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Schweizer Literatur in Kurzkritik XII

«Das Buch lebt!», so lautet die Bilanz der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Mit 78’218 Besuchern war der 18. Oktober 2008 der Tag mit den meisten Besuchern in ihrer Geschichte. Ob Sie nun an diesem Tag dabei waren oder nicht, weitere Inspiration kann nicht schaden. 14 Vorstellungen von Büchern Schweizer Autoren in unserer zwölften Folge der «Schweizer Literatur in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

Weit ist zu schwimmen…

Rolf Lappert: «Nach Hause schwimmen». München: Hanser, 2008.

Mit Irland kann man nichts falsch machen. Weicher Torf unter den Füssen, weiter Blick auf den Atlantik, die westliche Brise aus Amerika in der Nase – das erweitert den Horizont und beflügelt die Phantasie. Der 50jährige Rolf Lappert hat den Schritt gen Nordwesten gemacht, den Boden gefühlt, die Luft geatmet und seinen vierten Roman verfasst, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2008 stand: «Nach Hause schwimmen» spielt zum einen im abgelegenen Norden der Republik Irland und nutzt die Hütten und Landschaften aus Patrick McCabes «Die schwarze Pfanne». Darüber hinaus führt die Geschichte des Nichtschwimmers Wilbur in das Ostküsten-Amerika John Irvings; die Hauptfigur kommt zu ihrem Namen wie «Garp», wächst im Waisenhaus auf wie Homer Wells aus «Gottes Werk und Teufels Beitrag» und geht durchs Leben mit der Grösse eines «Owen Meany». Doch der Zürcher Lappert klaut nicht, er verwertet. Wilbur hat seine eigene skurrile Geschichte, die ihn zwischen den USA und Irland hin- und hertreibt, an den Rand des Selbstmordes bringt und schliesslich auf dem langen Weg zurück in ein halbwegs normales Leben zeigt.

Es ist ein ereignisreicher Entwicklungsroman voller Wendungen, Episoden und kraftstrotzender, resoluter Nebenfiguren, neben denen der schüchterne Wilbur ein blasser Kaltblüter bleibt. Der Grund liegt vermutlich in der nicht zu verleugnenden Herkunft Lapperts; denn obwohl er den Torfgeruch Irlands und die Winde aus Amerika inhaliert hat, bleibt er ein deutschsprachiger Autor. Statt der Witze oder kernigen Sprüche, die seine bodenständige Geschichte gut vertrüge, will er lieber lyrisch und bedeutungsschwanger sein: Wilbur schläft nicht einfach ein, sondern seine «Pupille, eben noch ein Planet, wird zum Staubkorn», und statt aufzuwachen, starrt er «an die Innenseite seiner Lider, auf der Blitze zerstoben». Pfiffig ist das nicht, amerikanisch ist das nicht, aber – positiv gesehen – ist Lappert heimatverbunden geblieben.

vorgestellt von Michael Harde, Schalkenbach

…und daher gleich doppelt

Rolf Lappert: «Nach Hause schwimmen». München: Hanser, 2008.

Bei der Geburt stirbt die Mutter. Das kommt leider immer mal wieder vor, selbst in unseren Tagen und sogar in Philadelphia, das für gute Krankenhäuser bekannt ist. Nach diesem Unglück verschwindet der Vater aus der Klinik, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Seltsam, aber so ist es halt. Danach kommt das Kind, von einer Säuglingsschwester mit dem Namen Wilbur versehen, in ein Waisenhaus, in dem es sehr liebevolle Pflegeeltern findet. Denen wird es weggenommen und zur Grossmutter nach Irland verfrachtet. Das grosse Glück beginnt, aber es dauert nicht lange; denn die Grossmutter, ein Engel von Oma, kommt bei einem Autounfall ums Leben, den ausgerechnet der beste, nein, der einzige Freund unseres Wilbur indirekt verschuldet hat dadurch, dass bei seinem Versuch, seinen eigenen Vater zu erschiessen, ein Pferd in Panik gerät, durchgeht und in das Auto der Grossmutter galoppiert. Das alles gibt’s. Aber auch alles auf einmal?

Der berühmte Theaterkritiker Alfred Kerr bemerkte in diesem Zusammenhang einmal sehr schön: neunmal Pech kann Pech sein, doch zehnmal Pech ist Schuld. Wenn wir jetzt noch zugeben, dass am Ende dem mittlerweile zwanzig Jahre alten Wilbur auch der Versuch, sich selbst umzubringen, in die Hose geht, scheinen Kerr’s Bedingungen voll erfüllt. Und das Urteil unzweifelhaft. Ein Mix von Johannes Mario Simmel, John Irving und einem kleinen Schuss Günter Grass (Oskar Matzerat). Schiere Kolportage, unbekümmert um alle Wahrscheinlichkeiten, zusammengeschustert. Das, in der gebotenen Kürze, zur Handlung.

Nur – das wissen wir auch ohne theoretische Nachhilfe –, dass die strengen Regeln der Moderne den Liberalisierungen der Postmoderne zum Opfer gefallen sind und heute nicht nur alles möglich ist, sondern vieles Mögliche auch wieder richtig gut werden kann. Was Handlung heisst, darüber hat Ernst Bloch mit seiner Zusammenfassung von Schillers «Wilhelm Tell» abschliessend geäussert: Mann schiesst auf Äpfel.

Gut ist nun, dass der Schweizer Autor Rolf Lappert, der seit Jahren in Irland lebt, auch sonst nicht viel von den engen Räumen in den tiefen Tälern seiner Heimat zu halten scheint und sich deshalb viel in der Weltgeschichte herumtreibt (zur Zeit etwa in Lettland) und seine haarsträubende Geschichte nicht etwa linear, sondern in einer gegenläufigen Bewegung erzählt. Der eine Strang führt von der unglücklichen Geburt bis zum gescheiterten Selbstmordversuch. Der andere von diesem sozusagen zurück. Solcherart bricht sich das eine Unglück im anderen, und die Geschichte gewinnt eine fast allegorische Dimension. Dass er zudem richtig gut erzählen kann, in einer bilderreichen, erfahrungsgesättigten Sprache, sei noch schnell hinzugefügt. Unter den Lesern galt Lappert als Favorit für den Deutschen Buchpreis 2008, den er dann allerdings doch nicht erhalten hat.

vorgestellt von Martin Lüdke, Frankfurt a. M.

