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Schweizer Literatur in Kurzkritik XIV

12 Bücher, vorgestellt in der vierzehnten Folge der «Schweizer Literatur in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

Akribische Mordsarbeit

Ed McBain, der in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den modernen Polizeiroman erfand, stellte jedem Fall seiner Kriminalisten vom 87. Revier eine Erklärung voran. Zwar seien sowohl die Figuren als auch der Schauplatz der Handlung erfunden, die geschilderte Polizeiarbeit jedoch beruhe auf bewährten Ermittlungsmethoden. Einen derartigen Authentizitätsanspruch weist Roger Graf, dem wir unter anderem die Hörspielreihe «Die haarsträubenden Fälle des Philip Maloney» verdanken, weit von sich. Wenn Damian Stauffer, frisch im Amt als Leiter der Abteilung Kapitalverbrechen bei der Zürcher Kriminalpolizei, und sein Team einen Mordfall aufklären, solle man nicht den Fehler begehen, die Nachforschungen der fiktiven Ermittler mit «realer Polizeiarbeit» zu verwechseln oder zu vergleichen, warnt ein Hinweis zu Beginn der in kurzem Zeitabstand erschienenen ersten zwei Romane der neuen Serie.

Mag die Sorge des Autors um den Wirklichkeitssinn seiner Leser zunächst kurios anmuten, so erscheint sie nach der Lektüre beider Krimis als durchaus berechtigt, schildern diese doch, manchmal in quälender Ausführlichkeit, die mühevolle und häufig frustrierende Suche nach Indizien und Zeugen. Da gibt es keinen Superdetektiv, der – wahlweise mit ungeheurer Intui-tion oder einem messerscharfen Intellekt gesegnet – dem Mörder auf die Schliche kommt. Stattdessen werden Theorien aufgestellt und wieder verworfen, ganze Ermittlungsstränge erweisen sich als falsch, und manchmal muss der Zufall den ratlosen Kriminalisten zu Hilfe kommen. Und das kann dauern. In «Die Frau am Fenster», dem ersten Roman der Reihe, nimmt die Schilderung der weitgehend fruchtlosen Polizeiarbeit mehr als dreihundert Seiten in Anspruch, bis ein Anruf die Ermittler auf die richtige Fährte setzt. Dass es trotzdem nur selten langweilig wird, verdankt sich Grafs Fähigkeit, Interesse für seine Figuren, ob Polizisten oder Zeugen, zu wecken. Da fällt es nicht so sehr ins Gewicht, dass die Geschichte um die Aufklärung zweier scheinbar unverbundener Mordfälle am Ende doch recht konstruiert wirkt.

Erheblich komplexer, und seltsamerweise überzeugender, gestaltet sich dagegen die Handlung des zweiten Romans, «Der Mann am Gartenzaun». Was hat das Skelett eines offenbar gewaltsam ums Leben gekommenen jungen Mannes mit dem Fall eines jungen Mädchens zu tun, das vor vielen Jahren spurlos verschwunden ist? Während Stauffers Team mühsam versucht, die Identität des Toten herauszubekommen, haben andere längst eine Ahnung, um wen es sich handelt, und hoffen, aus ihrem Wissen Kapital schlagen zu können. Wir Leser erfahren dies durch eingestreute anonyme Erzählpassagen in erlebter Rede, einer Technik, die sich im Genre, weil spannungssteigernd, ausgesprochener Beliebtheit erfreut. Dass Graf auch gerne einmal Verwirrung stiftet, indem er die Gebote erzählerischer Fairness sehr grosszügig auslegt, spricht ebenfalls nicht gegen diesen Kriminalroman, der von den angekündigten weiteren Bänden der Reihe einiges erwarten lässt.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

Roger Graf: Die Frau am Fenster. Bielefeld: Pendragon, 2008. Der Mann am Gartenzaun. Bielefeld: Pendragon, 2008.

Ein paar Nuggets, viel Sand

Nach «Ein Vorort zur Welt» legt der mittlerweile 62jährige Jochen Kelter eine weitere Aufsatzsammlung vor, die meisten Arbeiten aus den Jahren 1982 bis 1989. Man nimmt das aussergewöhnlich schön aufgemachte Buch gerne zur Hand, gespannt auf weithin unbekannte Texte aus der Feder des gebürtigen Kölners, der im Lauf der Jahrzehnte zum Alemannen geworden ist. Die anfängliche Spannung lässt jedoch rasch nach und macht einem anderen Zustand Platz: einer sich von Seite zu Seite steigernden Enttäuschung.

