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Schweizer Literatur in Kurzkritik XI

Bücher, von Frauen geschrieben, und Bücher, in denen Frauen oder auch ein Mädchen im Mittelpunkt stehen. 12 Kritiken, nicht nur für Frauen, in der elften Folge der «Schweizer Literatur in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

In die Schelmerei mit vollem Mieder

Margrit Schriber: «Die falsche Herrin». Zürich: Nagel & Kimche, 2008.

Haut wie Milch hat sie und ein volles Mieder. Beim Reden singt sie. Ihre Erscheinung lässt die Männer nicht kalt. Aber sie ist auch widerborstig, unbelehrbar, ohne Scham noch Reue. Diese Frau fällt aus der Norm. Die Muotatalerin Anna Maria Inderbitzin, die durch den Irrwitz der Zeiten und Menschen als Sechsjährige ihren Vater im Villmergerkrieg verliert, wird einem Vormund ausgeliefert. Zwischen steilen Flühen aufwachsend, hat die ungebildete Frühwaise Sehnsucht nach Weite und Schönheit und Glück, einen unstillbaren Hunger nach Teilhabe. Doch die Welt ist starr. Ein für allemal sind die Lebenschancen verteilt. Der Putz der Oberschicht, der Anna Marias Augen in der Kirche kitzelt, ist nicht für sie bestimmt. Nur bei den Waschfrauen, denen sie zugeteilt wird, findet sie Verständnis für ihr Streben nach einem andern Leben. Seit sie die biblischen Geschichten vom Garten Eden gehört hat, sucht die «Bitzenin», wie man sie nennt, nach dem Paradies mit all seiner Pracht. Auf einem Schlachtfeld, inmitten von Toten, setzt ihr ein Chinafahrer ins Ohr, dass es einen Garten gebe, dem kein andrer gleicht: Versailles. Versailles wird für sie zum gelobten Land.

Es ist gegen alle Regeln. Eine niedrig Geborene will sich mit ihrem Geschick nicht abfinden. Sie löst sich von dem Waschzuber, der ihr für immer zugedacht war, und schwindelt sich in einen besseren Stand. Erst schleicht sie sich als Waschfrau ins Haus des mächtigsten Mannes in Schwyz, des Landammanns Joseph Anton Reding. Dort beobachtet sie die höheren Sitten und Rituale. Dann macht sie sich auf nach Frankreich. Der Sprache nicht mächtig, nistet sie sich in der Seigneurie Montlau in der Dordogne unter falscher Flagge ein und gibt sich als Tochter Redings aus − eine vornehme Dame, dem vorbestimmten Leben als Nonne entflohen, verwirrt, in Lumpen, doch aus angesehenem Haus. Was sie bei Reding gelernt hat, gibt sie nun graziös zum besten. Von hier aus will sie nach Versailles. Kurz aber bevor sie das Ziel erreicht, wird ihr meisterliches Verkleidungsspiel entlarvt. Schwyz verurteilt die kaum zwanzigjährige Bitzenin, nachdem sie schon früher zweimal wegen Diebstahls der Peitsche zugeführt worden war, zum Tod. Und da begibt sich Unerhörtes: eben jener Chinafahrer vom Schlachtfeld heiratet sie vom Galgen weg, wie ein altes Gesetz es erlaubt.

Auch der Chinafahrer ist ein Niemand und Hochstapler, nämlich der junge deutsche Gerberssohn und vagierende Studiosus Magnus Weber. Lange hat der vornehm auftretende Fremde scheinbar der wirklichen Tochter Redings den Hof gemacht, und hat diese ihn zum Mann haben wollen, bis er sich als sozialer Niemand und unehelichbar erwies. Sie holt sich von ihm doch einmal noch, was ihr verzweifeltes Leben will, während einer langen Chaisefahrt im Kreis herum, bevor das gesellschaftliche Schicksal sie ins Kloster zwingt.

Die Geschichte ist eine Hymne auf die Eigenwilligkeit. Die Bitzenin hat Launen, sie lügt, stiehlt und betrügt. Sie ist schlau und zäh und stark, widerstands- und leidensfähig, gierig nach Neuem, hungrig nach Leben und verwehrter Welt. Ihr nicht zu brechender Selbstbestimmungswillen nimmt eine neue Zeit vorweg.

Margrit Schriber hat diese berührende Liebesgeschichte der Wäscherin und des fremden Chinafahrers aufgrund von Ratsprotokollen und anderen Archivalien der historischen Anna Maria Inderbitzin gestaltet, die Anfang des 18. Jahrhunderts dreimal wegen Schelmerei, Hochstapelei und Vagantentum im welschen Land verurteilt wurde. Der Grad geschichtlicher Genauigkeit, ja dass es diese Frau überhaupt gegeben hat, ist indes ohne Belang. Diese in sich stimmige Geschichte braucht keine aussernarrative Authentizität, keine Verbürgung durch Quellen. Anschaulich leuchtet die Zeit aus den zahlreichen, minutiös genauen, bildersatten, koloritversprühenden Beschreibungen heraus.

Erzähltechnisch gleicht das reich facettierte Arrangement, gleichen diese vielstimmigen Mitteilungen aus einer Welt des Jammers, einem Theaterstück. Die Schauplätze wechseln, historische Erzählzeit und Rückblenden fliessen ineinander. Augenzeugen geben belastende Auskunft vor einem Tribunal, das es zum letzten Gericht denn doch nicht bringt. Die Waschfrauen, die mit Anna gearbeitet haben, mischen sich ein mit ihren Meinungen, als kommentierender Chor; worauf ihre poetisch überhöhte Sprache hindeutet.

Ein Einwand zuletzt: das Buch erinnert in Machart, Thema und Tonalität aufs deutlichste an den − vielleicht noch stärkeren − Vorgänger «Das Lachen der Hexe», zu seinem Schaden, weil sich ein »Déja-lu»-Effekt einstellt. Künstler sollten sich nicht wiederholen.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Zürich

Ins Début mit 11 Geschichten

Anja Jardine: «Als der Mond vom Himmel fiel». Zürich: Kein & Aber, 2008.

