Schweizer Literatur in Kurzkritik VIII
Reisen und lange Auslandaufenthalte der Schweizer haben die Literatur um viele Bücher reicher gemacht. Der «Schweizer Literaturgeschichte», die nach
Meinung unseres Rezensenten misslungen ist, scheint das nicht geholfen zu haben.
8 Bücher, vorgestellt in der achten Folge der «Schweizer Literatur in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.
Schweizer Literaturgeschichte, missglückt
Mag sein, dass der Berner Germanist Peter Rusterholz recht hat und wirklich dringender Bedarf besteht an einer «Geschichte der Literatur aus der Schweiz, die sich nicht auf das 20. Jahrhundert beschränkt, sondern Literatur in historischer Entwicklung darstellt». Wahr ist, dass es an einer aktuellen Gesamtdarstellung fehlt, «die Texte nicht nur in rein literaturgeschichtlicher Perspektive sieht, sondern im Kontext der Geschichte der Kulturen, der Geschichte und Politik der Schweiz». Am Vorwort zu der neuen «Schweizer Literaturgeschichte», die Peter Rusterholz zusammen mit Andreas Solbach herausgegeben hat, mag manche Akzentsetzung überraschen – direkt widersprechen wird man ihm gewiss nicht. Nur: was diesem Vorwort folgt, löst den dort formulierten Anspruch nicht annähernd ein. Milder formuliert: diese «Schweizer Literaturgeschichte», deren giftgrünes Cover ein sein Pfeifchen schmauchender Dürrenmatt ziert, lässt viele Wünsche offen. Nein – man muss es doch noch ein bisschen deutlicher sagen: sie lässt ganz einfach zu viele Wünsche offen.
Der Kern des Übels liegt in der Gesamtkonzeption. Es geht nicht an, die von Doris Jakubec dargestellte «Literatur der französischen Schweiz» auf 40, die von Antonio Stäuble skizzierte «Literatur in [!] der italienischen Schweiz» auf acht und die merkwürdigerweise in zwei Kapiteln (Ricarda Liver, Clà Riatsch) erläuterte rätoromanische Literatur auf 20 Seiten abzuhandeln und alle zusammen an die 430 Seiten anzuhängen, die der deutschsprachigen Literatur des Landes vorbehalten sind. Hier stimmen die Proportionen nicht. Und auch innerhalb der ersten 430 Seiten stimmen sie nicht. Bei aller Liebe zu den beiden in ihrer (auch internationalen) literarischen Bedeutung gar nicht zu überschätzenden Dioskuren: 23 Seiten zu Max Frisch und sogar 31 zu Friedrich Dürrenmatt, insgesamt also 54 (noch dazu auf weite Strecken wenig inspirierte) Seiten – das ist im Kontext dieses Buches einfach zuviel des Guten. Das 20. Jahrhundert, das hier mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs einsetzt und Robert Walser, einen der grössten Schweizer Literaten jener Epoche, in die Zeit davor abschiebt, ist generell überrepräsentiert – auf Kosten der von Claudia Brinker kenntnisreich, wenn auch sehr konventionell dargestellten Literatur von den Anfängen bis 1700, vor allem aber auf Kosten der wegweisenden Werke des bei Rémy Charbon bis 1830 reichenden 18. und auf Kosten des bei Dominik Müller bis 1914 andauernden 19. Jahrhunderts, das vor allem durch das Œuvre von Gotthelf, Keller und Meyer Entscheidendes zur weltweiten Reputation der Literatur der deutschsprachigen Schweiz beigetragen hat. Soll man es begrüssen, wenn durch solche schiefen Gewichtungen Platz bleibt für Exkurse, etwa die sehr anregenden Bemerkungen Stefan Bodo Würffels zur Exilliteratur des 20. Jahrhunderts, oder die von Fred Zaugg vermittelten interessanten Einblicke in den «neuen Schweizer Film»? Um aus Elsbeth Pulvers Überblick über die Jahre von 1970 bis 2000 einigen Gewinn zu ziehen, muss man nicht mit jedem ihrer oft apodiktischen Urteile einverstanden sein. Und über Beatrice von Matts materialreichen und klugen Anmerkungen zum «Aufbruch der Frauen (1970–2000)», die Regula Fuchs durch einige Seiten über die Frauensituation nach 2000 bereichert, könnte man fast die grundlegende Frage vergessen, was ein solches Kapitel in einem solchen Buch eigentlich zu suchen hat. Man findet – naturgemäss, ist man versucht zu sagen – viel Wissenswertes und auch für die Fachwelt Interessantes in diesem mit nicht weniger als 195 Fotos und Abbildungen ausgestatteten, mit gelungenen Einzelporträts, bedenkenswerten Textinterpretationen und überraschenden Urteilen aufwartenden, in seiner Gesamtanlage allerdings auf merkwürdige Weise missglückten Kompendium, in dem übergreifende literarische Entwicklungslinien nur selten sichtbar- und politisch-soziale Kontextualisierungen kaum einmal plausibel gemacht werden.