Immerhin – dass Jochen Kelter geschliffen zu formulieren versteht, dass er, darüber hinaus, auch in seinen Essays und Reflexionen durchaus poetisch werden und zu einer Sprache finden kann, die über den Anlass des jeweiligen Textes und über den Tag hinaus trägt und gültig bleibt, das spürt man gelegentlich auch hier. Sehr gelegentlich allerdings – denn es wird überlagert von larmoyantem Lamentieren über das eigene Schicksal und über die politischen Zeitläufte. Kelter verliert sich in Details seiner stets politisch-symbolisch überhöhten und oft doch nur höchstpersönlichen Lebensgeschichte. Trotz aller zu oft behaupteten Weltläufigkeit spricht hier über weite Strecken ein im schlechtesten Sinne provinzielles Ich, das mit tief empfundenen Kränkungen aus der Studentenzeit und misslichen lokalen Gegebenheiten aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts offenbar bis heute nicht fertiggeworden ist. Wer will lesen, wie die Reste der Studentenbewegung am Bodensee «versandeten und verschlidderten»? Wen interessieren die damaligen Zweifel der deutschen Behörden an der Verfassungstreue des Bürgers K.? Das alles ist lange her. Was ist seither passiert? «Ich bin dageblieben. Man wird sogar grau. Und auch sonst.» Dass es in der «BRD» vor 35 Jahren «Berufsverbote» gab, weiss man, ohne dass es der mühsamen Lektüre langweiliger Passagen aus der Akte K. bedürfte. Die sie abschliessende Selbststilisierung indes – der arme K. ist inzwischen aus Deutschland in die Schweiz gezogen – grenzt an Beleidigung aller Opfer von Verfolgung und staatlicher Gewalt: «Ich wohne diesseits der Grenze, ich wohne jenseits der Grenze. Ich wohne mit dem Kopf drüben und mit dem Herz herüben. Ich gehe hinüber über die Grenze ins Exil. Ich kehre heim über die Grenze ins Exil. Hier bin ich zu Hause». Hat auch schon mal bessere Zeiten erlebt, das Exil. Man kann Begriffe auch bis zur Unerträglichkeit verwässern.

Wohlfeile lokalpolitische Entrüstungsaufsätze dürften ein paar Leser in und um Konstanz interessieren, abseitige Leitartikel wie «Kurze Einladung zum Verlassen der Heimat» nicht einmal diese. Sogar die unerhörte Tatsache, dass man ihn einmal in der deutschen Botschaft in Bern warten liess, ist Kelter drei Buchseiten wert. Am Schluss des Bandes stehen «Ein paar Einwürfe zur Geschichte der BRD von den Siebzigerjahren zur Gegenwart», die seine Abscheu vor Deutschland, seinen Antiamerikanismus und seinen grundsätzlichen Kulturpessimismus auf den neuesten Stand bringen. Das alles kann man beiseite lassen. Dazwischen findet man die erwähnten lesenswerten Seiten, auf denen es in vielfacher Variation um Kelters allerdings auch nicht mehr ganz taufrisches Lieblingsthema «Heimat» geht, historisch unterfüttert, politisch akzentuiert und bisweilen ins Poetische gleitend. In Texten wie dem über die Stadt Meersburg oder dem über den Militärfriedhof von Sigolsheim im Elsass blitzen die andernorts vielfach bewiesenen Qualitäten des Autors auf. Für ein ganzes Buch ist das entschieden zu wenig.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Jochen Kelter: «Ein Ort unterm Himmel. Leben über die Grenzen – Essays und Texte». Frauenfeld: Waldgut, 2008.

Die tapfere Schneiderin

Jeder findet irgendwann seine eigene Strategie, mit den grossen Ungerechtigkeiten des Lebens und den kleinen Banalitäten und Grausamkeiten des Alltags zurechtzukommen. Die Schneiderin Jolie zum Beispiel, nur auf den ersten Blick «adrett und einigermassen langweilig», baut im geheimen kuriose Luftschlösser. Tagtäglich über Hosensäume und Kostümjacken gebeugt, macht sie sich voller Lust die bösesten Gedanken: über den Baufachexperten Fischbacher mit den weinroten Unterhosen, der mit Schüttelbrot um sie wirbt, über den «ringkampfmässigen Rücken von Frau Kuster» und die hässlichen Müller-Zwillinge in ihren lilafarbenen Hängerchen. Erbarmungslos lässt Jolie ihre Gedanken nicht nur um die rücksichtslose Anatomie ihrer Kundschaft kreisen; auch ihre eigene Familie, die demente Mutter, der versteinerte Vater und die verschrobenen Geschwister, umspannt sie mit grotesken Phantasiespielen. Dabei ist es ein heikler Balanceakt nahe am Abgrund, den die Schneiderin hier aufführt. Denn ihre kindliche Lust an Träumereien, an Tarnung und Verstellung hat sie im Laufe der Zeit in ein dichtes Netz aus nur scheinbar harmlosen Lügengeschichten verstrickt.