Fischermanns Garn

Gerold Späth: «Aufzeichnungen eines Fischers (das erste Jahr)». Basel: Lenos, 2006.

Gerold Späth: «Mein Lac de Triomphe. Aufzeichnungen eines Fischers (das zweite Jahr)». Basel: Lenos, 2007.

Vor fast vierzig Jahren erschien Gerold Späths Début «Unschlecht», eine furiose Attacke auf das Spiessbürgertum seiner Heimatstadt Rapperswil am Zürichsee, vom Autor als «Barbarswila» oder «Molchsgüllen» verunglimpft. Das Buch sorgte für nachhaltige Verstimmung unter der Rapperswiler Bürgerschaft, zumal Späth immer wieder nachlegte und mit Büchern wie «Balzapf oder als ich auftauchte» (1977) oder «Barbarswila» (1988) weiter Öl ins Feuer goss. Der Autor selbst hat sich schon seit Jahren aus der Gefechtszone abgesetzt und lebt abwechselnd in Irland und den italienischen Maremmen. Dennoch ist Späth literarisch offenbar fest in Barbarswila verortet, wo auch seine beiden letzten Bücher «Aufzeichnungen eines Fischers» (2006) und «Mein Lac de Triomphe» (2007) spielen. Beide Bände versammeln die Aufzeichnungen des Fischers Jeanot, eines im doppelten Sinne Spätberufenen.

Fünfunddreissig Jahre lang hat Jeanot im Büro einer Feinspinnerei gearbeitet. Nach der Pleite der Firma zieht es ihn hinaus auf die Weite des Sees, und er wird einer der letzten Berufsfischer, eine Leidenschaft, der er auch nach seiner Pensionierung treu bleibt. Beinahe täglich sitzt er an seinem Stammplatz an der Giesse unter einer hohen Rosskastanie, hält die Angel ins Wasser und lässt Erinnerungen, die Menschen am See und deren Geschichten an sich vorbeiziehen. Abends notiert er seine Einfälle und Erlebnisse in schmale Cahiers, zuerst eher zögernd und verschämt, mit der Zeit dann immer selbstbewusster. Ausgestattet mit einem anarchischen Witz, verknüpft Späths Erzähler spielend Nahes und Fernes, Vergangenes und Gegenwärtiges, Schrulle und philosophisches Gedankenspiel, und lässt vor dem staunenden Leser einen abenteuerlichen, schier unerschöpflichen Erzählkosmos entstehen. Ob es um die höchst geheime Eierstuhlzeremonie bei der Wahl des Papstes, afrikanische Fruchtbarkeitsrituale oder zersägte Eisleichen geht, jede noch so schräge Unwahrscheinlichkeit wird von Jeanot gewissenhaft notiert. Seinen Erzählstoff bezieht der Tagebuchschreiber von einer Reihe unverwechselbarer Originale, die ihm die Zeit am Seeufer vertreiben. Der ehemalige Fremdenlegionär Hugentobler etwa, der mit neunzig noch quietschfidele Pirmin Hiestand und vornweg Jeanots alter Schulfreund Fritz. Dessen wortgewaltige Auftritte gehören zu den Glanzstücken Späthscher Erzählkunst und erinnern oft an die überbordende Phantasie des «Unschlecht». So, wenn Fritz über die Honoratioren der Stadt herzieht und sie als «Stadtpfeifen», «verleimte Stammtischler», «einfältige Festbrüder», «hochtrabende Brunzverzapfer», «sentimentale Seichmeister» und «aufgepumpte Windsäcke mit heimlich unheimlich Schiss bis hintenaus» bezeichnet, ein Urteil, das sich im übrigen auf die ganze Schweiz ausdehnen lasse, «seit je eine kleine heimlichfeiste Sau im Schafspelz.»

Solch polterndem Unmut stehen aber auch viele leise, versöhnliche Passagen gegenüber, besonders, nachdem Jeanot ganz unverhofft Grossvater wird und mit Jeanne la Princesse im Kinderwagen die Seeuferpromenade entlangschiebt. Zugleich kommt mit der Enkelin ein sanfter, beinahe zärtlicher Ton in das Tagebuch, der sich deutlich vom derben Humor früherer Episoden abhebt. Zuletzt sind Gerold Späths Aufzeichnungen eines Fischers vor allen Dingen eins – eine grosse Liebeserklärung an den Zürichsee und seine Anwohner. Bleibt zu hoffen, dass man das auch in Rapperswil so sieht.

vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld

Im Spektakel der Präsenz

Marco Baschera & André Bucher (Hrsg.): «Präsenzerfahrungen in Literatur und Kunst». München: Fink, 2008.

Die Repräsentation ist eine Macht, ihr ist nur schwer zu entkommen. Wir lesen Romane, als wären sie Abbildungen wirklicher Welten. Zeichen nehmen wir als das wahr, wofür sie stehen. Die Welt der Kunst scheint eine Welt der Verdoppelung zu sein: was anderswo präsent ist, wird im Werk re-präsentiert. Die Materialität des Werkes erscheint in dieser Perspektive als Medium; sie bringt etwas zur Darstellung, sich selber stellt sie aber nicht dar. Was in Erscheinung tritt, vertritt etwas anderes.

Erstaunlich ist die Hartnäckigkeit, mit der sich diese Vereinfachung hält. Zeichen verweisen, auch wenn sie auf anderes verweisen, auf sich selber: Als Darstellende stellen sie immer auch sich selber zur Schau. Dieser Aspekt wurde selbstverständlich nicht erst gestern entdeckt, er wurde aber als Nebeneffekt des Repräsentierens angesehen. Es ist die Aufmerksamkeit darauf, was den Begriff der Präsenz hilfreich erscheinen lässt. Die Repräsentation wiederholt nicht nur eine Präsenz, sie hat selber eine Präsenz. Insofern sie sich im Vollzug zeigt – im Akt des Lesens, beim Betreten eines Gebäudes, beim Betrachten eines Kunstwerks, beim Hören von Musik – ist Präsenz immer Präsenzerfahrung.

