Zusammenhalts». Ohne Zwangsgebühren, ohne Staats- und Regiebetriebe keine Schweiz? Das liegt genau auf der De-Weck-Linie: Die SRG schlage Brücken zwischen den Landesteilen und trage so zur «legendären Schweizer Stabilität» bei, schreibt der Generaldirektor. «Der Service-public-Gedanke ist aktueller und nützlicher denn je.»
In Tat und Wahrheit stand die SRG noch nie so stark unter Legitimationsdruck wie heute. Es gehen laufend neue private Fernsehkanäle auf Sender. Zugleich nimmt das Streamingangebot im Internet rasant zu. Weiter geschwächt wird die privilegierte Position der SRF-Sender durch ihre eigene Programmpolitik: Diese gleicht sich mimetisch der privaten Konkurrenz an. Das Schweizer Radio und Fernsehen kopiert eifrig, wovon es sich stolz zu unterscheiden behauptet: den «Boulevard» (de Weck) der Privaten. Seien es amerikanische Serien, seien es neudeutsch «Free-TV-Premieren» genannte Erstausstrahlungen von Hollywood-Blockbustern (die mit Gebührengeldern im Bieterverfahren den Privaten weggeschnappt werden), seien es Casting-Formate wie «The Voice of Switzerland» und so weiter. Das alles können die Privaten auch. Es braucht dazu keinen Gebührensender.
Achtung, Schwurbelgefahr!
Ob Frühfranzösisch oder SRG: Beide Objekte, die inflationär mit dem «nationalen Zusammenhalt» in Verbindung gebracht werden – wobei als Schreckbild stets der nationale Schiffbruch, Desintegration und Auseinanderbrechen der Landesteile durchschimmern –, sind durch dieselbe Dysfunktion gekennzeichnet: Sie leiden an Realitätsanämie und kompensieren das Manko mit rhetorischer Hochrüstung. Hand aufs Herz, Monsieur Berset, Hand aufs Herz, Herr de Weck: Es braucht weder Frühfranzösisch noch die SRG, um den «nationalen Zusammenhalt» der Eidgenossenschaft zu garantieren. Deren Fortbestand hängt nicht ab von zwei Wochenstunden Französisch mehr oder weniger. Und auch nicht von den Programmen des Schweizer Radios und Fernsehens.
Man lerne: Wenn von «nationalem Zusammenhalt» die Rede ist, dann ist Vorsicht geboten. Es gilt erhöhter Schwurbelalarm.
Wozu dann aber die ständige Beschwörung einer Leerformel? Sie dient der Legitimation eigener Interessen. Beim Sprachenstreit geht es ganz handfest darum, dass der Bund seine Kompetenzen gegenüber den Kantonen durchsetzen will, die bis anhin die Bildungshoheit für sich beanspruchten. Ähnlich bei der SRG: Je obsoleter sie wird, je mehr ihre Legitimation schwindet, desto abstrakter und hochfliegender die Begründung ihrer kaum mehr zu begründenden Sonderstellung. «Nationaler Zusammenhalt»: Das ist in beiden Fällen die ultimative Überfliegerformel jener, die keine bodennahen, faktenbasierten Argumente haben.
Dissens statt Konsens ist gefragt
Die Diskussion um das Verhältnis der Landesteile gehört zum Multikultipaket Schweiz wie die Gletscher zu den Alpen. Spannungen kommen immer wieder vor. Die Minderheiten reagieren sensibel. Als die «Weltwoche» vor zwei Jahren gestützt auf Studien und Statistiken, darunter eine Untersuchung der Universität Lausanne, signifikante Unterschiede zwischen der Deutschschweiz und der Romandie hinsichtlich Arbeitsleistung, Budgetdisziplin, Verrentung feststellte, brach ein Westwind der Entrüstung los.6 Hunderte von Lesermeldungen, eilig einberufene Talkshows, Schlagzeilen auf den Zeitungsfrontseiten, besorgte Experten und Politiker, die wieder einmal den «nationalen Zusammenhang» in Gefahr sahen, waren die Folge. Sogar die damalige Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) mischte sich ein und verbat sich derartige Vergleiche.
Die schlichte Auflistung von Tatsachen wird als unziemlich empfunden. Die Pseudoharmonie will nicht gestört werden. Die Linienrichter der politischen Korrektheit ziehen wie auf Kommando ihr Fähnlein hoch. Die Anmahnung des «nationalen Zusammenhalts» sollte auch in diesem Fall eine missliebige Diskussion unterbinden. Die Fakten störten einen nationalen Konsens, den es in der beschworenen Form allerdings gar nicht gibt.