Eines Tages dann droht die Traumblase zu zerplatzen. Die Realität schleicht sich durch ein mysteriöses, im elterlichen Schrank verstecktes Paket in Jolies Leben zurück. Drohend taucht aus dem Dunklen eine Frage auf, die das Rattern der Nadel aus dem gewohnten Gleichtakt bringt: Und wenn Franz gar nicht ertrunken wäre? Gleichermassen fasziniert wie verschreckt von der Vorstellung, der totgeglaubte Bruder könnte noch am Leben sein, macht sich Jolie auf eine abstruse Reise, nach Ecuador, in die Weiten des Internet und schliesslich in die eigene Vergangenheit. Die staubbedeckten Familiengeheimnisse, die sie dabei zutage fördert, helfen ihr nicht gerade dabei, einen kühlen Kopf zu bewahren. Dabei ist Jolie eigentlich völlig mit den aufwendigen Vorbereitungen für die grosse Feier beschäftigt, die sie anlässlich des 80. Geburtstags ihrer Eltern plant.

Wunderbar lakonisch geht es in Angelika Waldis’ Romandebüt «Die geheimen Leben der Schneiderin» zu; ihrer erfrischend eigenwilligen Protagonistin legt sie die schönsten Sätze in den Mund wie «Beim Aufstehen fällt Gewicht vom Hintern» oder «Mann und Frau sind wie Knopf und Knopfloch. Der Knopf reisst meistens früher». Gleichzeitig beweist die Autorin einen ausgeprägten Sinn für den Ernst und die Tragik des Lebens. Ihre Geschichte einer Familie, deren Grundfesten durch das dramatische Verschwinden des ältesten Sohnes zutiefst erschüttert werden, ist kunstfertig und klischeefrei auf 160 Seiten erzählt. Dass am Ende dann doch noch das allgemeine Gelächter über diese menschliche Tragödie, das Schweigen und die emotionale Erstarrtheit triumphiert, ist kein leichtfertiges Happyend, aber ein schönes Zeichen dafür, wie köstlich absurd das Leben sein kann.

vorgestellt von Alice Werner, Zürich

Angelika Waldis: «Die geheimen Leben der Schneiderin». Zürich: Kein & Aber, 2008.

Synagogen bauen in der Schweiz

Es war der Landvogt von Baden, der Mitte des 18. Jahrhunderts den Juden erlaubte, sich in Endingen und Lengnau niederzulassen und der damit am Beginn eines besonderen Kapitels Schweizer Architekturgeschichte steht – des Synagogenbaus. 1750 wurde in Lengnau die erste Synagoge in der Schweiz gebaut, ein schlichter, nach Osten ausgerichteter, verputzter Fachwerkbau mit einem fast quadratischen Grundriss, der nicht als Synagoge erkennbar war. Schon die kurz danach entstandene Synagoge von Endingen war ein barockes Gebäude mit einem Portikus an der Fassade und mit hohen Rundbogenfenstern. Immer grösser und immer aufwendiger wurden die Synagogen; denn sie spiegelten das zunehmende Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinden. In der Entstehungs- und Baugeschichte der Schweizer Synagogen lässt sich auch «die Emanzipationsgeschichte der jüdischen Bevölkerung» verfolgen, so der Architekt Ron Epstein-Mill in seiner Einleitung zu einem Prachtband über Synagogen der Schweiz.

Die rechtliche Gleichstellung der Juden vollzog sich in der Schweiz später als in den Nachbarländern, und deshalb orientierten sich die bauwilligen Gemeinden an schon andernorts entstandenen Synagogen. Der Synagogenarchitektur in der Schweiz kommt so keine baugeschichtliche Vorreiterrolle zu, doch sie veranschaulicht die bürgerliche und politische Emanzipation; denn schon die Erlaubnis, eine Synagoge zu bauen, wurde manchmal zum politischen Prüfstein. Die meisten der 21 Synagogen in der heutigen Schweiz sind zwischen der Mitte des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, und sie gehören zwei Bautypen an: Zentralbau im deutschsprachigen Raum und Langhausbau im französischsprachigen Gebiet, wobei die Kuppel bis in die Moderne hinein das bestimmende Merkmal der Synagoge blieb. Wie Epstein-Mil ausführt, reflektierte der Synagogenbau auch die Ausbildung der jeweiligen Architekten, die bis zur Gründung der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich 1855 vor allem aus Deutschland kamen. Durch die Berufung von Gottfried Semper als Professor für Architektur an die ETH, blieb der deutsche Einfluss erhalten, denn seine Dresdner Synagoge von 1840 galt als Vorbild für den Zentralbau ebenso wie für die innere Ausschmückung im maurischen Stil – und noch in der sephardischen Synagoge Hekhal Haness von Genf aus dem Jahr 1972 sind trotz der entschieden modernen Bausprache Sempers Spuren zu erkennen.

Anders als in Deutschland sind in der Schweiz die meisten Synagogen erhalten geblieben, und ihre Restaurierung spiegelt ihrerseits den Umgang der jeweiligen Gemeinden mit ihrer Geschichte wider. Auch deshalb will Ron Epstein-Mil «die Synagogen als Metaphern der Veränderung der jüdischen Gesellschaft» verstehen, und er benutzt die einschlägigen Begriffe «Emanzipation», «Assimilation» und «Akkulturation» als «Mittel zur Kategorisierung spezifischer Verhaltensmuster», die er in der Architektur manifestiert sieht. So verbindet er Architektur- und Kulturgeschichte, wenn er die Synagogen detailliert beschreibt, und er untersucht die identitätsstiftende Funktion des Synagogenbaus. Damit hat er nicht nur ein Kapitel jüdischer Geschichte geschrieben, sondern auch eine einzigartige Studie zur Schweizer Architektur geschaffen.

vorgestellt von Stefana Sabin, Frankfurt a.M.