Unter den Débuts des Frühjahrs 2008 sticht der Erzählband «Als der Mond vom Himmel fiel» von Anja Jardine hervor. Präzise, atmosphärisch dicht erzählt die Autorin in 11 Geschichten von Menschen, die auf ihr Glück warten. «Possibly maybe probably love» ist im Vorspann die Sängerin Björk zitiert: Es könnte sein, vielleicht wahrscheinlich.

Als Beobachterin besitzt Anja Jardine, Redaktorin beim NZZ-Folio in Zürich, ein scharfes Auge für abschüssige Details und sublime Signale. So in der Erzählung «Badnjars Augen». Unmittelbar nach Ende des Bosnienkrieges begleitet eine Reporterin den vertriebenen Bosnier Mevsud nach Sarajevo zurück. Die Behörden haben ihn ausgeschafft, kaum ist ein brüchiger Friede geschlossen worden. Seine alte Wohnung im Stadtteil Ilidja ist noch von den Serben besetzt, doch Mevsud möchte sie wiedersehen – und vor allem seinen serbischen Nachbarn und Freund besuchen, bevor er laut Friedensvertrag wegzugehen hat. Vor dem Haus begegnen sie Badnjar. Brutal und dumpf gefällt er sich in der Pose des bewaffneten Kriegers – wenn seine Augen nicht wären. «Es liegt etwas Bittendes darin, ein Flehen.» Während Badnjar sich gleich wieder fasst, verfolgt sein Blick die Erzählerin in ihre Träume.

Geduldig und behutsam forscht Anja Jardine ihren Figuren nach, die unglücklich, unstet, unbeholfen auf der Suche nach dem Glück sind. In der Liebe könnte sich dieses erfüllen, doch häufig weht es bloss wie ein flüchtiger Duft an ihnen vorüber. Ihre Protagonisten sind freundliche Menschen in Lebenslagen, die manchmal zum Verzweifeln sind. Beispielsweise in «Kreidehände», einer hinreissenden Reminiszenz an die Leiden der Gymnasialzeit. Die Dispute zwischen dem wunderlichen Physiklehrer Opitz und seinem gefährdeten Schüler Kalle drehen sich um die Freiheit: «Um die Frage, ob die Gesetzmässigkeiten, nach denen unsere kleinsten Bausteine agierten, überhaupt Raum für den freien Willen liessen.» In einem Anflug verzweifelten Aufbegehrens will Kalle seinem Lehrer beweisen, dass es einen Moment der Freiheit tatsächlich gibt: wenn zwei Menschen unabhängig voneinander aus unterschiedlichen Stockwerken von einem 75 Meter hohen Haus stürzen, können sie sich im Flug begegnen: dann sind sie «3,7 Sekunden lang nicht allein». Doch Opitz weist ihm kühl einen Rechenfehler nach. Der Mensch ist zur Freiheit geboren, vielleicht, aber es ist schwer, diese Freiheit zu erkennen und zu bewahren.

Anja Jardines Erzählband überzeugt durch seine Hingabe an die zwischen Beharrlichkeit und Selbstaufgabe schwankenden Figuren und durch ein beeindruckendes Feingefühl für deren Nichtverstehen, das den Geschichten jederzeit etwas unauflösbar Hintergründiges lässt.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

Im Garten mit Niki

Niki de Saint Phalle, «Der Tarotgarten». Wabern/Bern: Benteli, 2008.

Das Tarot mit seinen Karten – insbesondere die 22 grossen Arkana – geht vermutlich auf die Bildsymbole altägyptischer Priester zurück. Im 15. Jahrhundert sind in Italien die ersten Kartenspiele dieser Art nachweisbar; sie waren auch von Kirche und Päpsten geachtet. Die grossen Arkana, die vermutlich archetypische Vorstellungen abbilden, die auch kabbalistische Ursprünge haben und den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets entsprechen, findet man zum Beispiel im Dom von Siena dargestellt. Antonia Mantegna war nur einer der bekannteren unter zahllosen Künstlern, die Tarotkarten gestalteten. Das Tarot bedeutete auch für Niki de Saint Phalle eine Möglichkeit, tiefere Einsichten in das Leben zu erlangen. Sie hat mit unvorstellbarem Arbeitseinsatz ihre eigene plastische Variante monumentaler grosser Arkana im Süden der Toscana in einem Garten gestaltet, wobei sie ihrer Vision einer grossen Gartenanlage im Stil von Antonio Gaudís Parc Güell und dem Vorbild des verwunschenen Sacro Bosco in Bomarzo aus der Renaissancezeit folgte. Vor allem aus Keramik und Spiegelscherben gestaltete Oberflächen ermöglichen durch die Reflexion von Natur, Licht, Farben und Betrachter eine von ihrem Lebensgefährten und Mitgestalter Jean Tinguely vis-a-vis-ification genannte gleichzeitige Brechung und Sammlung des visuellen Mikro- und Makrokosmos.

«Der Tarotgarten» wird bereits in 5., unveränderter Auflage vom Benteli-Verlag herausgegeben. Auf vielen Fotos wird der in der Nähe von Capalbio in der Maremma gelegene Park in der Entstehungsphase und in seinem ursprünglichen, heute leider nicht mehr so schön erhaltenen Zustand gezeigt. Dazu kommen Niki de Saint Phalles Kommentare zu den begehbaren und sogar von ihr bewohnten monumentalen Skulpturen, übersetzt und typographisch in ihre Handschrift übertragen. Knapp und informativ wird am Ende der Lebenslauf der 2002 verstorbenen Künstlerin angefügt.