Vom Lektorat müsste man überhaupt nicht reden – wenn es denn mit gebührender Sorgfalt und in ausreichendem Masse stattgefunden hätte. Das aber ist im Metzler Verlag, der 2007 seinen 325. Geburtstag begehen konnte und über Jahrzehnte hinweg höchst angesehen war, schon seit einigen Jahren kaum mehr der Fall. Dass peinliche Doppelungen die halbe Bibliographie unbrauchbar machen, dass man immer wieder auf falsche Namen und Jahreszahlen trifft und dass man viele weitere Druckfehler in Kauf nehmen muss, passt leider zum Eindruck des Oberflächlich-Schlampigen, den auch einige andere neuere Literaturgeschichten, Lexika und Handbücher aus diesem Verlagshaus bieten. Was hier vorliegt, ist ein bei aller Detailkenntnis und manch anregender Passage wenig überzeugendes und noch dazu schlecht lektoriertes Buch. Eine einleuchtend strukturierte, übersichtliche, zuverlässige und aktuelle «Schweizer Literaturgeschichte» lässt weiter auf sich warten.
vorgestellt von Klaus Hübner, München
Peter Rusterholz & Andreas Solbach (Hrsg.): «Schweizer Literaturgeschichte». Stuttgart / Weimar: J.B. Metzler, 2007.
Schweizer in Niederländisch-Indien…
1920 folgte die Bernerin Gret Herzog ihrem Verlobten, dem Basler Tropenarzt Kurt Surbek, nach Niederländisch-Indien, ins heutige Indonesien also. Dort lebte sie fünfundzwanzig Jahre, erst in sehr einfachen Plantagenspitälern auf Sumatra, die ihr Mann leitete, später in einem gemeinsam geführten Sanatorium auf Java, bevor mit der japanischen Besetzung der holländischen Kolonie bedrückende Jahre auf Sumatra, dann die Wirren des indonesischen Unabhängigkeitskrieges folgten. So war die Familie froh, 1945 nach Australien auszureisen, um bald darauf in die Schweiz zurückzukehren, wo Gret Surbek 1982 starb. Ihr zweitausendseitiges Tagebuch jener Jahre ist – stark gekürzt – nun unter dem Titel «Im Herzen waren wir Indonesier» erschienen.
Seinen in Bann schlagenden Zauber verdankt es nicht zuletzt seiner Sperrigkeit. Dies ist kein nach literarischen Kriterien überformtes Tagebuch, sondern ein Dokument der Selbstvergewisserung, das nicht zur Veröffentlichung, sondern für die Familie bestimmt war. Gret Surbeks Text macht es daher seinen Lesern nicht einfach, denn sie müssen das mitunter disparate, auch redundante Material aus dem Prokrustesbett der Chronologie befreien und es neu ordnen, um sich ein Bild von der faszinierenden und widersprüchlichen Farbigkeit des Lebens in der niederländischen Kolonie zu machen. Dann aber treten die Leitmotive des Tagebuchs hervor. Da ist zunächst die – ganz unsystematische – Beschreibung eines Landes von ausserordentlicher Schönheit und grossem kulturellen Reichtum. Wer mit Indonesien vor allem Stichworte wie «Teeplantagen», «Kris», «Tempeltänzer» oder «Javaanse Jongens» assoziiert, mag ein verwirrendes Gefühl der Scham empfinden, weil seine Ignoranz ihn den von Gret Surbek oft so kritisch beschriebenen holländischen Kolonialherren ähneln lässt, für die das Land nur ökonomisch interessant ist, und die in selbstverständlicher – also nicht einmal bemerkter – Arroganz auf die Bevölkerung blicken und sie bloss als Kulis in gebatikten Gewändern wahrnehmen. Ganz anders die Autorin, die die vorurteilsfreie Neugier einer aus neutralem Lande stammenden Beobachterin mitbringt und rasch erkennt, dass das Erlernen der Landessprache der Königsweg zu einem zwar nicht innigen, aber vorurteilslosen Kontakt mit den Einheimischen ist. Doch was heisst Landessprache in einem Land der tausend Inseln, in dem es neben einigen grossen auch viele kleine Sprachen gibt?