Ron Epstein-Mil: «Die Synagogen der Schweiz». Fotografien von Michael Richter. Zürich: Chronos, 2008.

Immerhin wird stimmig gestorben

Der Roman stellt sich in die Nachfolge von Meinrad Inglins «Schweizerspiegel», der ebenfalls mit dem Besuch des deutschen Kaisers in Zürich anhebt, und Kurt Guggenheims «Alles in allem»: ein Epochenroman als Familienroman. «Das Gute» berichtet über mehrere Generationen der mittelständischen Zürcher Familie Frauenlob, und anhand ihres Bildes von der Geschichte der Schweiz und Zürichs, insbesondere von 1912 bis 2012. Enthusiastische Besprechungen haben Lust auf die Lektüre gemacht. Dann aber die grosse Enttäuschung. Man liest und liest und fragt sich: Wann hebt diese Geschichte endlich ab? Sie tut es nicht, man quält sich durch. Erst am Schluss der 626 Seiten eine kleine Belohnung: es wird stimmig gestorben, die Darstellung von Erosion und Verfall überzeugt. Auch ist der skurrile Turm, den sich Grossvater Frauenlob auf sein Ende hin baut, eine wunderbare Metapher. Schade aber, dass dies doch nicht das Ende ist − ein märchenhaft verlogenes Finale vereint die unterdessen verstreute Grossfamilie auf dem Zürichsee und lässt sie lichtvoll-utopisch zu neuen Ufern aufbrechen. Hier soll ein Leben siegen, das es nie gab.

Eine «Huldigung an Zürich», mag sein. Der Verlag weist darauf hin, dass der Autor «als Stadtbürger geboren» ist. Kann das von Belang sein? Es gibt mittlerweise eine Unzahl nur schon von Krimis, die alle Zürich «huldigen», indem sie mit Lokalkolorit wuchern. An Helden, die ums Grossmünster kreisen, mangelt es nicht. Auch dass ein geschichtliches Geschehen stoffreich wiedergegeben wird, ist noch keine literarische Qualität. Bieder trottet diese figurenreiche Erzählung vor sich hin, wie ein kleinstämmiger Haflinger, von dem man wenig erwartet, wenn er nur seinen Reiter treu zum Ziel trägt. Überall errichtet sie lehrerhafte Wegweiser von penetranter Sichtbarkeit und Indezenz, die von sprachlichem Raffinement und souveräner Ironie, die am Wegesrand vereinzelt blühen, nicht aufgewogen werden. Oft vertraut der Autor seiner eigenen Sprache nicht. Er lässt eine Figur eine Aussage machen und den Erzähler diese sogleich kommentieren, als sei der Leser schwer von Begriff. «Albin Zollinger − kennen Sie ihn?» wird Frau Dr. Bleuler-Waser gefragt. Sie antwortet: «Gehört habe ich schon von ihm.» Und der Lehrererzähler fügt an: «Also nicht gelesen.» Dieses Buch, dem zu einem Meisterwerk, als das es angesprochen worden ist, ein ziemliches Stück fehlt, wird jene für sich begeistern, die auf starke Identifikation aus sind.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Zürich

Kaspar Schnetzer: «Das Gute». Zürich: Bilger, 2008.

Getroffen in Niederpipp

Nicht jeder hatte einen Grossvater, mit dem er als Kind oder junger Mann über Gott und die Welt sprechen konnte; und auch ein Vater ist längst nicht allen vergönnt, mit dem sich der Herangewachsene – womöglich selbst Vater geworden – auf Spaziergängen oder beim Bergsteigen über die Zumutungen und Verheissungen des Lebens, über kulturelle Erfahrungen und Lockungen unterhalten könnte. Einmal starb der Grossvater früh, oder ein verbissener Familienzwist oder ein nur durch Unverbindlichkeiten kaschierter Abgrund gegenseitigen Unverständnisses trübt das Verhältnis von Vater und Sohn, oder es fehlt schlicht am Willen oder an der Gelegenheit zum Gespräch. Und dann ist es dafür – womöglich schon zu Lebzeiten – zu spät. Oder es hat sie gegeben, die geglückten Gespräche über eine oder zwei Generationen hinweg, aber das ist Vergangenheit und wird nun vermisst. – Neun solche geglückten Gespräche über die grossen Themen des Lebens hat Werner Morlang 1993, ein zehntes 2005 mit Gerhard Meier, dem im Juni 2008 verstorbenen Nestor der Schweizer Gegenwartsliteratur in dessen Heimatort Niederbipp (dem Amrain seiner Texte) geführt. Sie loten erst Leben, dann Werk massvoll chronologisch und ohne Scheu vor gelegentlichen Wiederholungen aus und bieten einen unakademischen Zugang zu Meiers früher Lyrik, der sich anschliessenden kürzeren Prosa und den späten Romanen, vor allem zur Tetralogie «Baur und Bindschädler». Meier betont seinen autodidaktischen Zugang zum Schreiben (er hatte ein Architekturstudium begonnen, dann aber in einer Lampenfabrik gearbeitet und sich zwanzig Jahre lang das Schreiben und das Lesen schöner Literatur versagt) und gibt Auskunft über das vegetative Gewachsensein seiner Texte aus Stimmungen und Gefühlen, über das langsame Reifen auch grösserer Werke im Geist, ehe sie zügig aufs Papier gesudelt und mitunter langwierig überarbeitet wurden.