Mehr ist nicht nötig, um Lesern einen Eindruck zu vermitteln von der Buntheit, der Lebensfreude, der Monumentalität der Figuren und Gebäude. Kein Kunstkommentar, keine der hundertfach erschienenen biographisch-psychologisierenden Interpretationen könnte den Genius Loci so vermitteln, wie es dieses Büchlein tut, das somit auch keines Kommentars bedarf und allen ehemaligen und zukünftigen Gartenbesuchern, Niki-Fans oder Geniessern des Aussergewöhnlichen und Schönen empfohlen werden kann.

«Wenn das Leben ein Kartenspiel ist, dann sind wir geboren worden, ohne die Regeln zu kennen. Und doch müssen wir mitspielen…» Diese Aussage Niki de Saint Phalles in ihrem Kommentar zum Tarotgarten mag man als Lebensweisheit begreifen oder nur als hübsche Formulierung wertschätzen – deutlich wird durch ihre Texte in diesem Buch, wie auch in der im gleichen Verlag erschienenen bebilderten Autobiographie «Harry and Me. Die Familienjahre 1950–1960», dass sie nicht nur eine bildende Künstlerin war, sondern auch auf dem Gebiet der Schriftstellerei ihr trotz allen Lebensleiden ungebrochenes Multitalent auszuleben vermochte.

vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Erlangen

Im Bilderbuch als Arbeitsloser

Lydia Zeller (Text) und Monika Maslowska (Illustration): «Suche Arbeit für Papa». Zürich: Bajazzo, 2008.

Kinderbuchwelten sind magische Welten. Kreativität, Phantasie und Liebe zu Sprache und Bild sind dort zu Hause. Und so macht Kinderliteratur auch neugierig: auf die Welt der Bücher, auf die Welt in einem selbst und, nicht zuletzt, auf die Welt draussen. Doch während das Träumen, das Erfinden und Verzaubern im Bilderbuch seit je gang und gäbe ist, kommt der Darstellung sozialer Realitäten, jener «Welt da draussen», kaum Bedeutung zu. Dabei sind es gerade die Fragen des Alltags, die Kinder beschäftigen. Avancierte Publikationen, wie Armin Greders «Die Insel» zum Thema Fremdenfeindlichkeit, Wolf Erlbruchs «Ente, Tod und Tulpe» oder Jens Thieles «Jo im roten Kleid», die mit Scherenschnitten kongenial illustrierte Geschichte eines Coming-out, sind dennoch eher an den Rändern als im Zentrum des kandierten Kinderbuchkosmos zu finden. Immerhin: es gibt sie, die kleinen Schritte, die die Vermählung der Welten vorantreiben. Mit dem im Zürcher Bajazzo-Verlag erschienenen «Suche Arbeit für Papa» von Lydia Zeller (Text) und Monika Maslowska (Illustration) ist nun auch das Prekariat im Bilderbuch angekommen. Und siehe da, diese vermeintlich seltsame Hochzeit funktioniert vorzüglich.

Der Papa, um den es hier geht, ist arbeitslos. Früher hat er Autos lackiert, jetzt sitzt er bloss herum und meckert, wird leicht wütend und geht allen auf die Nerven. Grund genug für den kleinen Oskar, etwas gegen diesen Zustand zu tun. Sein an einen Baum gepinnter Zettel «Suche Arbeit für Papa. Er kann es super mit Autos!» zeitigt zwar zunächst nur einen Wutanfall des Vaters, aber eben auch den Anruf eines Nachbarn, an dessen Auto «irgendwas kaputt» ist. Papa repariert den Motor, entschliesst sich zu aktiver Arbeitssuche und nimmt Oskar in die Arme. Der Text schildert Oskar als subtilen, scheinbar naiven Widerständler. Dabei nennt er die Dinge auch beim Namen, ohne sie ins Schauerliche zu ziehen: der Vater «schimpft fürchterlich» und «brüllt», ist «ungeduldig»; wenn er mal bei Oskars Schulaufgaben helfen soll, sagt, er sei «doch kein Pantoffelheld» und man traut ihm schon zu, jemandem eine «runterzuhauen». Dennoch ist der Text nicht bleischwer und erdrückend. Dafür sorgt der unaufdringliche Humor ebenso wie der Verzicht auf eine schulmeisterliche Moral – und am Ende versöhnt der hoffnungsvolle Ausblick, der eben kein kitschiges Happyend ist, auch für die bisweilen gespürte Kalkuliertheit des Textes.

Besonders delikat gestaltet sich bei realitätsnahen Kinderbüchern die Aufgabe der Illustratoren. Einerseits sollte ja der Stimmung des Texts entsprochen, andererseits die kindliche Schaulust nicht enttäuscht werden. Dieser Spagat gelingt Monika Maslowska glänzend, mit einem Stil, den man so im Kinderbuch noch kaum gesehen hat. Ihre ausdrucksstarken Bilder, für die sie kein glattes, sondern strukturiertes Papier wählt und die so rauh wirken wie der Stoppelbart des antriebslosen Papas, sind grossflächig und reduziert, vernachlässigen aber trotzdem nicht jene Details, die Bilderbücher zu Seherlebnissen machen. Schön, wie nach Papas Wutanfall zwar ein zerbrochener Teller am Boden liegt, aber der Kaktus bereits eine Knospe trägt (die im letzten Bild auch aufblüht). Beeindruckend, wie mit hellen und dunklen Tönen, mit Licht und Schatten Atmosphäre erzeugt wird, wie die Innen- und Aussenräume zueinander in Beziehung gesetzt werden und wie variierende Perspektiven und Raumkompositionen zum genauen Hinsehen einladen. Erfrischend die Figuren, die ohne gefühlige Niedlichkeiten auskommen und dennoch einzunehmen vermögen (Oskar verpasst seinem Vater ein «Ausser Betrieb»-Schild, bald darauf ist Papa glatt rasiert, pfeift beim Staubsaugen). So wie in «Suche Arbeit für Papa» könnten aus peripheren Bereichen eines Genres, nämlich der Darstellung sozialrelevanter Realität, durchaus Traditionen werden. Ein Kinderbuch als Schau- und Gesprächsanlass für alle Generationen – ein Glücksfall.

vorgestellt von Jens Nicklas, Innsbruck

Im Hexenkessel der Glarner Patrizier

Michael Hauser: «Der Justizmord an Anna Göldi». Zürich: Limmat, 2007.