Über die Sprachen des Landes jedenfalls, die kaum ein Europäer zu lernen auf sich nimmt, da es genügend einheimische Dolmetscher und Übersetzer gibt, lernt Gret Surbek den komplizierten Gesellschaftsaufbau, die Rituale und Kochkünste, das handwerkliche Geschick und die religiösen Vorstellungen auf Sumatra, und später auch auf Java, intensiv kennen und teilt sie – um ethnologische Methoden und Erwägungen glückhaft unbekümmert – ihren Lesern mit. Zugleich bekommen wir ein oft wenig schmeichelhaftes Bild gezeichnet, nicht nur der Holländer, sondern auch sonstiger Europäer, während die Malaien, Chinesen, Japaner und weitere Bevölkerungsgruppen nur am Rande präsent sind. Dabei zeigt sich eine weitere Qualität des Buchs: Gret Surbeks Blick auf die Welt ist völlig unsentimental, ohne indessen analytisch zu sein. So vermag sie Schönheit wahrzunehmen und als Schönheit zu beschreiben, um handkehrum auf Hässlichkeiten inmitten dieser Schönheit zu sprechen zu kommen. Diese Unbestechlichkeit der Darstellung legt sie auch gegenüber sich selbst und dem Zusammenleben mit ihrem Mann und den beiden Kindern Bernie und Gladys an den Tag, sodass die Leser Zeugen manchen Ehekrachs, manchen Erziehungsproblems werden, ohne sich dabei als Voyeure zu fühlen, da die Autorin – dank ihrer wunderbaren Nüchternheit – nie zu grossen Worten greift, den Lesern also eine Schlüssellochperspektive vorenthält, sondern sie eher auf sich selbst und ihre eigenen Scharmützel und deren seltsam zwischen Banalitäten und existentiellen Nöten schwankenden Anlässe zurückwirft.
Diese Nüchternheit sei umso mehr als Qualität des Textes gerühmt, als sie sich auch in den Jahren der japanischen Besatzung, von 1941 bis 1945 bewährt, in denen Gret Surbek und ihre Tochter eines Nachts von drei japanischen Soldaten vergewaltigt werden, was Kurt Surbek hilflos zu dulden gezwungen ist. Dass die Tagebuchschreiberin auch danach die japanischen Besatzer differenziert zu sehen vermag und Gladys sich sogar in einen Soldaten namens Mino verliebt, der sie nach dem Krieg zweimal in der Schweiz besucht, gehört zu den erstaunlichsten Aspekten dieses erstaunlichen Buchs und mag subkutan auch erklären, warum Kurt Surbek – ein offenbar seit Anbeginn problematischer, seltsam zerrissener Charakter, dem die Lebensklugheit seiner Frau wohl nicht gegeben war – 1947 in der Schweiz als Leiter einer Tropenklinik Selbstmord beging.
Von faszinierenden, durch kritische Empathie geprägten Beobachtungen von Land und Leuten, bis hin zu einer sehr zurückhaltend beschriebenen Familientragödie, enthält dieses von der Enkelin der Autorin klug gekürzte und mit erklärenden Zwischentexten versehene Tagebuch alles, was zu einem grossen Leseerlebnis gehört – man muss es sich nur zusammensetzen, wobei die vielen, aufschlussreichen Schwarzweissfotos hilfreich sind. In kommenden Ausgaben sollte allerdings der Anschlussfehler auf den Seiten 96/97 vermieden werden, bei dem womöglich eine ganze Doppelseite verlorengegangen ist.
vorgestellt von Andreas Heckmann, München
Gret Surbek: «Im Herzen waren wir Indonesier. Eine Bernerin in den Kolonien Sumatra und Java 1920–1945», herausgegeben von Christa Miranda in Zusammenarbeit mit Paul Hugger. Zürich: Limmat, 2007.
…in Brasilien
Schweizer Reisende und Auswanderer in Brasilien, ihre Vorstellungen und Erfahrungen sind das Thema von Jeroen Dewulfs «Brasilien mit Brüchen». Das Ausgangsmaterial sind Schriften wie die Reiseberichte des Pastors Jean de
Léry (1557), Berichte von Schweizer Ethnologen und Biologen sowie literarische Texte von Schriftstellern wie Blaise Cendrars und Hugo Loetscher, die mit ihren Werken das Schweizer Bild Brasiliens prägten. Die Frage, ob die Berichte und Darstellungen der Komplexität der Begegnung völlig unterschiedlicher Kulturen gerecht werden können, durchzieht Dewulfs Werk.