Neben der Kunst hat vor allem die Natur Meier inspiriert – die Stimmung der Jahreszeiten, das Werden und Vergehen im Jahreskreis, das Abschreiten von Lieblingsspazierwegen bei Sonne und Regen, Hitze und Kälte, der Blick auf die Jura-

kette, auf die im Weiher gespiegelte Dorfkirche. Morlang und Meier sprechen über das Novemberlicht – zumal zur Nachblüte des Martinisömmerchens um den 11.11. herum –, über die heikle Balance von Spiritualität und Materialismus, über Vergänglichkeit und Schönheit, kleine Strukturen und Überschaubarkeit, und dennoch haben diese Gespräche nichts im schlechten Sinne Provinzielles, Weltflüchtiges oder Borniertes. Dass Meiers inniger Heimatliebe nichts von Lokalstolz, erst recht nichts von Blut-und-Boden anhängt und er mit gleicher Neigung über die Bauern nebenan wie über die Musik Skrjabins, über die Bibel wie über die Spiritualität der Indianer spricht, trägt sicher zu dem schönen, ja erhebenden Leseeindruck bei, der sich bald einstellt und diese Gespräche (die man vielleicht in dem monatlichen Abstand lesen sollte, in dem sie geführt wurden) so kostbar und berührend macht. Werner Morlang – dem Walserforscher und Mitherausgeber seiner Mikrogramme – gebührt das Lob, das Brecht im Gedicht «Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration» dem Mann spendet, der den Philosophen nicht hat ziehen lassen wollen, ohne seine Weisheit zu erfahren: «Darum sei der Zöllner auch bedankt / Er hat sie ihm abverlangt.»

vorgestellt von Andreas Heckmann, München

Gerhard Meier, Werner Morlang:

«Das dunkle Fest des Lebens. Amrainer Gespräche» Bern: Zytglogge, 4. Auflage 2007.

Lassen wir ihm das Geheimnis!

Ja, so ist es wohl: «Die Welt ist ein grosses Geheimnis! Wehe, wir decken es auf!». Der Satz steht im Debüt des 25jährigen Berners Christian Zehnder. Der schmale Band, die Erzählung «Gustavs Traum», hat es in sich – «es», das Geheimnis. Und man sollte nicht versuchen, es zu lüften. Denn dann wird es zum Rätsel degradiert. Christian Zehnders Erstling ist aber mehr als ein blosses, simples Ratespiel.

Obschon sich nicht nur die Familie, die stetig durch die Erzählung wandert – der Vater Gustav, die Mutter Veronika, und Dominik, der Sohn – in einer (transzendentalen) Obdachlosigkeit befindet. Dem Leser, der Leserin ergeht es genauso. Denn es ist nicht klar, warum, und weshalb schon wieder, die drei von einem Stadttor zum andern laufen, weswegen sie keine eigenen vier Wände bewohnen und das Kind nicht weiss, in welches Haus es gehört, weshalb sie Sätze sagen wie «Die Schönheit deiner Seele wird uns retten» oder «Wir feiern das Geheimnis der Freude». Solche Fragen würden sich dann stellen, wenn die äussere Handlung von zentraler Wichtigkeit wäre; diese aber hat einen geringen Anteil. Christian Zehnders Buch feiert eine übersetzte, eine übersetzende Sprache, eine, die sich von aussen nach innen bewegt. Und eine, die der Ästhetik huldigt, dem Schönen, dem Sanften. Und dem Recht der Kunst – dem Recht der Phantasie.

«Gustavs Traum» ist ein Text auf Zehenspitzen. Was er vielerorts ausspricht, liest sich suggestiv, fast flüsternd entlang der Grenze von Schlaf und Wachsein. Als Dominik zur Welt kommt, in der Werkstatt des Vaters, heisst es: «Der Hebamme war es, als hätte sie ein Kind zum ersten Mal nicht in banger, sondern melancholischer Atmosphäre zur Welt gebracht. Über dem Bett in der Ecke hingen Bilder von Mondlandschaften und Morgendämmerungen, von Waldrändern im Schatten. Über allem lag ein Schleier, ähnlich dem Dunst vor den Himmeln der Gemälde, und Veronika konnte weder weinen noch sprechen.» Wer so schreibt, befreit seine Sprache vom (Alltags-)Geschwätz, und – enorm wohltuend – seine Prosa von der Funktion eines (kurzzeitig) erfolgreichen Tagestrend-Durchlauferhitzers. Er setzt sich ein für Unverwechselbarkeit, für die eigene Klangfarbe, für Rhythmus und Melodie.

