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Schweizer Literatur in Kurzkritik VII

Schweizer Bücher schaffen es auf die Bestsellerliste der «Weltwoche» und des «Spiegels», sie stehen als Nachschlagwerke auf Redaktionsschreibtischen und liegen als Einschlaflektüre neben dem Bett. 10 Bücher, vorgestellt in der siebten Folge der «Schweizer Literatur in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

Vom Schweigen und Staunen

Vielleicht ist es das schönste Kompliment, das man Peter Stamms Schreibkunst machen kann: klappt man seine Erzählbände zu – auch seinen neusten Band «Wir fliegen» – und sinnt dem Gelesenen nach, so erinnert sich das Gedächtnis kaum an Handlungsabläufe. Was sich festgesetzt hat, was auferstehen wird, sind einzelne Bilder und ein paar aus behutsamer Distanz skizzierte Figuren. Und es ist ein latentes Grundgefühl, das seine Sätze durchdringt: ein Flair, ein wenig lastend, ein wenig herbstlich, so wie der Geruch von gefallenem Laub – ein Gefühl der Melancholie.

«Es gibt eine Welt unter uns im Stein, eine Welt voller Wunder und Geheimnisse», sagt Christoph, der Höhlenforscher, während eines Vortrags. Dann schweigt er. Die «sinnlose Schönheit» des Höhlensystems, die Geräusche des seit hunderttausenden von Jahren tropfenden Wassers – das Plätschern und Fliessen, die Rinnsale, die Felsritzen und Spalten und das immerwährende gleichgültig kalte Dunkel in den Gängen – wer es nicht selbst erlebt hat, wird es nicht verstehen. Worte reichen nicht hin, zu den Wundern und Geheimnissen, Bilder auch nicht. Die Angst vor dem Zerreden, dem Zerstören eines Wissens – oder soll man es

eines Ahnens nennen? –, das nur ihm gehört, lässt Christoph verstummen. Also redet er nicht weiter. Also belässt er eine Lücke in seinem Bericht und fährt fort mit dem Ausstieg aus der Höhle, mit der Rückkehr ans Licht, an die Sonne, zu den Farben und Gerüchen.

«Wir fliegen», die Titelgeschichte über ein Kinderkrippen-Kind, welches, von den Eltern vergessen, nicht abgeholt wird und «Kinder Gottes», eine «Neu-Bethlehem-Geschichte», gehören mit zu den schönsten neuen Erzählungen Peter Stamms. Und da ist vor allem die letzte Geschichte des Buches, «In die Felder muss man gehen…» – ein eigentlicher Credo-Text. Die in Erinnerung gebliebenen zwei Bilder dazu zeigen einen Mann, einen Maler, allein in einer südlichen Landschaft, skizzierend, vor sich einen Jungen, den Kopf ihm zugewandt, fragend. Und diesen Jungen, am Boden kauernd, spielend mit einem Stück Holz, der Mann daneben stehend, fragend. Die Fragen und die Antworten sind knapp und präzise auf den einen, entscheidenden Punkt zugespitzt: «Warum tun Sie das, Monsieur?», fragt der Junge, und stellt damit die schrecklichste aller Fragen, «Die Frage, die man nicht einmal sich selbst stellen darf». Weil er ein Maler sei, nichts als ein Maler, denkt der Mann. Einer, der malen möchte, so wie Mozart komponiert hat – so, dass keiner mehr fragt.

So, dass keiner mehr fragt. Nicht danach, weshalb es ihm, dem Maler, um die grösstmögliche Genauigkeit gehe – aber nicht um die Genauigkeit der Abbildung, sondern um die grösstmögliche Genauigkeit dessen, was nur er sehen kann. Es geht um die Erschaffung der eigenen Wirklichkeit so, wie das Stück Holz in den Händen des kleinen Jungen zur Kutsche gerät. So, wie Peter Stamms Wirklichkeit sich in seinen schönen, beeindruckenden Sprachbildern zeigt. Lärmlos verhalten, verzichtend auf Gags und Plots. Sollte man vielleicht sogar auf ein altes Wort zurückgreifen und von Demut sprechen?

vorgestellt von Silvia Hess, Ennetbaden

Peter Stamm: «Wir fliegen». Frankfurt am Main: S. Fischer, 2008.

Champagner? Dünnbier!

Ein Volkssessel von Max Werner Moser aus dem Jahr 1931 … ein kleines Schwarzes von Prada mit offenem Schlitz zwischen den Brüsten … ein stahlblaues knöchellanges Kostüm von Issey Miyake … ein himbeerfarbenes von DKNY mit kurzem Rock … ein schwarzweiss quergestreiftes Deux-Pièces mit riesiger schwarzer Masche von Sonia Rykiel … ein kurzes hochgeschlossenes Lagerfeld mit breiten, eckigen Schultern … ein hippiehaftes Modell von Christian Lacroix … eine Bluse mit übergrosser gestärkter Rüsche von Emanuel Ungaro … eine Neuenburger Pendule … ein bequemer ledergepolsteter Sessel mit verchromtem,

federnden Stahlrohrgestell aus dem Jahr 1957 von Robert Haussmann … Lederstühle von Fritz Lobeck aus dem Jahr 1936 und ein ganzes Von-der-Mühll-Zimmer von 1924 mit geometrischen Ölbildern von Paul Zoelli an den Wänden … Silberbesteck mit Perlmutterschäufelchen für Kaviar … exquisite Hors d’œuvre, von der Haushälterin selbst zubereitet … zwei Kobe-Steaks und Louis Roederer Cristal (ein Champagner – für alle, die das Gesöff nicht kennen und niemals kosten werden) … ein Aquarell (Landschaft mit Strassenmasten) für 150’000 bis 200’000 Franken von Ferdinand Hodler … Blumenstilleben von Augusto