Am Anfang steht ein kolonialer Gedanke, der unvermeidlich zu einer Mythologisierung der tropischen Natur und des Menschen als «Guten Wilden» führte. In den Berichten entstehen Bilder, die mit der Realität der unbesiegbaren Natur und der unmenschlichen Verhältnisse der Sklaverei nicht übereinstimmen. Gelockt durch die utopischen Bilder war die Auswanderung für viele Schweizer eine unerwartete Begegnung mit Unterdrückung, Armut und ökonomischer Abhängigkeit in einer feudalistischen Gesellschaft.
In dem thematisch gegliederten Buch greift Dewulf auch auf die Rassentheorien des Schweizer Biologen Louis Agassiz zurück und zeigt, wie das Bild der Afrobrasilianer während vier Jahrhunderten mit dem Bösen verbunden war. Eurozentrisch und rassistisch war die Angst vor der Degenerierung der Menschheit als Folge von Rassenmischung. Erst im 20. Jahrhundert ist von einer Aufwertung des Schwarzen in der brasilianischen Gesellschaft zu sprechen. Eine neue Utopie entsteht: die Rassendemokratie. Tief verankert, reichen die Folgen des Glaubens an Brasilien als Utopialand weit ins 20. Jahrhundert. Das Traumbild funktioniert als Antrieb für den Fortschrittsoptimismus der Regierung, bis hin zum Wirtschaftswunder der 70er.
Die Verbrasilianisierung führt Schweizer Auswanderer auch zur Auseinandersetzung mit der eigenen Schweizer Identität. Indem viele der Auswanderer versuchten, die Schweizer Kultur aus Treue zur Heimat zu bewahren, verweigerten sie jede Form der Kulturmischung: die Degenerierung war in erster Linie eine Folge des Identitätsverlustes. Das Bekenntnis der Hybridität der Gesellschaft ist selbst in Brasilien neu, präsentiert sich aber als eine erfolgreiche postkoloniale Strategie. Im Diskurs der Autoren Richard Katz, Hubert Fichte und Hugo Loetscher hebt Dewulf die Thematik des Nordostens hervor und zeigt, wie eine hybride und polyphon aufgefasste Literatur dem Problem der Reflexivität und des Fremden beim Schreiben wenigstens teilweise gerecht werden kann.
Zwischen Kulturen schriftliche Brücken zu bauen, ist eine Herausforderung. Etwas unbeliebt macht sich der Autor in Brasilien mit Fragen wie «Kann der Nordestino reden?», ohne dabei zu erwähnen, dass der Nordosten sich als wichtigstes Thema der brasilianischen Literatur des 20. Jahrhunderts erwiesen hat. So scheinen auch in Dewulfs Werk kolonialistische Züge durch. Aus Schweizer Sicht ist das Buch ein Aufdecken polemischer Themen wie der Rassentheorien, der Auswanderung als Lösung der sozialen Probleme und der schwierigen Reintegration der Auslandschweizer. Der Schweizer als Ausländer, eine Inversion, die zu fruchtbaren Diskussionen führen kann.
vorgestellt von Adelaide Stooss, Winterthur
Jeroen Dewulf: «Brasilien mit Brüchen. Schweizer unter dem Kreuz des Südens». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2007.
…und im Hinterland von Malibu
Es gibt Bücher, bei deren Lektüre einem das Ein- und Ausatmen ausser Rhythmus gerät, man empfängt einen Adrenalinstoss nach dem andern, schnaubt und röchelt und am Ende des Buches ist man erschlagen. Der Zweck der Kunst allerdings – wenn sie denn einen hat – ist vermutlich ein anderer. In Jörg Steiners neuem Buch «Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean» gibt es eine kleine Szene, die der Hauptfigur – und dem Leser – den Atem verschlägt.