Unsere Zeit liebt Rekorde. Auch traurige. Deshalb ist Anna Göldi, die letzte Hexe Europas, das namentlich wohl bekannteste Opfer der grimmen Verfolgung, die zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert im Alten Reich und in der Schweiz allgemeinen Schrecken auslöste. Es gehört zu den Vorzügen des weithin beachteten und inzwischen schon in 3. Auflage erschienenen Buches von Walter Hauser, unaufdringlich und nachdrücklich nachzuzeichnen, wie in der engen Gemeinschaft eines Schweizer Kantons ein Hexenprozess benutzt wurde, um anders anscheinend nicht lösbare soziale und politische Konflikte auszutragen. Die überzeugend vorgetragene Grundthese des Buches lautet: Die Magd Anna Göldi wurde 1782 in Glarus das Opfer von Machtkämpfen zwischen Patrizierfamilien, die sich ihrer jahrhundertealten Vormachtstellung nicht mehr sicher sein konnten. Insofern war dieser Prozess ein Vorbote der Französischen Revolution. Gestützt auf unerschütterlichen Standesdünkel und christlich-fundamentalistischen Rigorismus – im Zentrum eine lebensfremde und körperfeindliche Sexualmoral –, wollte eine gefährdete Oberschicht unbeirrt ihren absoluten Führungsanspruch durchsetzen. Demgegenüber ist der angebliche magisch-dämonologische Prozessanlass – der einzige Aspekt, der überhaupt berechtigt, von einem Hexenprozess zu sprechen (die Ankläger mieden dieses Wort peinlich) – eine dürftige Fassade. Wegen einer lächerlichen Ungezogenheit soll die Magd dem Patriziertöchterchen Annamiggeli Tschudy Mittel verabreicht haben, die dieses unter heftigen Anfällen zum wochenlangen Auswürgen von über hundert «Gufen» (Stecknadeln) und anderen metallenen Gebilden gezwungen habe. Die plausible und manchmal auch packende Darstellung des zerbrechlichen sozialen Gefüges und der Ängste der (noch) Herrschenden vor dem Machtverlust, die diese rücksichtslos auch zu äussersten Mitteln greifen lassen, gehört zu den Stärken des Buches. Letztlich kann aber auch Hauser bei aller umsichtigen kulturhistorischen Einbettung dieses Falles keine letztgültige Erklärung finden, warum man sich in Glarus noch zur Zeit der Aufklärung denn ausgerechnet eines Hexenprozesses bediente, um die soziale Hierarchie zu verteidigen.

Trotz seinem Engagement – gerade auch für die Rehabilitierung von Anna Göldi – verzichtet Hauser wohltuend auf naheliegende Emotionalisierungen des Themas. Die fachliche Nutzung des Buches, das teilweise auf eigener Quellenrecherche beruht, wird allerdings durch das Fehlen jeglicher Stellennachweise erschwert. Unkritische Etikettierungen wie «Hexenwahn», «mittelalterlicher Aberglaube» oder «mittelalterlich anmutender Strafprozess» unterschreiten das sonstige Niveau des Buches deutlich. Ebenso die abwegige Behauptung, Martin Luther habe Hexenprozesse zur Durchsetzung der Reformation eingesetzt, obwohl Luthers Ansichten zu diesem Thema nur aus den von anderen zusammengetragenen und postum veröffentlichten Tischreden bekannt sind. Aber das sind Ausrutscher in einem sonst mit Gewinn zu lesenden Buch.

vorgestellt von Michael Mühlenhort, Gütersloh

In die Moderne mit Denkern

Ursula Amrein: «Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880 bis 1950». Zürich: Chronos , 2007.

Die Geschichte der Intellektuellen und ihrer Einflussnahme auf Politik, Gesellschaft und Kultur im 20. Jahrhundert muss noch geschrieben werden. Dass in ihr eine verheerende, eine deprimierende Bilanz zu ziehen wäre: wer wollte dies ernsthaft bezweifeln? Ursula Amrein schlägt in ihrer Sammlung andernorts bereits publizierter Essays das schweizerische Kapitel dieser Geschichte auf. Anhand von Beispielen aus dem Zeitraum zwischen 1880 und 1950 macht sie augenfällig, wie sich das Selbstbild des Landes durch Zutun von Geistesgrössen verschiedenster weltanschaulicher Couleur verändert hat. Dabei gelingt es ihr auf überzeugende Weise, relevante Akteure (wie Robert Faesi, Caesar von Arx oder Oskar Wälterlin), prägende Denkfiguren und das mitunter politisch heikle Ineinandergreifen des institutionellen Räderwerks der Kultur zu charakterisieren. Das Spektrum der behandelten Themen umfasst dementsprechend neben der Genese einer emphatisch so verstandenen Schweizer Literatur unter anderem auch den langfristigen Einfluss der antimodernen, seit 1890 etwa virulenten Heimatkunst-Bewegung auf die 1938 dann vom Bundesrat zum kulturpolitischen Ziel erklärte «geistige Landesverteidigung».

Was dagegen deutsche Literatur sei und welchen Einfluss auf deren Wahrnehmung schweizerische Medien nahmen, erhellt der Beitrag über die Exiljahre Else Lasker-Schülers und Thomas Manns. Sinnvoll abgerundet wird der Band durch den Ausblick auf die Nachkriegszeit. Das vermeintliche «Dioskurenpaar der Schweizer Literatur», Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, dient dabei dazu, exemplarisch die problematischen Prämissen erkennbar zu machen, die in deren Stigmatisierung als Schweizer Autoren manifest werden.