Solcher Überlegungen und konkreter Präsenzerfahrungen nimmt sich ein Sammelband an, der aus einer Tagung am Seminar für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich (2004) hervorgegangen ist. Weit ist der Raum, der sich durch die Beiträge öffnet. Da wird mit der Form der platonischen Dialoge ernst gemacht und die Gegenwärtigkeit des Denkvollzugs ins Zentrum gestellt; da wird im Rhythmus von Hölderlins Versen «présence» als «pré-sens» untersucht; da wird die Anwesenheit als Grundtatsache des Theaters und der Bild-Erfahrung thematisiert.

Es ist das grosse Verdienst der Herausgeber, dass sie neben den Diskursen unterschiedlicher Wissenschaften auch Stimmen bedeutender Künstler aufgenommen haben: die Schriftsteller Franz Josef Czernin, Felix Philipp Ingold und Eleonore Frey sprechen, jeder auf eigene Art, mehr oder weniger direkt, von ihren Erfahrungen beim Schreiben. Der Filmer Hannes Schüpbach denkt über die Präsenzbewegung im Gleiten der Bilder nach, der Komponist Gérard Zinsstag über den flüchtigen Charakter der Musik. Die 15 Seiten Bildtafeln, das Herzstück des schön gestalteten Bandes, vermitteln einen Eindruck von der Präsenz eines Platzes: der vom Fotografen und Künstler Hans Danuser mit Schieferplatten gestaltete Zentrumsplatz einer psychiatrischen Klinik in Graubünden wird in der Lektüre von Marco Baschera wie eine Bühne durchschritten, wie eine Schiefertafel beschrieben und als eine vorzeitliche räumliche Konstellation gelesen. Man wird nach Beverin fahren müssen, um sich ihr auszusetzen.

vorgestellt von Jürg Berthold, Zürich

Wenn gute Menschen gut sind

Franz Hohler: «Das Ende eines ganz normalen Tages». München: Luchterhand, 2008.

Krieg! Die Rotoren eines Kampfhelikopters zerschnitzeln, nun, was? Ein weisses Täublein. Eine Feder schwebt zu Boden, ein Kind findet sie, kurz darauf muss die Familie flüchten. Man rafft zusammen, was man in solchen Fällen eben zusammenrafft (bei Hohler: Dokumente, Schmuck, Äpfel, Schokolade), aber das Kind? Trennt sich nicht? Richtig: von der weissen Feder.

Vielleicht liegt es am Rezensenten; mag sein er ist innerlich verhärtet. Aber er besteht doch darauf, dass dann, wenn Hohler in seinem neuen, allzu disparaten Band mit Kurzprosa versucht, über Gesellschaft zu schreiben, zumeist moralischer Kitsch entsteht. Das zu vermeiden, gelingt dem Autor da, wo er sich auskennt und sich auf Details einzulassen versteht, ohne sogleich zu werten: in der Beschreibung zweier Schweizer Landsgemeinden etwa. Doch schlimm wird es, wenn Hohler auf Reisen geht.

Bei einem leider nicht datierten Besuch in Israel und Palästina sieht er, wie die israelische Schutzmauer entsteht, und ist empört. Die armen Betroffenen! Ein israelischer Beamter hat einen «Sicherheitsbegriff, der ein rein militärisch-technischer ist»; ihm stellt Hohler auf der palästinensischen Seite einen Lyriker entgegen, und nach den ersten Worten sind die beiden Dichter ein Herz und eine Seele und fachsimpeln zu Übersetzungen. Es sollen indessen auch schon in Israel Schriftsteller gesichtet worden sein; wie umgekehrt der Bau der Mauer darauf verweist, dass auf palästinensischer Seite ein gewisses Interesse an der Militärtechnik des Bombenbastelns besteht.

An einigen Stellen wird spürbar, wie Hohler selber eine Ahnung davon hat, dass ihm für die Gestaltung von Konflikten, die sich einem einfachen Gut-Böse-Schema entziehen, das Instrumentarium fehlt. In der Titelgeschichte erfährt ein Erzähl-Ich am 11.9.2001 von den Anschlägen in den USA. Und was tut dieses Ich, das wie die anderen des Bandes vom Autor kaum zu unterscheiden ist? Es vertieft sich sogleich in Stifters «Nachsommer», ein «Buch, in dem gute Menschen Gutes tun und schöne Menschen Schönes schaffen und niemand irgendjemandem etwas zuleide tut».

Und so wie diese Lesart von Stifter ist denn auch die Welt, die Hohler in manchen der kurzen Skizzen entwirft: übersichtlich und harmonisiert. «Herbsttag» etwa schildert, wie ein kleines Mädchen mit den Grosseltern einen beschaulichen Tag in einem Tessiner Tal verbringt; gut drei Seiten voller Glück, auf denen allenfalls das Zwergenhotel, das die Grossmutter mit der Kleinen bastelt, an gesellschaftliche Konflikte erinnert: für die reichen Zwerge gibt es Einzelzimmer, für die armen Zwerge nur Schlafsäle. Ähnlich milde verzwergt kommt Welt meist auch sonst in diesen Idyllen vor. Wenige Texte erheben sich über dieses Niveau: «Eine mongolische Hochzeit» etwa hebt an, als gehe es um ein Fest glücklicher Menschen in gesicherten Traditionen, verdichtet dann die Hinweise auf Störungen und endet in allseitiger Aggression. Das ist ähnlich geschickt gemacht wie gleich die erste Geschichte, in der ein einfaches Stolpern ein Selbstbewusstsein zerstört. Aber meist hindert nichts die Leser daran, so glücklich in den behaglichen Schlafsack zu kriechen wie am Ende die drei Herbsttägler: Draussen hört es sich an, als gehe jemand ums Haus; es ist bei Hohler aber nur eine Kastanie, die herabkullert, und so schlummert man beruhigt ein.

vorgestellt von Kai Köhler, Berlin

Wenn Zauberer entzaubern

Philipp Gut: «Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur». Frankfurt a.M.: Fischer, 2007.