Als Jörg, Schriftsteller und für vier Monate eingeladen als Writer-in-Residence an die University of Southern California, in Los Angeles seine Olivetti 22 auspackt, sieht er, dass sie zerbrochen ist: «Dies war ein panischer Augenblick, eine Atemnot, aus der nur das tiefste Ausatmen helfen konnte…» Wenig später dann, mit dem Einatmen, das sich aufbäumende Nein! Ein Nein, gerufen gegen die vielen, unabänderlichen Zeichen der Vergänglichkeit, die seinen Aufenthalt begleiten. Gegen die schlummernde Todesnähe, versinnbildlicht durch einen Brand im Hinterland von Malibu, dem er nahe kommt, oder durch Spaziergänge durch Armenviertel mit Einblicken auf Hinterhöfe. Unter den verkohlten Bäumen im Brandgebiet, mitten auf dem Aschenboden, sieht Jörg eine Samenkapsel, die auf Regen wartet, um sich zu öffnen. Und im Hinterhof von Downtown, umgeben von Abfall, gedeiht ein Kirschbaum und trägt, der Jahreszeit entsprechend, ein leuchtendrotes Blätterkleid.
Jörg Steiners Buch ist ein gesammeltes Bollwerk gegen die Flüchtigkeit, eine liebevolle Inventur von Unscheinbarem und Unwichtigem, das sich im trostlosen Gelände als lebensnotwendig erweist. Als ein weise gesagtes Dennoch – ein stilles, gedachtes Ja. Beim Lesen gerät man so in einen heiteren Zustand des Staunens, umweht von einem feinen Luftstrom, der von den Buchseiten kommt. Von einem, der den Atem befreit und den Geist weitet. So liest man den vielleicht schönsten Satz des Buches und weiss zugleich, dass er zu denen gehört, die man nicht interpretieren sollte: «Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht.»
Am Vorlesepult sagt Jörg zu den Studenten, dass er ein Schriftsteller sei, «der nicht über das Leben schreib(t)e, sondern das Leben erzähl(t)e». Das ist eine Position, zu der einen das Alter ermächtigt. Jörg Steiner saugt sich nichts aus den Fingern, Konstruktion ist nicht seine Sache. Jörg Steiner, der 78jährige Autor, erzählt das lebendige Leben in seinem neuen Buch, und so, dass man meint, seine Figur Silvia betrete den Raum. Von seiner Frau, die auf den ersten und den letzten Seiten erscheint, berichtet Jörg: «…wenn sie einen Raum betritt, ist es so, als ginge ein Licht an.» Auf den Seiten dazwischen, in diesem schmalen Band, steht ein Kirschbaum. Jetzt hat er rote Blätter, die der Wind bald fortträgt. Aber im nächsten Frühjahr wird er wieder blühen, weiss und rosa. Mitten in der Verwüstung.
vorgestellt von Silvia Hess, Ennetbaden
Jörg Steiner: «Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean». Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.
Der Westen im Osten
Eine exotische Schönheit blickt den Leser vom Cover des neuen Buchs von Jürg Amann an: «Pekinger Passion». China ist indessen in dieser «Kriminalnovelle» nur Kulisse. Es sind kaum getarnte Westler, die hier handeln. Ob es im Peking um 1990 einen Untersuchungsrichter gab, der die Pubertät eines Zwanzigjährigen als verspätet ansah, oder eine zudem als prüde bezeichnete Mutter, die ebendiesen Sohn in besagtem Alter tadelte, weil er die sexuellen Avancen einer Mitschülerin zurückwies und brav für die Universitätsaufnahmeprüfung zu lernen?
Das Land ist Staffage, die Passion angesichts einer doch kontrafaktisch als recht liberal gezeichneten Umwelt fraglich – aber eine Novelle liegt vor, jedenfalls ein ausserordentliches Ereignis. Zwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden, achtzehn Jahre nach der Hinrichtung ihres mutmasslichen Mörders Teng, kehrt Shi Xiaorong zurück. Ist – anders als in Akira Kurosawas Film «Rashomon», mit dem die Novelle bereits verglichen wurde – das Ereignis selbst unstrittig, so ist es doch aus fünffacher Perspektive geschildert. Dafür galt es, fünf Sprachen zu finden und dabei das Ungefähre des Man-Weiss-Nicht wie auch eine allzu einfache Lösung zu vermeiden.
Das gelingt Amann in unterschiedlichem Masse. Inkonsequent ist der erste Teil, aus der Sicht des scheinbaren Täters: Von ihm gibt es, als das Opfer wiederauftaucht, nur noch das Geständnisprotokoll. Aber die Sprache, die Amann dem Zwanzigjährigen gibt, ist dann doch die eines Verliebten, die er braucht, um die «Passion» auch nur einigermassen glaubwürdig zu machen. Nicht immer überzeugt die Metaphorik in diesem Abschnitt. Die Mutter Shi Xiaorongs, die lange Jahre ihre Tochter für tot halten musste, stattet Amann hingegen mit einer Neigung zu Wortspielen aus, die auf eine lebensnotwendige Verhärtung hinweisen: «Ich war Klägerin, ich beklagte meine Tochter.» Manchmal zielt das aufs Paradox. Stück für Stück glaubt sie, Leichenteile ihrer Tochter identifizieren zu können: «Je mehr von ihr wieder da war, um so mehr war sie endgültig weg.»