Schlaglichtartig, aber dennoch mit systematischem Anspruch, erhält der Leser so wichtige Einblicke in die Theater-,

die Wissenschafts- und die Literaturgeschichte der Schweiz im Zeitalter der Moderne. Häufig genug handelt es sich dabei auch um Lehrstücke im Umgang mit importierten Problemen, mit den Fremden und dem Fremden und dem, was man jeweils dazu erklärt. Hinsichtlich der gewählten Methode liesse sich hier kritisch fragen, warum eigentlich die Wiener Moderne, warum die österreichische Literatur bei diesen Überlegungen gänzlich ausgespart bleibt – «Los von Berlin!» war schliesslich keinesfalls die einzig denkbare Option. Ob am Ende tatsächlich genug Raum im deutschsprachigen Kulturraum ist für gleich drei bedeutende, mehr oder minder feinsinnig differenzierte Nationalliteraturen deutscher Sprache, muss an dieser Stelle glücklicherweise nicht entschieden werden.

Welch enormen Einfluss aber Projektionen des Zeitgeistes auf die Beantwortung solcher Fragen haben, wird im vorliegenden Band mehr als deutlich . Weil in ihm einige der eher unerquicklichen Seiten der Moderne ins helle Licht gerückt werden, sollte er als ein wichtiger Beitrag auch zur Mentalitätsgeschichte schweizerischer Eliten verstanden werden. Für diesen Zweck freilich hätte dem Band ein wenig mehr an Synthese gut getan: ein «Vorwort» von zwei Seiten kann bei einem solchen Thema nicht hinreichend sein; ein Register hätte die zugrundeliegenden akribischen Quellenstudien überdies noch besser zur Geltung kommen lassen. Doch insgesamt legt es diese wohltuend nüchterne Arbeit nahe, das öffentlichkeitszugewandte Verhalten von Intellektuellen in allen seinen Facetten wie im allzu evidenten Willen zur Macht einmal mehr kritisch zu bedenken. Und das kann ja bestimmt nicht schaden.

vorgestellt von Anett Lütteken, Bern

Vielfarbig in fremde Welten

Katharina Geiser: «Rosa ist rosa». Zürich: Ammann Verlag, 2008.

Trügerisch einfach wirkt der Titel von Katharina Geisers Erzählband: «Rosa ist Rosa». Dabei offenbart er auf gut 200 Seiten ein gewaltiges Farb- und Tonspektrum. Siebzehn Erzählungen führen uns aus der Schweizer Bergwelt nach Spanien und Sibirien, nach Dresden und Paris. Wir reisen von einer zeitlos anmutenden Gegenwart – zeitlos vor allem, weil das Überzeitliche der Natur stets präsent ist – in das nicht wirklich vergangene 20. Jahrhundert, dessen Kriege und Umwälzungen bis heute Lebensläufe prägen. Vom Krieg erfahren wir hier aus der Perspektive von Kindern, die den Vater verlieren, ihn, wie in der Erzählung «Biester und Bister», auch wieder bekommen, unübersehbar versehrt, aber nicht zerstört, weil die Seele widerständiger scheint als der Körper.

Das Visuelle stiftet einen Zusammenhang zwischen dem, was zeitlich und räumlich so weit auseinanderliegt, das Sehen ist Voraussetzung für das Erinnern, Kommunizieren und Schreiben. Und so klingt im Titel der Erzählung «Sehnot» nicht zufällig dessen existentielle Bedeutung an. Die Malerei ist Gegenstand mehrerer Erzählungen, untrennbar verknüpft mit dem Leben der Protagonisten. Im Porträt der deutschen Malerin Paula Modersohn-Becker, «Die Zitrone in der Rechten», die sich 1906 im Pariser Louvre in die Betrachtung eines ägyptischen Mumienporträts versenkt, könnte auch die Poetik der Autorin enthalten sein: «Die Vergangenheit ist greifbar und gleichzeitig verborgen … Wenn man in Bann gezogen wird, hilft nur die stumme Zwiesprache.» Aus ihrer Zwiesprache mit der Natur, mit der Kunst, der Geschichte und mit den Menschen, die sie verkörpern, gestalten, in sich tragen, gewinnt Katharina Geiser den Stoff, die Farben und Klänge für ihre ungemein sinnlichen Erzählungen. Sie erzeugt damit einen Rausch und einen Sog, denen man im Lauf der Lektüre verfällt, selbst wenn man am Anfang vielleicht noch mit manchen manierierten Spielereien hadert. Im Kontext dieses in unzähligen Farben funkelnden Bandes treten sie selten genug auf, um überlesen zu werden. Wer sich voll und ganz auf die Texte einlässt, wird reich beschenkt, taucht ein in kleine und grosse Seen, die Schönheit und Schrecken zugleich symbolisieren, in vergangene und fremde Welten, vor allem aber in die Seelen von Geisers Figuren. Das ist beglückend – die Liebe, den Schmerz, die Trauer, die Angst, den Übermut nachempfinden zu können, die mit Sprache so plastisch gestaltet werden wie jener heitere Sommertag am Zürichsee, dem die Nacht ein in jeder Hinsicht finsteres Ende setzt, wie in der Erzählung «Liberta». Wenn Erzählungen eine solche Strahlkraft entwickeln, dann lassen sie in unserer Vorstellung die Figuren, ob real oder erfunden, tatsächlich lebendig werden.

vorgestellt von Patricia Klobusiczky, Berlin

Ins Glück trotz dickem Hintern

Katharina Wille-Gut: «Der Name der Hose». Oberhofen: Zytglogge, 2008.

Niemand, der Brian De Palmas Filmadaption von Stephen Kings Horrorklassiker «Carrie» gesehen hat, wird je vergessen, was ein geschmackloser Scherz auf einer Schulfeier in der Seele eines weiblichen Teenagers anrichten kann. Über die 14jährige Eveline ergiesst sich zwar kein Eimer mit roter Flüssigkeit, doch die lautstarke, wenig schmeichelhafte Bemerkung, den Umfang ihres Hinterteils betreffend, die sich ein gewisser Patrick während des Oberstufenfestes nicht verkneifen kann, ist in ihrer Wirkung kaum weniger traumatisierend. Zumal es sich bei dem frechen Buben um den heimlichen Schwarm des pubertierenden Mädchens handelt.