Ganz unbekannt ist dieses Thema nicht. Wer es einmal mehr bearbeitet, kann schwerlich darauf hoffen, bislang unentdecktes Material von erheblicher Tragweite zu finden. Doch eines kann nie schaden: einen frischen Blick auf allzu Bekanntes zu werfen; neu zu deuten, was als Gemeinplatz erschien; innerhalb dieses unvergleichlichen Werkes, das Thomas Mann hinterlassen hat, bislang übersehene Zusammenhänge zu entdecken und aufzuzeigen. Und genau das ist Philipp Gut gelungen. Er hat es noch einmal auf sich genommen, die sperrigen «Betrachtungen eines Unpolitischen», die «Josephs-Tetralogie», den «Doktor Faustus», das essayistische Werk, die Briefe und Tagebücher auf das hin zu untersuchen, was Thomas Mann umgetrieben hat: die Auseinandersetzung mit dem Phänomen «deutsche Kultur», diesem magischen Zauberwort, das für unerreichte Höhen steht und für unsägliche, abgrundtiefe Barbarismen. Die zweideutige Grösse der deutschen Kultur und das Leiden an ihr, die versuchte Umwertung dieses Wertes, die gefährlich selbstverliebte, politik- (und realitäts-)ferne Seite dieser Kultur sowie Thomas Manns an Selbstentzauberung grenzender Versuch, sich die einst verketzerte demokratisch-westliche Zivilisation anzuverwandeln, alles das ist Thema dieses luzide geschriebenen Buches. Seine Lesbarkeit ist kein geringes Verdienst, von den eigentlichen Befunden zu schweigen: Gut zeigt, wie Thomas Manns essayistisches Fragment «Geist und Kunst» (1909) die Stichworte für seine Kritik an der westlichen Zivilisation lieferte; schlüssig analysiert er den Paradigmenwechsel in Thomas Manns Schaffen nach dem Ersten Weltkrieg, liest den Zauberberg als intellektuellen Schlüsselroman, deutet triftig das politische Verhalten Manns in der Emigration, einschliesslich dessen Geste, sich selbst mit deutscher Kultur gleichzusetzen und bis zuletzt «verzweifelt deutsch» zu bleiben.

Diese Studie verdient eine eingehendere Würdigung als dies hier geschehen kann. Aber dieses sei noch erwähnt: auf der Grundlage von Guts Untersuchung liesse sich ein Desiderat angehen, nämlich die Erörterung der Frage, welche Bedeutung Thomas Manns «Idee einer deutschen Kultur» heute noch haben kann, ob sie mehr bleibt als nur ein historisches Zeugnis. Welcher deutschsprachige Gegenwartsschriftsteller bezieht sein Kulturbewusstsein von Schopenhauer und Nietzsche, Wagner und etwas Spengler? Man hüte sich vor überstürzten Schlüssen. Wie wesentlich, wie beziehungsreich gerade in seiner Problematik dieses Erbe noch immer sein kann, belegt diese Arbeit mit dankenswerter, jargonfreier Klarheit. Man liest, dass Guts Studie als Dissertation in Zürich angenommen wurde. Glückliche Schweiz, wenn dort solche Dissertationen geschrieben werden!

vorgestellt von Rüdiger Görner, London

Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem

Bruno Meier (Hrsg.): «Das Unbehagen

im Kleinstaat Schweiz. Der Germanist und politische Denker Karl Schmid (1907–1974)». Zürich: Verlag NZZ, 2007.

33 Jahre nach seinem Tod hat Karl Schmid einige Aufmerksamkeit erfahren, nicht zuletzt dank dem von Bruno Meier herausgegebenen Sammelband «Das Unbehagen im Kleinstaat Schweiz», dessen Untertitel bereits deutlich macht, dass es hier um mehr geht als um ein Gelehrtenleben im Elfenbeinturm der Wissenschaft: «Der Germanist und politische Denker Karl Schmid (1907–1974)».

Dass sich der fast schon legendäre Professor, Generalstabsoberst und aktive Staatsbürger für eine Auseinandersetzung mit der Schweiz in der Zeit der «Geistigen Landesverteidigung» und des «Kalten Krieges» geradezu exemplarisch anbiete, stellt der Herausgeber schon im ersten Satz seiner Einleitung fest. Die dann folgende biographische Skizze von Thomas Sprecher verweist nicht nur auf das mit grosser Leidenschaft und Energie betriebene Nebeneinander von Studium, frühem publizistischen Schaffen und Militärdienst, sondern auch auf eine andere prägende Erfahrung: Karl Schmids Auslandaufenthalte, vor allem im Land Friedrich Schillers, über dessen «Gestaltungsweise» er seine Dissertation schrieb. In den dreissiger Jahren, in denen Schmid seine Vortragstätigkeit begann, reiste er mehrmals ins Deutsche Reich. «Sicher ist die wissenschaftliche Richtung Schmids und ihre starke moralische Wurzel auch die Folge der politischen Vorgänge in Deutschland. Schon der Aufsatz ‹Über das Idyllische› von 1937 richtete sich klar gegen die Ideologie und die Literaturpolitik des Nationalsozialismus.»

In die Zeit seines Aktivdienstes fällt die Eheschliessung Schmids mit der Kabarettistin und vielseitigen Künstlerin Elsie Attenhofer. Im Jahr 1943 wurde er zum ausserordentlichen Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich gewählt. Als Schmid 1950 den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe einleiten konnte und seine Arbeiten über Hermann Hesse und Thomas Mann auf breites Interesse gestossen waren, war er endgültig im geisteswissenschaftlichen und literarischen Leben der Schweiz etabliert. Ja, auch und gerade im literarischen, auf das er als Kritiker und Publizist, vor allem aber als Sekretär des Charles-Veillon-Preises bald einen schwer zu überschätzenden Einfluss gewann.