Peinlich ist die Lage von Polizist und Staatsanwalt, deren Ermittlung und Prozess zu einem falschen Geständnis und einem Todesurteil geführt haben. Beide rechtfertigen sich, detailfreudig-sachlich der erste, mit deutlicherem Gestus der Verteidigung der zweite. Immerhin, darauf können sie verweisen, gab es ja eine Leiche und einen Geständigen, und vielleicht hat Teng ja tatsächlich geglaubt, Shi ermordet zu haben, nur eben in der Dunkelheit die falsche Frau erwischt.
Was aber hat das Opfer zu sagen, das immerhin eine Hinrichtung zu verantworten hat? Der Bericht Shis führt in die Geschichte ihrer Herkunft zurück, trägt den ausgenüchterten Gestus der Mutter fort und bietet die überraschende Lösung an, die sie dann doch wieder als Gerücht dementiert. Sie bleibt überlegen, weil sie allein die Wahrheit über die Vergangenheit weiss.
Das ist der Schluss der Novelle, und muss ihr Schluss sein, damit nicht die Berechtigung der Grundanlage wegfällt. Er ist knapp gefasst; Knappheit ist überhaupt ein Vorzug dieses Buchs. Seine Stärke liegt in der Schilderung, wie man damit umgeht, wenn eine vorgeblich Tote plötzlich wieder da ist und wegen ihres vermuteten Todes Schlimmes passiert ist. Die vier Versuche, angesichts von Schuld und Ratlosigkeit Fassung zu gewinnen, überzeugen auch in ihrer sprachlichen Differenziertheit. Doch bleibt, trotz Tengs Opfergang, die Passion dem Buch aufgesetzt und spielen China oder Peking keinerlei spezifische Rolle. Mag der Exotismus den Verkauf befördern, das Buch beschädigt er.
vorgestellt von Kai Köhler, Berlin
Jürg Amann: «Pekinger Passion. Kriminalnovelle». Zürich/Hamburg:
Arche, 2008.
Gestütmeisterin
Milena Moser muss man mögen. Im doppelten Sinn. Im Idealfall kann man gar nicht anders und geniesst den flotten Stil der Schweizer Autorin. Wenn dies nicht der Fall ist, dann bleibt wohl nichts anderes übrig, als ihre Romane als Frauenliteratur zu bezeichnen – dabei womöglich die Hochkulturkeule schwingend –, was so gut wie nie als Kompliment gemeint ist. Es sei verraten: ich mag Milena Moser.
In ihrem aktuellen Roman «Stutenbiss» werden grosse Themen wie nebenbei angerissen. Zu sagen welche, würde nach Spielverderb riechen, vor überraschenden Drehungen und Wendungen im Handlungsablauf muss man die mit der Bestsellerautorin vertrauten Leser sowieso nicht warnen. Trotz der einfachen Sprache ohne Nebensatzlabyrinthe, trotz den Figuren mit hohem Identifikationspotential und einem Plot, der sich jederzeit in ein Drehbuch verwandeln liesse, ist der Text weit mehr als bloss unterhaltsam.
Zwei Frauen im besten Alter, Mitte Vierzig, treffen sich nach Jahrzehnten wieder. Als Elfjährige waren die beiden beste Freundinnen, auch wenn sich Risse schon abzeichneten. Nach einer Begegnung im Wald mit dem Mann, vor dem die Eltern und der Lebenskundeunterricht immer gewarnt haben, verlieren sie sich aus den Augen. Susen, die davonlaufen kann, geht aufs Gymnasium, bricht es ab, versucht sich als Model, Popstar und Künstlerin, um schliesslich mit einer Zeitungskolumne über ihr Liebesleben schweizweit Bekanntheit zu erlangen und ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, inklusive Loft, Designerklamotten, 300-Franken-Haarschnitten, unehelicher Tochter und der zu ihr gezogenen Mutter mit fatalem Hang zum Glücksspiel. Belle hat sich den Kindheitstraum mit Pferderanch und Indianerehemann beinahe erfüllen können. Möglich, dass dieser Traum ursprünglich keinen an sich selbst scheiternden Autor – mit Hang zum Seitensprung und mit überhöhtem Ego – als Ehemann beinhaltet hat. Ziemlich sicher, dass auch keine kochende, den Haushalt führende und dem Ehemann einen Sohn gebärende Zweitfrau vorgesehen war. Doch der Ehemann ist auf eine solche Art High Maintenance, dass die Arbeitsteilung mit der Zweitfrau eigentlich gar nicht so ungelegen kommt.