Was nun folgt, ist allerdings nicht die Geschichte einer krankhaften Essstörung. Schliesslich befinden wir uns nicht in einem Psychodrama, sondern in einem eher heiteren Erzählwerk mit dem kalauerverdächtigen Titel «Der Name der Hose». Denn Jahre später, die Wunden der frühen Jugend sind längst vernarbt, pflegt Eveline noch immer ihre, wie sie es selbst formuliert, «beträchtliche Macke in Sachen Figur». Sie sucht nach den perfekten Jeans, einer Hose, die so gut sitzt, dass die «viel zu dicken Oberschenkel zu Normalform schrumpfen» und «den Po genau richtig» formen. Und weil Eveline gerade klamm ist, nimmt sie ein solch gutes Stück auch schon einmal mit, ohne zu bezahlen. Dies wird ihr zu Beginn der Erzählung zum Verhängnis. Von einer Ladendetektivin ertappt, kann sie in einer slapstickreifen Szene nur unter Zurücklassung ihrer Handtasche entkommen. Ohne Wohnungsschlüssel und Geld schmeckt die soeben gewonnene Freiheit nur halb so gut, vor allem, wenn man, wie Eveline, davon überzeugt ist, dass sich die Polizei bereits an ihre Fersen geheftet hat.

Eine hübsch verfahrene Ausgangssituation also, die einiges an komischem Potential in sich birgt. Doch leider haben wir es bei Eveline mit einer Erzählerin zu tun, deren Mitteilungsbedürfnis unerschöpflich zu sein scheint. Dabei besitzt die Handlung, die sich die unter dem offensichtlichen Pseudonym Katharina Wille-Gut schreibende Autorin zusammenfabuliert hat, durchaus das Zeug zu einer ansehnlichen Fernsehkomödie, vorausgesetzt ein begabtes Filmteam bemächtigt sich ihrer. Evelines Hosentick erweist sich nämlich nicht nur im negativen Sinne als schicksalhaft; denn am Ende darf unsere Heldin nicht nur als Modeschöpferin reüssieren, sondern findet auch noch ihr ganz privates Glück als Ehefrau und Mutter, übrigens nachdem sie ihre kurze Karriere als Unternehmerin beendet hat. Dass sie nebenbei ihren Traummann mit detektivischem Geschick aus den Fängen einer gerissenen Betrügerin befreit, verleiht dem Hosenmärchen eine ganz besondere Note. Was dessen Verfilmung betrifft, möchte ich mich allerdings korrigieren. Wer einen Eindruck davon gewinnen will, wie eine kongeniale Umsetzung dieses Buches aussehen könnte, sollte unbedingt den Fernseher anstellen, wenn wiedereinmal eine der noch immer beliebten Hollywood-Komödien aus den frühen Sechzigern mit Doris Day und Rock Hudson gezeigt wird.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

In Schwamendingen mit einer Schweizerin

Susann Sitzler: «Vorstadt Avantgarde. Details aus Zürich-Schwamendingen». Zürich: Limmat, 2007.

Alltag ist höchst subjektiv, heisst es an einer Stelle von «Vorstadt Avantgarde». Höchst subjektiv wird auch diese Besprechung. Die Schweizer Journalistin Susann Sitzler, die eigentlich in Berlin lebt, verbrachte im Frühjahr 2006 drei Monate in Schwamendingen. Aus diesem Aufenthalt sollte ein Buch werden, das dem in Verruf geratenen Quartier gerecht wird. Schwamendingen – Ausländerghetto? Bünzlitown? Bauerndorf? Sitzler fragte nach, und Stefan Altenburger steuerte auf besondere Art und Weise glänzende Fotografien bei. Schwamendingen also. Offenbar ein beredtes Wort, für mich bloss ein wohlklingendes. Ich wohne in Wien, nach Zürich sind es zehn Zugstunden. Ausserdem trennt mich die Medienlandschaft und eine Landesgrenze vor internschweizerischem Basiswissen. Bin ich also unwürdig, diese «Details aus Zürich-Schwamendingen» zu besprechen? Nein. Was mich als Rezensent für dieses Buch qualifiziert, steht schon im Vorwort, nämlich, dass die meisten Leute in der Schweiz noch nie in Schwamendingen gewesen seien.

Sitzler geht behutsam vor, doch verleugnet sie sich nie. In den Fliesstext montiert sie mitunter scharf formulierte Tagebucheinträge. Der Wille, dem Quartier etwas Gutes zu tun, ist an manchen Stellen herauszulesen, doch im ganzen verschweigt Sitzler nichts, sondern ist sichtlich um Objektivität bemüht. Sie hat fleissig recherchiert, fährt mit Daten auf und analysiert sachlich. Dennoch ist den Schilderungen von Begegnungen mitunter anzumerken, wie sehr sich die Interviewerin zusammenreissen musste, um nicht aus der Rolle zu fallen. Vieles in Schwamendingen sei auf kleine, bescheidene Bedürfnisse ausgerichtet, aber: «Nichts ist so unsexy wie kleine, bescheidene Bedürfnisse.» Doch Sitzler überlässt es den Lesern, sich ein Bild über den längst vorverurteilten Stadtteil und die von ihr befragten Einwohner zu machen. Sie zeichnet einerseits ein schillerndes, andererseits ein von unübersehbaren Grautönen geprägtes Gemälde. Eines, das nicht in das Wohnzimmer vergangenheitsorientierter Schweizer passt, sehr wohl aber in eine immer schneller sich verändernde und weiterentwickelnde Gesellschaft. «Schwamendingen» steht daher nicht nur für den Kreis 12, sondern gewissermassen für die Schweiz an sich: «Reinhards Schwager kommt von den Philippinen. Als er zum ersten Mal in Schwamendingen war, sagt er: ‹Die Schweiz muss ein totes Land sein. Überall sind Wiesen, und nirgends sieht man darauf einen Menschen. Warum ist das wohl so? Warum nutzt niemand diese weitläufigen, allgemein zugänglichen Rasenflächen zwischen den Genossenschaftshäusern?› ‹Vielleicht ist das eine schweizerische Eigenart›, meint Reinhard.» Sitzler ist der Ansicht, dass das ganze Land von Schwamendingen profitiere, da man hier erkennen könne, was einen störe am Leben in der Schweiz. Es sei gut, dass die Schweiz Schwamendingen habe. Und es ist gut, dass nicht nur Schwamendingen dieses Buch hat.