Meine These ist: Die Schweiz verträgt viel mehr Dissens, mehr Widerspruch, mehr Wettbewerb, mehr Ungleichheit auch, als jene glauben machen wollen, die bei jeder Abweichung von einer supponierten Eintracht oder auch nur von ihren eigenen Massstäben gleich den «nationalen» oder wahlweise auch den «sozialen Zusammenhalt» bedroht wähnen. Seid sportlich! Nehmt die Diskussion auf! Lieber Vielfalt statt Einfalt.
Heisst das: Alles kein Problem? Ist die Kategorie des eidgenössischen Zusammenhalts eine blosse Fiktion? Nein. Fest steht bisher nur: Sie ist nicht an Primarlehrpläne, Fernsehgebühren und harmlose Zeitungsartikel gebunden. Es gibt diese Unterschiede zwischen den Landesteilen – übrigens nicht nur zwischen Deutschschweiz und Romandie, sondern auch innerhalb der lateinischen Schweiz. Jüngstes Beispiel aus der Politik: Während die welschen Kantone am 9. Februar 2014 die Masseneinwanderungsinitiative ablehnten, stimmte ihr das Tessin mit grosser Mehrheit zu. Doch niemand bezweifelt deshalb die Kohäsion der lateinischen Schweiz.
Es gibt also Unterschiede – punkto Lebensführung, Mentalität, politischer Präferenz –, und das ist gut so. Die besorgten Appelle an den «nationalen Zusammenhalt», die nach jeder Abstimmung mit sprachkulturellen Differenzen und nach jeder Diskussion über angebliche oder tatsächliche Verschiedenheiten der Landesteile aufflammen, sind jedoch Stürme in Süsswassertümpeln. Harmlos wie ein Sommerregen.
Berner Machtkartell und falsche Konkordanz
Die voreilige Versöhnung (frei nach Ludwig Hohl): man könnte sie das helvetische Malaise nennen. Das gilt auch für die hohe Berner Politik. Die Regierung ist aus dem Lot. Seit der Abwahl des SVP-Idols Christoph Blocher aus dem Bundesrat ist die bewährte Konkordanz beschädigt. Das Prinzip, wonach die massgeblichen politischen Kräfte in die Kollegialregierung eingebunden werden, ist auf den Kopf gestellt. Die mit Abstand wählerstärkste Partei der Schweiz, die SVP, ist untervertreten. Das Mitte-links-Kartell, das diese offenkundige Konkordanzverletzung verantwortet, versucht sich in Schuldumkehr und beschwört eine falsche Harmonie: «Ihr seid anders, ihr geht nicht mit uns im Gleichschritt, also müsst ihr draussen bleiben», lautet die Botschaft der Mitte-links-Allianz an die Adresse der Volkspartei. Ein bekannter Mechanismus: der Ausgeschlossene wird für den Ausschluss auch noch selber verantwortlich gemacht.
Der Befund bleibt mithin derselbe: Auch hier gilt, dass die Berufung auf eine ideologische Einheit und weltanschauliche Homogenität («inhaltliche Konkordanz») dazu dient, eigene Interessen und Machtansprüche durchzusetzen. Ich bleibe darum dabei: Ein sportlicherer Umgang mit dem Andersdenkenden würde gewiss auch im Bundesrat nicht schaden. Wo «Harmonieverein» draufsteht, muss man besonders genau hinhören. Wie heisst es bei Schiller/Beethoven: «O Freunde, nicht diese Töne!»
Volksabstimmung als Differenzventil
Ruhestörer, die Differenzen sichtbar machen – möglicherweise auch unbequeme –, werden mit dem Verweis auf «Konkordanz» und «Kollegialität» (Bundesrat), «Zusammenhalt» (Sprachregionen), «Gleichheit/Gerechtigkeit» (Gesellschaft) ruhiggestellt. Das sind alles soziale Kategorien, die im Zweifelsfall freiheitsfeindlich ausgelegt werden. Einheit statt Vielfalt, Masse statt Individuum. Wettbewerb der Ideen, der Kräfte, des Kapitals: «Nein, danke.» In diesem Sinn erscheinen auch die bei Volksabstimmungen immer wieder sichtbar werdenden unterschiedlichen politischen Vorlieben der Deutschschweizer und der Romands («Röstigraben») als Belastungsprobe für die Eidgenossenschaft. Unterschiede: unerwünscht.