Nach Gustavs Tod kommen zwei neue Figuren ins Spiel, Juliane und Paul. Es ist von Tieren die Rede, von Pauls Esel, von Lämmern, von Glockenklang, von einer Herberge. Und wenn man liest: «So begab es sich…», und wenn auf der letzten Seite von einer Barke die Rede ist, die die paar Menschen und den Esel vor dem Regen rettet… – ja, dann ist der Gedanke an uralte Geschichten nicht mehr weit… Und die Gefahr eines Zuordnungversuchs nah. Aber eben: gute Literatur ist ein grosses Geheimnis. Wehe, wir decken es auf.

vorgestellt von Silvia Hess, Ennetbaden

Christian Zehnder: «Gustavs Traum». Zürich: Ammann

2008.

Rind im Zentrum

Arthur Zeller, der Geige spielende Sohn eines wohlhabenden Landwirts, hatte sich autodidaktisch zum Fotografen ausgebildet. Gleichzeitig war er Züchter und Kenner des Simmentaler Fleckviehs. Eine einmalige Situation, die es Zeller erlaubte, die wichtigsten Merkmale dieser damals reüssierenden Rinderrasse unter ästhetischen und ökonomischen Aspekten gleichermassen ins rechte Licht zu rücken; seine Aufnahmen trugen dazu bei, dass diese Nutztiere international bekannt wurden und es zu Massenexporten nach Ungarn, Russland, Südwestafrika und Südamerika kam. Nach und nach erweiterte Zeller seine fotografische Tätigkeit auf Personen und Ereignisse der Simmentaler Heimat, wurde als vertrauenswürdiger Einheimischer und preiswerter Fotograf zu Aufnahmen gebeten.

Die Fotografien und das Leben Zellers werden in dem Bildband als historische Quelle der agrarischen Schweiz präsentiert. Das schadet der unmittelbaren Wucht der tief beeindruckenden Aufnahmen nicht, verschenkt jedoch mögliche ästhetische Würdigungen des Werkes. Arthur Zellers Arbeiten könnten einem Vergleich mit dem grossen August Sander, dem Fotografen der ungekünstelten bäuerlichen Realität im 20. Jahrhundert, durchaus standhalten; auch Paulus Potter, der grosse Niederländer aus dem 17. Jahrhundert, der als erster Maler Rinder nicht mehr als Staffage malte, sondern Raum und Landschaft von den Tieren her entwickelte, erscheint als gewinnbringender Bezugspunkt. Besonders faszinierend an Arthur Zellers Lichtbildern ist, dass sie die Spielregeln der Viehmalerei und der frühen Fotografie mitzureflektieren scheinen. Menschen und Tiere werden vor der natürlichen Alpenlandschaft arrangiert und scheinen diese zu konstituieren. Manchmal sitzen die Personen aber auch vor einem gemalten Hintergrund, wie er in den Foto-ateliers üblich war. Die Bilder sind jedoch so aufgenommen, dass um diesen Hintergrund herum noch eine Art Rahmen aus der realen Umgebung zu sehen ist: bäuerliche Gebäude, Berge. Die Aufnahmen geben der Seitenansicht einer Kuh ebensoviel Wert und individuelle Ausstrahlung wie Brautpaaren, Jungbauern oder einem toten Kind im Sarg. Durch dieses Buch über Arthur Zellers Werk wurde ein Schatz entdeckt und gehoben. Seine weitere Würdigung steht noch aus.

vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Erlangen

Markus Schürpf: «Arthur Zeller (1881–1931), Vieh- und Wanderfotograf im Simmental. Fotografien 1900–1930». Zürich: Limmat, 2008.

Der Fotoband begleitete eine im Agensteinhaus Erlenbach gezeigte Ausstellung.