Erst in Schmids sechstem Lebensjahrzehnt entstanden die drei Bücher, die ihn über den wissenschaftlichen Bereich hinaus bekannt machten: «Hochmut und Angst» (1958), «Unbehagen im Kleinstaat» (1963) und «Europa zwischen Ideologie und Verwirklichung» (1966). Seine Ansichten zur Integration Europas und seine Beiträge zur Diskussion um die Atombewaffnung der Schweiz in der 1960er Jahren gehörten zu den wichtigsten über sein eigentliches Metier hinausweisenden Beiträgen. Der um die Frage des Verhältnisses des Bürgers zum Kleinstaat kreisende Essay von 1963, dessen nicht von allen Zeitgenossen und Nachgeborenen gebilligtes Ziel es war, die Kritik am Staat in staatserhaltende Kritik zu verwandeln, blieb Schmids bekanntestes Werk und spielte noch 1974 eine Rolle, als es zum Bruch mit dem einst geschätzten Max Frisch kam, der Schmid in seiner Dankrede zum Grossen Schillerpreis im Zürcher Schauspielhaus persönlich attackiert hatte.

«Er war ein Bildungsbürger im besten Sinn, geprägt durch die Auseinandersetzung mit Kant, Schiller und Goethe, getragen von einem staatsbürgerlichen Pflichtbewusstsein, typisch schweizerisch und zugleich sehr weltoffen und kritisch», schreibt Thomas Feitknecht, der sich in seinem Beitrag der Förderung der seinerzeit jungen Schweizer Literatur widmet. «Schmids literarischer Kanon war gewiss nicht progressiv, aber Schmid war durchaus zugänglich für neue Stimmen und Themen.» Nicht nur Schriftsteller wie Meinrad Inglin, Kurt Guggenheim, Albert Ehrismann oder Hermann Hiltbrunner hat Schmid protegiert und propagiert, sondern auch zahlreiche jüngere Autoren, Hermann Burger vor allem, Adolf Muschg, Peter Bichsel, Hans Boesch, Erika Burkart, Clemens Mettler, Jörg Steiner und viele andere.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Widmers achter Schöpfungstag

Urs Widmer: «Valentin Lustigs Pilgerreise. Bericht eines Spaziergangs durch 33

seiner Gemälde. Mit Briefen des Malers an den Verfasser». Zürich: Diogenes, 2008.

Valentin Lustig, hat sich da ein Urs Widmer einfallen lassen, heisse der Malermeister, und am Ende des Buchs gibt’s sogar ein Foto von ihm, zusammen mit dem Dichter, als ob es ihn gäbe. Geschenkt; solche Fakes schafft heute doch jeder. Immerhin, von irgendjemand stammen diese arg dem Naiven zuzuckenden Bilder. 33 sind es, eine Schnapszahl natürlich. Ausserdem soll der Maler in albtraumlosen Momenten Briefe geschrieben haben an den Verfasser. Glaub’s, wer will. Die Verantwortung und regelrechte Verfasserschaft übernimmt Widmer aber nur für das sturzbachhaft Wilde, das er für eine Beschreibung der Bilder gehalten haben will. Dabei wird nicht einmal klar, ob die Briefe tatsächlich nach den Bildern geschrieben sind und nicht diese nach jenen gepinselt. Aber sie gehören nun einfach weitläufig und eng zusammen und umtanzen einander mit ernstem Scherz und Schmerz. In seiner Tausendschaft grausliger Märchen beweist der Dichter Kurve um Kurve, dass alles darf, wer alles kann. Ein vergnügliches Achterbahnspazierfährtchen, teuflisch nah am Abgrund der Wirklichkeit. Es führt zu Toten und Noch-nicht-Toten, handelt von Liebe, Krieg und Frost, von Philosophen und anderen Metzgern, Dompteusen und Balletteusen, vom Älterwerden, von Ledas schwierigen Schwänen, von Höhlen, Löchern, Küssen und Juden, von Rumänien, wo dieser Lustig also herkommen soll wie einst Graf Dracula, von nackten Tanten, bunten Schnecken und schwarzen Schrecken, von Hexen und Hebammen. Nichts darf fehlen, nichts fehlt. Immer wieder Damenliebe, mit und ohne Fleischwolf, Fräulein Flora, Madonna Americana, Köchin Schönheit, Madame Lustig. Wie irre erzählt und wütet sich und mäandert und pilgert der Dichter durch alle Welten, Falten und Spalten dieser doch nicht ganz so gemütlichen Malkunst. Der Anblick der gelbfahl verlassenen Schokoladenfabrik im Val Blenio, Schweiz, evoziert gar die allerschlimmste Kinderfurcht: «Es wird nie mehr Schokolade in der Welt geben.» Aber nein, sowenig wie ein Dichter ist auch die schokoladenlose Hölle überall ganz dicht, immer wieder gelingen Fluchten ins Wunderbare und gedeiht dann zwischen Fischen und Vögeln ein jauchzend verblümtes Verwandlungsglück. Gut nur, gibt’s diesen Widmer. Jemand musste ja einmal die Arbeit Gottes fertigmachen.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Zürich

Lyriker der Romandie – Romandie-Lyriker?

Philippe Jaccottet (Hrsg.): «Die Lyrik der Romandie. Eine zweisprachige Anthologie». Zürich: Nagel & Kimche, 2008.

Die Westschweiz ist eine eher diffuse kulturelle Landschaft, die durch die gemeinsame Sprache, das Französische, definiert wird. Zwar sehen sich die Suisses romands als eigenständige Ethnie und grenzen sich nicht nur von der restlichen Schweiz, sondern auch von Frankreich ab; aber ausser wenigen lexikalischen Merkmalen wird in der Romandie Standardfranzösisch gesprochen – geschrieben allemal. Dementsprechend ist der Begriff «romandische Literatur» nicht selbstverständlich. Gehört der Genfer Jean Jacques Rousseau nicht der französischen Literatur an? «Ich habe nie so ganz an die Existenz einer wirklich eigenständigen ‹Literatur der Romandie› geglaubt», bekennt Philippe Jaccottet schon am Anfang seines Nachworts zu dem von ihm herausgegebenen Band «Die Lyrik der Romandie». Jaccottet, 1925 im Waadtland geboren und seit über 50 Jahren in Südfrankreich lebend, ist selbst ein Beispiel für die Problematik der Definition: er ist, wie er selber zugibt, an Baudelaire und Mallarmé geschult, seine Gedichte fehlen in keiner Anthologie französischer Lyrik. Ist er also ein Romandie-Lyriker oder doch ein französischer?