vorgestellt von Markus Köhle, Wien

In Unterwäsche aus Winterthur

Peter Niederhäuser: «Unterwäsche aus Winterthur. Die Industrie- und Familiengeschichte Sawaco Achtnich.» Zürich: Chronos, 2008.

Während der Gründerzeit wurde aus dem ländlichen Städtchen Winterthur, das wenige Kilometer nördlich von Zürich an den Flüssen Töss und Eulach liegt, eine Industriestadt. Firmen wurden gegründet und Fabriken gebaut, und auch Handwerksbetriebe siedelten sich an. Nach seiner Heirat im Sommer 1883 in Herrnhut bei Dresden, gründete Walter Achtnich eine Firma zur Herstellung von «patentierten Strümpfen und Socken rationeller Form» und brachte Familie und Firma nach Winterthur. Die Familie gehörte zur Herrnhuter Brüdergemeine, einer pietistischen Erweckungsbewegung, die für ihre handwerkliche Präzision und ihr strenges Arbeitsethos berühmt war. Die Ideale der Brüdergemeine – Fleiss, Bescheidenheit, Genauigkeit, Nächstenliebe – prägten auch die Unternehmenskultur.

Anfangs wurden nur Strümpfe gestrickt, aber schon bald wurde die Produktpalette erweitert, so dass 1914 aufgeführt wurden: «Jacken, Hemdhosen, Beinkleider, Untertaillen, Leibbinden für Damen; Jacken, Hemdhosen, Höschen für Kinder; Jacken, Hosen, Kragenschoner für Herren in Baumwolle, Wolle, Schappe, Chinaseide, auch gemischte und plattierte Qualitäten mit und ohne Fanstasie». In Europa und Nordamerika wurden neue Märkte erschlossen, und die Mechanisierung vereinfachte die Produktion – das Unternehmen florierte bis zur Weltwirtschaftskrise, als Zoll- und Exporthindernisse einerseits und Arbeitskämpfe anderseits den Abschwung einleiteten. Mit der Marke «Sawaco» – Akronym des ursprünglichen Firmennamens (Société Anonyme W. Achtnich & Co) – versuchte 1922 Martin Achtnich, der Sohn des schon 1907 gestorbenen Gründers, einen Neuanfang. Mit solider Unterwäsche und Sportkleidung überlebte die Firma bis in die siebziger Jahre, als sich das Kaufverhalten und die Ansprüche der Kunden drastisch änderten. Nachdem 1970 das Warenhaus Globus als Grossabnehmer die Sawaco-Modelle als bieder und grob ablehnte, versuchte die Firma mit «Champagnerwäsche» und Designerkollektionen noch einmal eine neue Positionierung. Aber den Strukturveränderungen der Märkte und dem immer rascheren Wechsel der Mode war das Familienunternehmen nicht gewachsen, und 1984 ging es in den Mäser-Konzern ein. Von da an wurde die «Schweizer Qualität», für die die Firma gestanden hatte, unter österreichischer Kontrolle hergestellt.

Die wirtschaftliche Entwicklung der Firma spiegelt sich auch in der Architektur wider. Von dem ersten, bescheidenen Fabrikgebäude von 1884 an der Neuwiesenstrasse, über den Industriebau in Sichtbackstein und mit hydraulischem Aufzug von 1894, der mehrmals erweitert werden musste, bis zu der «modernsten Wäschefabrik der Schweiz» von 1969 an der Industriestrasse, lässt sich die Erfolgsgeschichte verfolgen. Als die alten Hallen, die das Neuwiesenquartier geprägt hatten, 1978 abgerissen wurden, signalisierte ihr Verschwinden die wirtschaftliche Strukturkrise. Die Geschichte der Achtnich-Fabrik ist nun in einer Publikation des Historischen Vereins Winterthur dokumentiert worden. Darin wird leider nur eine eher historische Darstellung wirtschaftlicher Verhältnisse geboten, statt Firmen- und Familiengeschichte zu einem sozial- oder gar sittenhistorisch relevanten Überblick zu verweben.

vorgestellt von Stefana Sabin, Frankfurt a.M.

In den Kissen des deutsch-arabischen Diwans

Ilma Rakusa & Mohammed Bennis (Hrsg.): «Die Minze erblüht in der Minze. Arabische Dichtung der Gegenwart». München: Hanser, 2007.

Wer aus Leichtsinn historische Augenblicke verpasst, den bestraft das Leben. Als an einem Vorfrühlingstag des Jahres 2000 das Telefon klingelte und mich eine Frauenstimme in gebrochenem Englisch dazu einlud, als Lyrikkritiker an einer deutsch-arabischen Dichterbegegnung im Jemen teilzunehmen, sagte ich aus fadenscheinigen Gründen ab. Jemen – das schien in einer so exotischen Ferne zu liegen, dass eine Dichterbegegnung zwischen arabischen Poeten und ahnungslosen deutschen Autoren und Journalisten wenig produktive Ergebnisse versprach. Die Stimme am Telefon gehörte der irakischen Lyrikerin Amal al-Jubouri, und das von ihr mit viel Geduld und noch mehr Überredungskunst organisierte Dichtertreffen fand dann tatsächlich im September 2000 statt. Es wurde zum Ausgangspunkt eines arabisch-deutschen Literaturdialogs, der eine jahrzehntewährende Phase der interkulturellen Indifferenz beendete. Erst seit dieser Begegnung hat Goethes Utopie aus dem «West-Östlichen Diwan» wieder eine Chance: «Wer sich selbst und andere kennt,/ Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.»