Einmal Schmähungen, das andere Mal Statistiken

Das Freizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU aus dem Jahre 2002 war ein epochaler Einschnitt in der Migrationsgeschichte der Schweiz. Wie unterschiedlich man auf die danach einsetzende Einwanderung aus den EU-Ländern – und besonders aus Deutschland in die Deutschschweiz – reagieren kann, zeigen die beiden hier zu besprechenden Bücher, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Das zuerst erschienene, von Bruno Ziauddin, gehört zur Gattung der Schmähreden, die mit ihrem Gegenstück, der Lobrede, zweierlei gemein hat: man kann und darf die dem Anlass geschuldeten Aussagen nicht völlig für bare Münze nehmen, und nach relativ kurzer Zeit stellt sich ob der stetigen Wiederholung der immer gleichen Gedankenfigur eine gewisse Ödnis ein. Dabei gibt Ziauddin den Bramarbaseur gegen alles Deutsche derart distanzlos und ironiefrei, dass man befürchten muss, zwischen Autor und Rednerfigur passe kein noch so dünnes Blatt. Bis Seite 27 seines Buches reiht Ziauddin alle Schmähungen und Vorurteile dicht hintereinander, deren er nur habhaft werden konnte. Danach geht dem Autor ein bisschen die Puste aus, und es beginnt ein mit weniger Invektiven gespickter, mässig informativer Teil, in dem dürftige journalistische Recherchierfrüchte zum Thema Deutsche und Deutschschweizer ausgebreitet werden. Unter dem Komikaspekt entspricht «Grüezi Gummihälse» teutonischen Humorfiaskos: es fehlt jede Leichtigkeit oder die Fähigkeit zur wirklich bitterbösen Satire, die man bei manchen Briten so bewundern kann. Man bekommt bestenfalls Bierzelthumor voll saurer Ressentiments und fader SelbstbelobShudelung. Dabei fragt der innere Biedermann längst streng, ob man über sowas nicht den vornehmen Mantel des Schweigens decken könnte. Wäre das Buch nur eine anspruchslose rhetorische Übung, böte es bloss das Innenleben eines juvenil-kraftmeiernden Autors (was zahlreiche autobiographische Stellen nahelegen), wäre das wahrscheinlich das beste. Aber so einfach kann man ein gestörtes Verhältnis zum angeblich Fremden nicht abtun. Ein kunstloses Gebräu aus belanglosen, aber hämischen Anekdoten, humoristischen Rohrkrepierern und substanzlosen Vorurteilen zu diesem Thema ist leider kein harmloser Spass, wenn man bedenkt, welche Bedrohung der Fremdenhass nicht erst heute für die allgemeine Wohlfahrt darstellt. Angesichts solcher Tiraden, von denen einige auch gut in das Handbuch des Neonazihumors passen würden, gerät das Bild vom hysteriefesten Schweizer gehörig ins Wanken. Welche Zukunft ist für Europa zu erwarten, wenn schon zwischen (Deutsch-)Schweizern und Deutschen ein solcher Ton erst möglich ist und dann üblich werden sollte? Niederstes Niveau für niederste Instinkte hat sein Publikum, aber es ist ein Spiel mit dem Feuer. Jedenfalls bewahrheitet sich mit diesem Buch eine Erkenntnis der Stereotypenforschung: Ähnlichkeit bis zur Verwechslungsgefahr facht negative Nationalstereotype eher an. Das Buch von Ziauddin ist der beste Beweis dafür, dass ein Deutschschweizer Secondo ein sehr typischer Deutscher werden kann.

Aus einem ganz anderen Blickwinkel nähert sich der aufwendig produzierte Aufsatzband von Avenir Suisse der aktuellen Zuwanderung in die (Deutsch-)Schweiz. Vor allem gestützt auf Daten und Statistiken versucht man hier aus Sicht der prosperierenden Schweizer Wirtschaft in 10 Aufsätzen, 5 Interviews und Mehraugengesprächen und mit weiterem Material herauszustreichen, dass die starke Zuwanderung gutausgebildeter Fachleute in einer globalisierten Weltwirtschaft die beste Versicherung für den Wohlstand der Schweiz in der jüngeren Vergangenheit war und auch in Zukunft sein wird. Das wirklich Neue an der auch im internationalen Vergleich beeindruckend zahlreichen Zuwanderung von Hochqualifizierten sei von vielen Schweizern noch gar nicht richtig bemerkt und verstanden worden. Nach Ziauddin liest sich das zuerst wohltuend sachlich, allerdings ist die technokratische Behandlung des Themas auch die grösste Schwäche des Bandes. Die sachlichen Argumente für die Zuwanderung Hochqualifizierter, wie Globalisierung, Fachkräftemangel oder internationale Konkurrenzsitua-

tion hat der Leser schnell begriffen, aber er fragt sich, wo der Mensch mit seinen Ängsten und Hoffnungen bei all den rein ökonomi(sti)schen Nützlichkeitserwägungen bleibt. Dazu vermögen die meisten Autoren tatsächlich nicht mehr beizutragen, als wiederholt zu konstatieren, dass es abseits der statistisch zu erhebenden Vorteile in der Schweiz auch «eine gewisse negative Einstellung Ausländern gegenüber» gebe. Der im Untertitel des Bandes genannten «Überfremdungsangst» kann man so nicht gerecht werden oder gar begegnen. Am ehesten wird noch auf das Problem der (teilweisen) Entwurzelung der einwandernden Eliten eingegangen, aber auch hier bleibt es bei der blossen Feststellung des Problems (angenehme Ausnahme ist der Aufsatz von Ursula von Arx über die Gemütslage von Familienmitgliedern erfolgreicher Teilzeitzuwanderer). Der Satz Max Frischs «Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen» wird zwar einmal zitiert, ernst genommen wird er in diesem Band nicht. Vielmehr verschwindet der Mensch zu oft hinter Wörtern wie «Humankapital» (Unwort des Jahres 2004) oder «mobile Ressource». Nur in dem Aufsatz von Kurt Imhof über die antideutsche Medienkampagne der Schweizer Boulevardpresse 2006–2008 («Kommunikationsblase») findet sich eine doppelseitige Erörterung des notwendigen Zusammenhangs zwischen Fremdheits- und Identitätskonstruktion. Auch auf dem Gebiet der Kulturanalyse ist der Band sonst enttäuschend. Als informative Einführung in das Thema ist er dennoch geeignet, wenn man sich bewusst bleibt, dass hier von interessierter Seite (einer Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft) mit den entsprechenden blinden Stellen argumentiert wird.