Jaccottet versucht nicht, die Lyrik der Romandie zu definieren. Stattdessen hat er Werkbeispiele so bekannter Dichter des 20. Jahrhunderts wie Charles-Ferdinand

Ramuz’, Blaise Cendrars’ oder Jean Chessex’, und weniger bekannter wie Anne Perriers, Pierre Chappuis’ oder Pierre

Voélins ausgesucht und diese Beispiele mit einleitenden Kurzporträts versehen, in denen er von persönlichen Begegnungen erzählt oder Leseerfahrungen mitteilt. Persönlich ist seine Auswahl auch insofern, als er gar nicht den Versuch einer objektiven Gesamtdarstellung unternimmt, sondern Texte und Textauszüge präsentiert, die seinem eigenen lyrischen Geschmack entsprechen – ob Gedichte oder «lyrische

Prosa».

Dass Jaccottets eigene Gedichte in der von ihm besorgten Anthologie vorkommen, ist eine Entscheidung der Übersetzer, die zu Recht meinten, dass der bekannteste Lyriker der Romandie darin vertreten sein müsse. Weniger verständlich ist ihre und Jaccottets herausgeberische Entscheidung, alle Gedichte «im Zusammenhang neu zu übertragen», also auch jene Gedichte, die bereits in Deutsch vorlagen, um, so ihre Erklärung in einer Schlussnotiz, «jene Einheit in der deutschen Sprache» zu erreichen, «die dann ihrerseits die individuelle Stimme des Dichters um so deutlicher werden lässt und zudem den unmittelbaren Vergleich mit den französischen Originalen möglich macht». Warum man sechzehn verschiedenen und unterschiedlichen Dichtern eine «Einheit» verpassen sollte, ist allerdings nicht einzusehen, und noch weniger, wieso die individuelle Stimme eines jeden dergestalt dann umso deutlicher werden sollte. Ist denn nicht die Aufgabe einer Übersetzung gerade, die individuelle Stimme eines Dichters in einer anderen Sprache erklingen zu lassen? Das leistet keine Einheitsübersetzung, sondern eine – im Idealfall – jeweils kongeniale Übersetzung. Ohne Zweifel aber macht dieser Band Dichter bekannt, die bis jetzt im deutschsprachigen Raum gar nicht oder nur wenig übersetzt wurden, und gibt einen Eindruck von der stilistischen Vielfalt der Lyrik der Romandie.

vorgestellt von Stefana Sabin, Frankfurt a.M.

Zu süss für die Kleinen…

Eveline Hasler (Text) und Käthi Bhend (Illustration): «Im Traum kann ich fliegen». Zürich: NordSüd, 2008.

Nichts ist zu sagen gegen die Wiederbelebung von Klassikern. Das dachte sich wohl auch der NordSüd-Verlag und veröffentlichte vor kurzem mit «Im Traum kann ich fliegen» einen Text der Erfolgsgarantie-Autorin Eveline Hasler aus dem Jahr 1988. Für Kinder ab vier Jahren erzählt dieses Bilderbuch von fünf kleinen Tieren, die sich unter der Erde für den Winter einrichten. Raupe, Engerling, Käfer und zwei Würmer zeigen sich ihre Vorräte, besuchen einander und verbringen Zeit zusammen. Sie lernen sich kennen, erzählen sich Geheimnisse und Träume, und schliesslich beobachten sie, selbst Teil werdend, das Wunder Frühling.

Wenig ist zu sagen gegen die Bilder, die Käthi Bhend zu dieser Neuauflage beigesteuert hat. Sie selbst hatte Haslers Text vor 20 Jahren illustriert, nun hat sie ihre Bilder überarbeitet und adaptiert, hat hinzugefügt und weggestrichen. Herausgekommen sind tolle Hintergründe sowie verzweigte, teils über Seitengrenzen hinweg verbundene, detailreiche und warme Illustrationen. Die besten von ihnen verbinden den Blick auf das Leben über und unter der Erde zu einem poetischen Ganzen. Allzu viele jedoch erschöpfen sich im Lieblichen, die Wohnung der Raupe kann nur als kitschig bezeichnet werden, überhaupt sind die Tierchen gar zu süss geraten, die Augen gross und leuchtend – und immerzu wird gelächelt. Das ist schade, denn die Illustratorin vergibt hier die Chance, eine Spannung zwischen Geschichte und Bild herzustellen und so dem Text eine zusätzliche Ebene zu verleihen.

Vieles gäbe es nämlich zu sagen gegen diesen Text. Und dass ihm eine zusätzliche Ebene guttun würde, liegt vor allem an seinem Beharren auf Einklang, Herzensgüte und Heiterkeit. Das findet man üblicherweise in banalen Pappkinderbüchern, aber in ein Buch mit Kunstanspruch gehören Wendungen wie «Wie saftig und lecker das aussieht!» oder «Dann tröstet ihn Ria mit Spässen und ihrem Lachen, und sein Missmut ist schnell verflogen» nicht. Verschärft wird das noch durch eine antiquierte Sprache sowie eine wahre Inflation von Adjektiven («staunend», «farbig», «seltsam», «wunderbar»…) und Ausrufezeichen. Wo so viel exklamiert wird, triumphiert das Platte zu leicht über das Mehrdeutige, das auch und gerade im Kinderbuch seinen Platz haben könnte. Das würde zwar das Harmoniebedürfnis vieler Eltern nicht bedienen, jedoch mit Sicherheit das Interesse des jungen Publikums wecken und auch nach dem Lesen noch zu Gesprächen führen – und wer würde das nicht wollen?

vorgestellt von Jens Nicklas, Innsbruck

…Ketchup ist viel besser

«Tomate uf de Ohre. Spi Spa Spoken Word für Kinder». Audio CD. Luzern: Der gesunde Menschenversand, 2008.

Wer Tomaten auf den Ohren hat, will entweder nichts hören, benimmt sich wie ein Handy-Affe oder möchte die Mutter beim Essen auf die Palme schicken. All dies und was es sonst mit diesen Tomaten auf sich hat, präsentieren spoken-word-Artisten für kleine und grosse Kinder auf CD.