Ich halte dagegen: Das Röstigraben-Lamento, ein Dauerbrenner in der Geschichte der modernen Eidgenossenschaft, verkennt die tieferen Zusammenhänge. Volksentscheide, auch jene, die deutliche Differenzen zwischen den Landesteilen und Sprachregionen markieren, gefährden den Zusammenhalt nicht, sie kitten ihn. Schlimm wäre es, wenn sich Unterschiede nicht artikulieren könnten. Die demokratischen Spielregeln sind allen bekannt – und sie sind von allen anerkannt. Eine etablierte Demokratie – und das ist die Schweiz, trotz allem – wird durch die gemeinsame Partizipation niemals geschwächt, sondern gestärkt werden. Das gilt besonders für die direkte Demokratie, die einen Wesenskern der Eidgenossenschaft ausmacht. Die Volksabstimmung ist ein Differenzventil. Sie baut nicht Spannungen auf, sie baut diese ab. Am Ende gehört das, was als Problem des «nationalen Zusammenhalts» zwischen den Landesteilen diskutiert wird, in die Abteilung «Narzissmus der kleinen Differenz» (Sigmund Freud). Sofern darin Sensibilitäten einer Minderheit gegenüber einer Mehrheit zum Ausdruck kommen, sind diese zu respektieren. Die Substanz ist davon nicht betroffen.
Aber worin besteht diese Substanz? Was hält die moderne Eidgenossenschaft zusammen? Es sind – neben dem wirtschaftlichen Erfolg, der auf einer vergleichsweise liberalen Wirtschaftsordnung und einem vergleichsweise stabilen Rechtsrahmen beruht – genau jene direktdemokratischen und föderalistischen Institutionen, die Differenz zulassen, ja fördern. Gerade weil sie von unten (vom Bürger her) und dezentral (Gemeinden, Kantonen) organisiert ist, hat die Schweiz Bestand. Unter dem Strich ist es eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung – Röstigraben, Polentagraben, und was der Gräben mehr sein mögen, hin oder her. Die Landesteile bleiben zusammen, weil sie zusammenbleiben wollen. So einfach ist das. Man nennt das «Willensnation».
Keiner hat das treffender beschrieben als der Diplomat und Buchautor Paul Widmer («Die Schweiz als Sonderfall»). Der Wille, der die Nation mit ihren unterschiedlichen Sprachen und Konfessionen zusammenhält, müsse freilich auf etwas gerichtet sein, betont Widmer. «Und was ist das in der Schweiz? Ganz schlicht: die Freiheit. Die Deutschschweizer und die Welschen, die Tessiner und die Rätoromanen, sie alle bilden eine Nation, um ein Maximum an politischer Freiheit zu geniessen. Sollte die Freiheit in der Schweiz nicht mehr höher sein als in den Ländern ringsum, wäre die Willensnation gefährdet.»
Was viele auch im eigenen Land für überholt halten und zu überwinden trachten – den Schweizer Sonderfall bzw. den Sonderfall Schweiz –, bleibt damit hochaktuell. Der luzide liberale Historiker Herbert Lüthy hat in einem in den «Schweizer Monatsheften» publizierten Essay von der Schweiz als «Antithese» zu den europäischen Grossstaaten und dem Einheitseuropa der EU gesprochen. Wäre sie das nicht: Was hielte die Genfer noch in der Schweiz? Was die Tessiner? Vermutlich sind die Romands heimlich sogar froh, dass ihnen die Deutschschweizer den Anschluss an die Europäische Union verbauen. Im Wissen, dass die Deutschschweiz das niemals zulassen wird, dürfen die Welschen mit Brüssel flirten, unverbindlich und ohne die politischen Konsequenzen eines Beitritts, die sie, gälte es wirklich ernst, vielleicht nicht einmal selber tragen möchten.