vorgestellt von Michael Mühlenhort, Gütersloh

Bruno Ziauddin: «Grüezi Gummihälse. Warum uns die Deutschen manchmal auf die Nerven gehen». Reinbek: Rowohlt, 2008.

Avenir Suisse, Daniel Müller-Jentsch (Hrsg.): «Die neue Migration. Wie hochqualifizierte Zuwanderer die Schweiz verändern». Zürich: Verlag NZZ, 2008.

Kein Ausweg aus der Nichtsangst

Obwohl der Tod eine der wenigen Gewissheiten unserer Existenz ist und die Mortalitätsrate der Menschen noch immer einhundert Prozent beträgt, lässt sich über unser Ableben hinaus nur wenig sagen. Das hat vor allem damit zu tun, dass zwar nur ein Atemzug Tod und Leben trennt, dass beide aber buchstäblich Welten auseinanderliegen und es keine Verbindung von hier nach dort gibt. Zumal nicht einmal als sicher gilt, dass es dieses dort überhaupt gibt. Was aber ist von einem Leben zu halten, in dem der Tod das letzte Wort hat und uns am Ende unserer Existenz das blanke Nichts erwartet? «Der Tod ist der Fehler in der Welt», befindet Jürg Amann zu Beginn seines Buches «Nichtsangst» kategorisch und dekliniert anschliessend in Hunderten von Aphorismen die bitteren Konsequenzen dieses Kardinalfehlers für unser irdisches Dasein durch. Von seinem Ende, und das heisst für Amann von seiner völligen Auslöschung her gedacht, ist das Leben von Anfang an missglückt, eine sinnlose Episode im ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen. Wer hier noch auf der Möglichkeit von Glück, Erfüllung und einer persönlichen Hinterlassenschaft beharrt, ist naiv oder bestenfalls ahnungslos. Und was wir so stolz als Ausdruck des élan vital feiern, ist tatsächlich nur Ablenkung vom Tod und unserer Angst vor dem Nichts.

Ob in der Liebe, der Kunst, der Religion oder der Philosophie – stets geht es dem Menschen darum, sich seine Vergänglichkeit vergessen zu machen und seine Todesangst in einen scheinbaren Lebenstrieb umzubiegen. Der Biss der Amannschen Aphorismen besteht gerade darin, diesen subtilen Täuschungsmechanismus wieder und wieder offenzulegen: in der Liebe – «mit der Liebe versuchen wir uns davon abzulenken, dass wir sterblich sind»; in der Religion – «die Transzendenzfalle, mit der wir gefügiggemacht werden, in den sauren Apfel zu beissen»; in der Kunst – «das Erträglichmachen der Todesangst, die Möblierung des horror vacui». Täuschungen ohne Ende, und das alles nur, damit der Mensch das Kreuz seiner Existenz überhaupt aufnimmt. Dabei steht die Bilanz von Anfang an fest: «Ich lebe, ich habe gelebt: ein und dasselbe.»

Aus dem tiefen Loch von Lebens- und Weltverneinung kann den Autor nur noch ein tollkühner Befreiungsschlag retten, zu dem er in den letzen drei Kapiteln seines Buches unter der bezeichnenden Überschrift «An Stelle Gottes» ausholt. Darin entwirft er das Projekt eines säkularen Weltethos, das auf der trotzigen Entscheidung gründet, der als sinnlos durchschauten Welt seinen eigenen Sinn entgegenzuhalten. Oder in Amanns paradoxer Formulierung: «Das Leben hat keinen Sinn. Trotzdem lebe ich es. Aus diesem ‹Trotzdem› gewinnt das Leben seinen Sinn.» Dieser Gedanke hat etwas von einem Münchhausenmanöver und wirkt im Anschluss an die schneidenden Reflexionen zur Bodenlosigkeit unseres Daseins wenig überzeugend. So sehr sich der Autor am Schluss auch bemüht, die Vortäuschung von Sinn als die eigentliche menschliche Leistung zu rühmen, die einmal heraufbeschworene Nichtsangst lässt sich damit nicht mehr vertreiben. Als kleine Schule der Ernüchterung ist Amanns Aphorismensammlung ein höchst willkommener Begleiter, nur ist das empfohlene Remedium etwa so wirkungsvoll wie eine Kopfschmerztablette bei einem furchtbaren Kater.

vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld

Jürg Amann: «Nichtsangst. Fragmente auf Tod und Leben». Innsbruck/Wien: Haymon, 2008.

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