«Tomate uf de Ohre» öffnet die gesamte stilistische Bandbreite an Texten und Formen zwischen dadaistischem Nachäffen und ironisch-lehrhafter Botschaft. Pedro Lenz erzählt eine ganz alte Geschichte vom «Buechstabe-Franz», die eine verschmitzte Moral bereithält. Gerade darauf verzichtet dagegen Michael Stauffer rigoros. «Was bisch du für en Aff?» fragt er unverfroren und dekliniert im schnellen Sprechgesang alle möglichen Variationen durch, vom «Müesli-Aff» zum «Sött-jetzt-go-Aff». Der kindliche Hang zum Repetitiven wird daran seine helle Freude haben.

Zwischen diesen Polen bewegt sich dieses Spi-Spa-Spoken-Word. Stefanie Grob vermittelt gewitzt neunmalkluges Wissen, während Sibylle Aeberli und Boni Koller sich in eine ebenso kindische wie kindliche Überbietungsschlaufe über «meine noch viel strengeren Eltern» hineinsteigern. Aus der Elternperspektive erzählt Guy Krneta, wenn er – «hallo ässe» – den quengelnden Nachwuchs zurechtweist, oder sich als Vater mit den neuen schulischen Anforderungen konfrontiert sieht, die vermutlich nur gemacht werden, «för üs Öutere z’schigganiere». Und der Rapper Greis erzählt eine bisher unveröffentlichte Geschichte von Mani Matter, «Ds Chatzli uf em Dach».

Keiner der Beiträge enttäuscht, allerdings bleibt bei einigen ein Fragezeichen stehen, was ihre Kindertauglichkeit anlangt. Die eine oder andere Geschichte ist doch recht komplex zum Anhören. Dies lässt sich auch positiv wenden. «Tomate uf de Ohre» ist eine Kinder-CD, an der Erwachsene ihren eigenen Spass haben können. Es wird sich dann erweisen, welche Texte die Kinder noch tagelang «nachäffen», und welche die Erwachsenen nachdenklich stimmen. Gemeinsam hören kann auf jeden Fall nicht schaden. Also: Tomaten aus den Ohren – und play.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

Viel Vergnügen, mehr davon

Zora del Buono: «Canitz’ Verlangen». Hamburg: marebuch, 2008.

Eine genialer Plot, vereint mit messerscharfer Beobachtung, kluger, meisterhafter Gefühls- und Situationsbeschreibung und viel Witz, aber auch ebensoviel Ernsthaftigkeit: «Canitz’ Verlangen» ist ein in jeder Hinsicht lohnendes Buch der gebürtigen Schweizerin Zora del Buono. Es unterhält wie lange kein deutschsprachiger Roman mehr und lässt uns zugleich tief blicken: tief in die Gewässer der deutschen Wasserleichenpoesie und tief in die alltagsgebeutelte Seele eines sensiblen Menschen unserer Zeit. Tief zurück auch in dunkle Kapitel deutscher Vergangenheit (Flucht aus Westpreussen 1945), aber mit viel Augenzwinkern und dem Fazit: Am Ende ist alles anders, als man vorhersehen kann, und das Privateste, das Verlangen – wunderbar diese alte Vokabel – war und ist es, dem man nicht entflieht.

Hubert Canitz steht der Welt fast hilflos gegenüber, ein Charakter, wie ihn wohl nur eine dominante Mutter in Verbindung mit einem ernstgenommenen, ebenso erfolgreichen wie aussichtslosen geisteswissenschaftlichen Studium hervorbringen kann. Unter dem Einfluss germanistischer und philosophischer Seminare, Psychoanalyse und eines problembelasteten Freundeskreises hat er, stellenloser Privatdozent der Germanistik (also academic trash) seine Wahrnehmungsfähigkeit aufs äusserste gesteigert, so dass er die Welt mit ihren Gerüchen und Menschen nur noch mit Mühe ertragen kann. Zwischen einsamer Verzagtheit, Ordnungsneurosen, erotischen Spielereien und egomanen Allmachtsphantasien hin- und hergerissen, organisiert Canitz sich und das Tagesgeschehen vor allem ästhetisch und theoretisch-kritisch.

So erscheint es kaum verwunderlich, das er den Fund einer toten Frau in der Spree nicht der Polizei meldet, sondern sich manisch in die Wasserleichenpoesie der Weltliteratur und der Kunstgeschichte hineinsteigert. Doch gerade durch die Aneignung dieses Themas gerät er unversehens und ungeplant in die Nähe eines ungeheuerlichen Geheimnisses seiner bis dato so unantastbaren Mutter. Entschiedener als sonst, doch unbeholfen, weil wie immer gefangen in sozialen Ängsten und poetischen Lebensdeutungen, versucht er, den Dingen auf den Grund zu gehen. An der Robustheit der Mutter jedoch scheitern am Ende alle Ästhetisierungs- und Verständnisversuche. Statt sich, wie Canitz erwartet, zu ertränken, sitzt sie winkend am Ufer der Ostsee, weit entfernt davon, die Dinge so tragisch und ausweglos zu sehen, wie sie nach Canitz’ Verlangen in einem ordentlichen geschlossenen Drama sich hätten zuspitzen und erfüllen müssen. Sie wird ihn auch in Zukunft locker in ihre mächtige Handtasche stecken…

vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Erlangen

Grosse Pein, Buch zu

Jutta Motz: «Späte Seilschaften». Bielefeld: Pendragon, 2008.

Im Heizungskeller des Chemischen Labors der Universität Oxford liegt eine Leiche, in deren Brust ein antiker arabischer Dolch steckt. Diesen hat der Archäologe Anthony Gardener einst von einem Beduinenfürsten geschenkt bekommen. Da es sich bei dem Toten um seinen ehemaligen Assistenten Pemberton oder Pemperton handelt – die Autorin ist sich da nicht sicher und benutzt beide Varianten –, befürchtet Gardener nun, unter Mordverdacht zu geraten, zumal er dem Opfer in herzlicher Abneigung verbunden war. Also taucht er unter, um den Fall auf eigene Faust zu lösen. Das spurlose Verschwinden des Professors versetzt seine Familie in Panik, und Tochter Jane macht sich auf die Suche.