Die substantiellsten Beiträge zu dieser Wiedererweckung des europäisch-arabischen Dialogs verdanken wir neben Amal al-Jubouri dem Übersetzer und Essayisten Stefan Weidner und der in Zürich lebenden Dichterin Ilma Rakusa, die seit vielen Jahren die Schnittpunkte nicht nur zwischen den west- und osteuropäischen Literaturen, sondern eben auch diejenigen zwischen Orient und Okzident auslotet. Die von Ilma Rakusa und dem marokkanischen Lyriker Mohammed Bennis unter dem Titel «Die Minze erblüht in der Minze» herausgegebene Anthologie zur «Arabischen Dichtung der Gegenwart» legt nun beeindruckende Ergebnisse dieser Dichterbegegnungen vor. Neben ausgewählte Gedichte der wichtigsten arabischen Poeten, wie Fuad Rifka, Mahmud Darwish oderAdonis, treten sehr konzise Essays von Stefan Weidner, Klaus Reichert oder Abbas Beydoun, die in knapper Form die literaturhistorischen Wurzeln und aktuellen Metamorphosen der arabischen Poesie freilegen. Der aufregendste Beitrag stammt von Stefan Weidner, der die Schwierigkeit und Notwendigkeit einer neuen Koran-Übersetzung als einer Urquelle arabischer Dichtkunst erörtert. Die meditativen Intensitäten des Marokkaners Hassan Najmi und die metaphorisch disziplinierten Gedichte von Fuad Rifka zeigen, dass die arabische Poesie alles andere ist als «ein hochpathetisches und abstraktes Raunen», wie so mancher ignorante Literaturmensch hierzulande glaubt. Der libanesische Poet Fuad Rifka hat den Grundimpuls aller modernen Lyriker so benannt: «Er träumt / eine Frage zu sein / hinter allen Fragen.»

vorgestellt von Michael Braun, Heidelberg

Und immer wieder: Heidi

Hannes Binder / Peter Stamm: «Heidi. Nach einer Geschichte von Johanna Spyri.». München: Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, 2008.

Heidi ist eine vielbeschäftigte Powerfrau. Tagsüber steht sie sich in Schweizer Vorgärten die Beine in den Bauch, abends werden die verkrampften Waden wahlweise auf der Musicalbühne oder in japanischen Mangaclubs gelockert. Daneben nimmt sie PR-Termine für Milch-, Käse-, Schokoladen-, T-Shirt- und Nippesproduzenten wahr. Und nun hat Heidi also auch noch für ein Bilderbuch Modell gestanden. Eine weitere Stufe auf ihrer kommerziellen Karriereleiter?

Ein Blick auf den Umschlag des Bilderbuchs genügt, um festzustellen, dass Heidi hier nicht als Kindfrau und Pop-Mädchen vermarktet wird. Dieser Schwarzschopf im roten Kleid inmitten einer Ziegenherde ist weniger Klischee als Zitat, sein medienwirksames Dauergrinsen scheint einem stillen, in sich gekehrten Glück gewichen. Nun, wenn sich zwei in der Literaturwelt erfolgreich etablierte Schweizer, der Autor Peter Stamm und der Illustrator Hannes Binder, aufmachen, den Kinderliteraturklassiker ihrer Heimat neu zu erzählen, darf man auch ruhig ein gutes Buch erwarten.

Dem enggesteckten Rahmen eines Bilderbuchs geschuldet, schreitet die dichte Handlung rasch voran und schnell ist ein Jahr in Heidis Leben auf einer Seite abgehandelt. Als Gegenpol verweilt Stamm länger bei solchen Episoden, die jeweils eine neue Erfahrung für sie bedeuten. Sei es der erste Anblick der belebten Natur auf der Alp mit ihren vielen Tieren und Pflanzen oder die Enttäuschung über die vielen Dächer, Strassen und Mauern der fremden Stadt Frankfurt – hier tritt der markante Stil des Autors deutlich zutage. In plastischen Momentaufnahmen erzählt er in eindringlicher und dennoch konzentrierter, knapper Form von Heidis kindlicher Liebe und ihrem Vertrauen zu ihrer Umwelt, aber auch von ihrer Einsamkeit und Not.

Dass Peter Stamm dabei einen klaren, modernen Ton anschlägt, ist klug; auf diese Weise erreicht er nicht nur mühelos die Kinder von heute, sondern kann auch reichlich altmodischen Charme über seine Heidi-Geschichte streuen, ohne in Kitsch, Nationalpathos oder Volkstümelei zu versinken.

Kongenial dazu sind die Illustrationen von Hannes Binder. Mit Federmesser und schwarzem Schabkarton ritzt er Heidis Welt jenseits des Gewohnten in herbe, surrealistisch anmutende Bilder. Hügel und Wiesen scheinen bei ihm wie grüne Wellen ständig in Bewegung zu sein; träumt Heidi in Frankfurt von ihrer Heimat, schwappt der Wald regelrecht ins Bild. Während Binders Landschaften gleichsam atmen, wirkt seine Frankfurter Welt bedrückend irreal. In kleine Bilderabfolgen gedrängt, sind die Protagonisten im Hause Sesemann wie lebende Tableaus zu Szenenausschnitten arrangiert, die in ihrer Starrheit viel von Heidis Seelenlasten widerspiegeln.

Trotz dieser gelungenen künstlerischen Interpretation des Heidi-Stoffs ist beiden, Autor und Illustrator, anzumerken, dass sie sich angesichts dieses Nationalmythos in ihrem individuellen Ausdruck zurückgehalten haben. Ob dies löblich sei, bleibe dahingestellt.

besprochen von Alice Werner, Zürich

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