Die magnetische Kraft der Schweiz
«Der antizentralistische Affekt kittet die Nation zusammen», formuliert Paul Widmer. Solange die Schweiz politisch und wirtschaftlich ein Erfolgsmodell bleibt – solange sie also grösstmögliche Bürgerfreiheit und Wohlstand ermöglicht –, werden die zentrifugalen Kräfte minim bleiben. Lichtjahre entfernt davon, dass sich Landesteile abspalten, strahlt die Attraktivität des schweizerischen Staatsaufbaus vielmehr von unten auch in die Nachbarländer aus. In einer repräsentativen Umfrage, die ich im Juli 2010 in der «Weltwoche» publizierte (Nr. 28/10), sprach sich eine Mehrheit in den grenznahen Regionen Baden-Württemberg, Savoyen/Hochsavoyen, Como/Varese und Vorarlberg explizit für einen Beitritt zur Schweiz aus. Das ist natürlich keine realistische Option, aber es zeigt die Bedürfnisse der Bevölkerung – wenn sie denn gefragt wird. Als Hauptvorteil der Schweiz werteten die befragten Deutschen, Franzosen, Italiener und Österreicher die direkte Demokratie und die relativ tiefen Steuern.
Der Schluss drängt sich auf: Wenn die Raison d’être der Eidgenossenschaft, das, was sie im Innersten zusammenhält, die freiheitlichen Sonderfallwerte der direkten Demokratie, des Föderalismus, der Gemeindeautonomie sind, denen gegen aussen Unabhängigkeit und Neutralität entsprechen, dann attackiert diesen eidgenössischen Kristallisationskern, wer direkte Demokratie, Föderalismus, Gemeindeautonomie, Unabhängigkeit und Neutralität zur Disposition stellt. Das tun nicht die Bürger, auch nicht die Bürger bestimmter Landesgegenden. Es sind massgebliche Teile der Elite in Verwaltung und Politik – vom diplomatischen Korps über die Kader gewisser Parteien bis zum Bundesrat. Ausgerechnet sie beschädigen, was sie zu repräsentieren und zu schützen vorgeben: die Eidgenossenschaft, die vor allem eines zusammenhält – der Freiheitswille ihrer Bürger.
1 Antwort des Bundesrats vom 12.2.2014 auf die Interpellation Reynard, Nr. 13.4079.
2 SRF 1, «Kulturplatz», 16.4.2014.
3 Jüngst: Interpellation Raphaël Comte, Nr. 14. 3153 («Erlernen einer zweiten Landessprache im Schulunterricht. Wann ist die Pause zu Ende?»). Interpellation Christian Levrat, Nr. 14. 3287 («Stärkung des inneren Zusammenhalts der Schweiz»). Mathias Reynard («Einhaltung des Sprachengesetzes. Französischunterricht und nationaler Zusammenhalt», s. Anm. 1). Motion Theo Maissen, Nr. 10.3055 («Fernsehkanal zur Stärkung des nationalen Zusammenhaltes und der gegenseitigen Verständigung»). Motion Hans Stöckli, Nr. 10.3317 (zum gleichen Thema).
4 Siehe diverse Arbeiten von Prof. Christián Abello-Contesse, Universität Sevilla. Neben dem Team um Professor Abello-Contesse hat sich eine Forschergruppe an der Universität Barcelona auf das Thema Frühförderung spezialisiert. Die Language Acquisition Research Group (GRAL; www.ub.edu/GRAL) untersucht die Auswirkungen, die das Einstiegsalter auf den Erwerb einer Fremdsprache hat. Marianne Nikolov, Professorin an der Universität Pécs in Ungarn, wollte herausfinden, ob Schüler, die früher mit Englisch begonnen haben, bessere Kenntnisse vorweisen als solche, die erst später anfingen. Dazu hat sie Tests im sechsten und zehnten Schuljahr durchgeführt. Ihr Schluss: Die Wirkung ist bestenfalls «schwach». Selbst wer schon im Kindergarten Englisch gelernt habe, könne «keinerlei Vorteil» aufweisen. Als «Befürworterin» eines frühen Fremdsprachenunterrichts habe sie «mehr» erwartet. Die Ergebnisse schienen «die Effizienz der Frühförderung in Frage zu stellen». Die jüngsten Studien bestätigen Experimente seit den siebziger Jahren. Oller und Nagato (1974), Ekstrand (1976) oder Burstall (1976) sind in grossangelegten Experimenten zu denselben Resultaten gekommen: Fremdsprachenunterricht an der Primarschule bringe wenig.
5 Roger de Weck: «Wozu Service public? Vier Antworten». In: SRG-SSR-Geschäftsbericht 2013, S. 5.
6 Weltwoche Nr. 9/12 («Mediterraner Schlendrian»).