Als die beiden Frauen nach jahrzehntelanger Funkstille wieder aufeinandertreffen, kommt der Zwiespalt zwischen Vertrauen und Entfremdung voll zum Tragen. Hier zeigt sich Milena Mosers Können. Ohne grosse Introspektion, ohne lange Erklärungen und Erläuterungen werden Texte und Subtexte in Dialogen skizziert, verfügt jede Figur, auch die Nebenfiguren, über eine unaufdringliche und ungekünstelt wirkende Sprache und sind die Schnitte so gesetzt, dass der Leser zwar immer einiges vermutet, aber bis zum Schluss gerne auf die Auflösung wartet.
Und dann sind da noch die Mütter. Die eine Mutter ist eine altgewordene Hollywoodschauspielerin, die andere eine typische Hausfrau, die sich nach dem Tod des Ehemanns endgültig emanzipiert und ihre Erfüllung im Glücksspiel sucht. Beide mischen auf ihre Art im Leben der Töchter mit, in beiden Fällen gibt es Konfliktpotential und Einsichten. Insofern ist «Stutenbiss» dann doch Frauenliteratur. Es geht um Mütter und Töchter, die männlichen Nebenfiguren bleiben im Hintergrund. Diese bewusste Verschiebung des Stereotyps macht Milena Mosers «Stutenbiss» so erfreulich und – in Kombination mit dem Willen der Autorin, ihre Figuren zu mögen und ihnen trotzdem Schlimmes zustossen zu lassen – die Lektüre zu einem Erlebnis.
vorgestellt von Markus Köhle, Wien
Milena Moser: «Stutenbiss». München: Karl Blessing, 2007.
Rechtshänder, rechtsextrem
«Kurt Maar war zwar Rechtshänder, aber Nora war überzeugt, dass er statt selber morden eher morden liesse.» Nun ist dieser Satz, den wir auf Seite 91 des Psychothrillers «Stumme Schuld» der 1963 in Zürich geborenen Autorin Mitra Devi lesen dürfen, zwar grammatisch ziemlich fragwürdig, seine inhaltliche Berechtigung aber lässt sich kaum bezweifeln, handelt es sich doch um eine der vielen falschen Fährten, denen die Privatdetektivin Nora Tabani nachgehen muss, um einen Fall zu lösen, an dem sie dummerweise nichts verdienen kann. Denn von der jungen Frau, die an einem «verregneten, windigen Novembermorgen» in ihrem Büro im Zürcher Seefeldquartier erschien und sich des Mordes an ihrem Ehemann beschuldigte, fehlt jede Spur. Kaum tauchte nämlich die Leiche des Gatten auf, war Sophie Maar verschwunden. Aber die tapfere Detektivin mag nicht so recht daran glauben, dass ihre verhinderte Klientin selbst zur Schusswaffe gegriffen hat. Denn nicht wenige zwielichtige Zeitgenossen hatten ein besseres Motiv, Stefan Maar aus dem Weg zu räumen, nicht zuletzt sein Stiefvater, ein schwerreicher Baustoffhändler und Politiker mit rechtsextremen Ansichten. Eben jener Kurt Maar, der sich, wie oben zitiert, wohl kaum selbst die Hände schmutzig gemacht, aber vielleicht seinen Assistenten beauftragt haben würde. Der «geschmeidige junge Mann mit perfekt sitzendem Anzug» wirkt auf Nora Tabani keinesfalls so harmlos, dass sie ihm keinen Mord zutrauen würde.