Hoffentlich haben Sie nun genug erfahren. Wenn Sie die Auflösung des Falles interessiert, müssen Sie selbst die knapp 450 Seiten des Kriminalromans «Späte Seilschaften» der in Zürich ansässigen Autorin Jutta Motz lesen. Ihrem Berichterstatter nämlich reichte es auf Seite 118, auf der Jane sich folgende Fragen stellt: «Der Dolch ihres Vaters, die Mordwaffe? War das der Grund für sein Verschwinden?»

Unter den vielen schlechten Krimis dieser Welt nimmt «Späte Seilschaften» eine ganz besondere Stellung ein. Da ist zum einen der Mitteilungsdrang der Autorin, die ihren Lesern kein Detail, und sei es noch so irrelevant, vorenthalten mag. So kriegt man leicht einige hundert Seiten voll. Zu diesem schweren Fall von narrativer Inkontinenz gesellt sich ein gebrochenes Verhältnis zur deutschen Sprache und ihren Regeln. Von Grammatikfehlern und falschen Präpositionen abgesehen, versteht Jutta Motz es nämlich, bemerkenswerte Sätze zu bilden: «Langsam, je weiter Tagungspunkt für Tagungspunkt abgearbeitet wurde, je mehr steigerte sich Mr. Ibn Farid in eine Wut hinein, die er nur mit sehr grosser Mühe unterdrücken konnte.» Doch im Unterschied zu diesem armen Tropf, der trotz grosser Pein einen «äusserst langweiligen Tag mit ethnologischen Fragen zu Migration in Grossbritannien» über sich ergehen lassen muss, darf man als Leser ein Buch einfach zuklappen. Was hiermit geschehen sei.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

Selbst schuld, lest doch Orwell!

Christian Kracht: « Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten». Köln: Kiepenhauer & Witsch, 2008.

Es ist Winter und seit fast einhundert Jahren Krieg. Die Engländer haben sich mit den faschistischen Deutschen verbündet und Lenin ist es gelungen, die friedliche Schweiz in ein sich bis nach Afrika erstreckendes Imperium zu verwandeln. Die Hauptfigur der Geschichte, ein afrikanisch-schweizerischer Politkommissar dunkler Hautfarbe, verfolgt einen polnisch-jüdischen Obersten durch das verschneite Berner Oberland und trifft ihn schliesslich im hart umkämpften Réduit, der Alpenfestung der sowjet-schweizerischen Armee. Was hat es mit diesem polnischen Obersten auf sich, dass er verfolgt werden muss? In dieser Geschichte ist seine einzige Funktion wohl die, dass er der realistische, nein schon zynische Gegenspieler des idealistischen Politkommissars ist, dem er am Ende die Augen öffnet. Während seines Aufenthalts in der Festung erkennt der Kommissar nicht nur, dass der Krieg nie enden wird, sondern auch, dass die rassistische Gesinnung seiner Mitsoldaten kein Ende findet.

Auch in Orwells «1984» ist die Welt beherrscht vom Krieg zwischen totalitären Staaten. Auch in «1984» stehen sich der noch nicht unterworfene Winston Smith und der unterwerfende Vertreter der Inneren Partei, O’Brien, gegenüber. O’Brien genügt die glaubhafte Androhung von Folter, um Smith zum Verrat gegenüber seiner Geliebten Julia zu bewegen, einen Selbstverrat, den jener am Ende nicht überleben wird. Bei Kracht will Brashinski den Kommissar unvermittelt mit einer Ahle erstechen, was ihm nicht gelingt, weil dessen Herz in der rechten Brusthälfte schlägt. Daraufhin sieht Brashinski sein Attentat auf die ehemals auch von ihm vertretenen, im anderen verkörperten Ideale gescheitert und sticht sich selbst die Augen aus. Der Kommissar hingegen beginnt erst recht zu sehen und verlässt die Alpenfestung in Richtung afrikanische Heimat.

Bis etwa zu dieser Stelle ist das Buch wie ein skurriler Krimi mit Spannung zu lesen. Doch danach beginnt man leider zu ahnen: so ernst war es nun wieder nicht gemeint! Hatte das Buch dramatisch begonnen, so endet es unfreiwillig komisch. Nicht nur genug, dass Mutter Natur dem Helden das Leben rettet, indem sie ihm das Herz auf die rechte Seite gesetzt hat, jetzt bietet sie noch umfassendere Hilfe an. Satz um Satz tauscht sich – warum nur? – die kalt-winterliche Kriegswelt gegen eine blühende Sommerlandschaft aus. Es geht gen Afrika! Dort offensichtlich ist alles gut, und zwar von Natur aus gut. Die echten Afrikaner, von den Schweizer Architekten mit modernen Städten und technischer Infrastruktur aus ihren Dörfern gelockt, kehren in dieselben zurück, so als hätten sie keinen anderen Auftrag als den, der Einsicht des Kommissars in die unvermeidlich destruktive Gewalt von Wissenschaft und Technik, die Verbindung von Zivilisation und Krieg zahlreich Ausdruck zu geben. Der letztverantwortliche Schweizer Stararchitekt verzweifelt über diesen Rückfall und erhängt sich an einem Laternenpfahl.

Mit diesem Ende wird sichtbar: die mit schönem Schaudern beschriebene Kriegssituation, das Verwirbeln von Ländern und Zeiten, war nichts als ein Spiel mit der Phantasie, ohne phantastische Einsicht. Die sich im Helden entwickelnden blauen Augen, an denen sich ein neuer Evolutionsschub andeuten soll, sind ein von Hollywood kopierter Gag und kein Anzeichen von Tiefsinn. In diesem Buch beschreibt der Autor mit knappen Sätzen offene und deshalb spannende Szenen. Solange diese tatsächlich offen bleiben, der Mörder nicht gefasst ist, das Rätsel nicht gelüftet, ist alles prima. Wenn allerdings die Rechnung tatsächlich präsentiert, der Schleier gehoben werden muss, dann ist leider klar: Selbst schuld, lest doch lieber Orwell!

besprochen von Anton Leist, Zürich

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