Aber auch er war’s nicht, das sei hier getrost verraten. Den tatsächlichen Mörder nämlich hatten wir, als es zu seiner Entlarvung kommt, schon beinahe wieder vergessen, so dass uns ein Satz wie «Nur ein einziger Mensch kam in Frage, der die Fäden in der Hand hielt» vollkommen rätselhaft erschien. Wer also Überraschungseffekte dieser Art mag, ist mit «Stumme Schuld» bestens bedient. Auf ihre Kosten kommen aber auch Liebhaber und Liebhaberinnen traumatischer Kindheitserlebnisse und jene Zeitgenossen, die schon immer davon überzeugt waren, dass sich die Kunden peitschenbewehrter Gunstgewerblerinnen im Lederdress vor allem in Wirtschaftskreisen finden. Wenig Anlass zur Freude hingegen bietet, wie leider so oft, die Sprache dieses Kriminalromans. Vor allem, wenn es dramatisch werden soll, versagt sie der sonst durchaus einfallsreichen Autorin den Dienst. «Ein Schlag zerdonnerte ihre Worte zu Scherben», heisst es da, bevor es, wie sollte es auch anders sein, «schwarz» um die Ermittlerin wird. Das andere Opfer in der Gewalt des Mörders, es geht auf das Ende des Romans zu und der Showdown naht, fühlt sich kaum besser: «Ein Grauen, das tief aus ihren Eingeweiden kam, packte sie, als er sagte…» An dieser Stelle blenden wir vorsichtshalber aus. Aber machen Sie sich keine Sorgen: selbstverständlich überlebt die als Serienheldin angelegte Nora Tabani diese Attacke. Und das sei ihr gegönnt. Ob wir ihr allerdings noch einmal bei der Arbeit zuschauen wollen, möchten wir gerne offenlassen.
besprochen von Joachim Feldmann, Recklinghausen
Mitra Devi: «Stumme Schuld». Bielefeld: Pendragon, 2008.
Klangwerte
Ein Dialekt sei keine Sprache, wohl aber eine Stimme, bemerkte Hugo von Hofmannsthal bei Gelegenheit. Diese «Stimmen» der multikulturellen Schweiz haben im Band «Die Schweiz ist Klang» ansprechenden, mit einer CD unterstützten Ausdruck gefunden.
Anheimelnd klingt das alles, aber keineswegs betulich; schliesslich geht es auch um Schweizer Rockmusik, um die Sprach-Tonwelt Notkers aus St. Gallen, um die Klanglichkeit der Gedichte Felix Philipp Ingolds (kann man ihn je genug preisen?), um soundscapes der schweizerischen Regionen. Der Band hat eine Mission, die er eindruckvoll erfüllt: das Zerrbild von der ton- und klangarmen, ja, musikabstinenten, wenn nicht -feindlichen Schweiz zu widerlegen. Schliesslich ist die Schweiz eine politische, staatgewordene Kulturpolyphonie, sicherlich seit 1848, aber doch auch schon im Mittelalter. Man hätte den Verweisen auf Notker einige auf Johannes Hadlaub folgen lassen sollen, der virtuos zwischen feinsinnigen Liebesliedern und derber Dörperlyrik abzuwechseln verstand.
Träumte es mir oder erinnere ich mich an einen alten Mann, der zwischen Sils Maria und Sils Baselgia, ein Sommerabend war’s, sein Alphorn ruhig und bedächtig zusammensetzte, ein-, zweimal blies, unvergleichlich schön, es dann schon wieder auseinandernahm, langsamer als er es zuvor zusammengefügt hatte, und – sichtlich erschöpft – davon schlich, das zerlegte Alphorn auf einem kleinen Leiterwagen über die Wiese in den Abend ziehend?
Ach, die Klänge der Schweiz, dazu gehören, ja, natürlich, Herdenglocken und Alphorn wie die Kompositionen Arthur Honeggers und Frank Martins, Jodeln und Schwyzerörgeli und die Musikkritik Hans Georg Nägelis und das Rauschen des Rheinfalls. Die Klänge der Schweiz werden in einer Vielzahl bedeutender Musikfestivals erzeugt und in staunenswerten Kompositionen. Man höre sie sich an, die Werke eines Martin Jaggi, Sandor Veress, Daniel Schnyder, Martin Wettstein, Paul Juon, Jörg Widmann, Alberto Ginastera und Astor Piazzola, was zuweilen leichter ist, wenn man von aussen auf die Schweiz hört. Unsereinem bieten vor allem die Londoner Swiss Ambassador Award Concerts reiches Schweizer Hörmaterial, das auch in diesem Band eine Erwähnung verdient hätte. Aber es geht nicht um Vollständigkeit, sondern darum, auf diese so eigene Klangwelt hinzuweisen, und das ist diesem Band vollauf gelungen.
vorgestellt von Rüdiger Görner, London
Ottmar Ette, Joseph Jurt & Yvette Sánchez (Hrsg.): «Die Schweiz ist Klang». Basel: Schwabe, 2007, Buch & CD.