Giacometti … ein Hirtenmädchen von Segantini für nur etwa 60’000 bis 80’000 Franken … und natürlich ein Gemälde von Félix Vallotton (weiblicher Rückenakt in anatomisch unmöglicher Haltung vor einem Kamin), Schätzwert rund 1’200’000 bis 1’500’000 Franken – das sind die wichtigsten Inhaltsstoffe von Martin Suters neuem Roman. Ach ja, noch ein kleiner Abstecher ins Engadin. Bei insgesamt deutlich zu warmen Temperaturen mit tragischem Wintereinbruch (Klimawandel!). Mehr nicht.

Oder doch, sorry, ich vergass: ein Junggeselle grossbürgerlicher Herkunft, der all das besitzt oder verkauft oder einkauft oder verschenkt oder vielleicht fälscht … eine sommersprossige Rothaarige, die ihn ausnehmen will, sich schliesslich aber in den Siegelringträger verliebt, irgendwie jedenfalls … einige Kunstsammler und Gauner und Künstler und Taxifahrer … ein melancholischer Schneider, der für viele tausend Franken massgefertigte Anzüge herstellt … und, last but not least, ein grosser nackter Frauenhintern … Mehr aber nun wirklich nicht.

Das alles finden wir in Zürich. Wo sonst. Hier, wo der graue Sandstein der Banken und repräsentativen Bürgerhäuser im Zentrum der Stadt so dezent, diskret und höflich wirkt wie einige der wohlhabenden Figuren aus Suters Geschichte. Ihnen geht es nicht um ein Zurschaustellen von Reichtum, nein, beileibe nicht, sondern um das Erzeugen von Wohlbefinden und bürgerlicher Behaglichkeit. Natürlich mit sozialem Verantwortungsgefühl. Dabei vertragen sich auch Kunst und Kapital vorzüglich. Das Geld liebt die Kunst. Wir alle wissen das. Und umgekehrt. Man gönnt sich ja sonst nichts. Hier ist die Welt noch fast in Ordnung. Wenn auch ein bisschen zermürbend durch den beständigen Zwang zum Genuss.

Suter liebt diese Metropole des gehobenen Lebensstandards. Hier kennt er sich aus. Hier findet er alles, was er an Zutaten zum Schreiben benötigt. Ob die allerdings trotz aller Exklusivität hinreichend sind, um daraus mehr als einen literarischen Sektempfang mit Häppchen zu zaubern, wage ich zu bezweifeln. Ordentlich zubereitet ist das Ganze immerhin, und es schmeckt offensichtlich den meisten Lesern und sättigt die Hungerleider des Feuilletons.

Aber vielleicht wechselt der Autor ja einmal sein Terrain und erzählt uns einen echten Reisser aus dem Milieu der Transferleistungsempfänger. Sie verstehen: Holsten Sixpack von Aldi für 2,49 … ein Luxus-Couchtisch Leksvik aus massiver Kiefer, antik gebeizt, von Ikea für 99,90 … Pommes rot-weiss fast geschenkt … String-Tanga von C&A für 3,79 … Das wär ein Renner!

vorgestellt von Gerald Funk, Marburg

Martin Suter: «Der letzte Weynfeldt». Zürich: Diogenes, 2007.

Einsiedler Totentanz

Thomas Hürlimanns «Einsiedler Welttheater» war das Ereignis des letzten Theatersommers. Zum zweitenmal nach 2000 wurde das Stück auf dem Vorplatz des Benediktinerklosters Einsiedeln gespielt, allerdings in einer komplett neuen Fassung. Für Verstimmung sorgte dabei Hürlimanns Eingriff, die Figur Gottes ganz aus der Vorlage, Calderón de la Barcas «El gran teatro del mundo» von 1641, zu streichen und sein Welttheater konsequent im Diesseits anzusiedeln. Rechtskatholiken warfen dem Autor vor, ein perspektivloses Untergangs-Szenarium zu bieten, und verteilten vor der Aufführung Handzettel, die zum Boykott des Stücks aufriefen. Lässt man den Text für sich sprechen, erweisen sich solche Reaktionen als ebenso überspannt wie ungerechtfertigt.

Tatsächlich hat Hürlimanns Welttheater mehr von einem grellen Totentanz als von einem Fronleichnamsspiel, doch wäre umgekehrt zu fragen, ob Calderóns Gesetz der Gnade heute überhaupt noch glaubhaft umzusetzen sei. Der Autor hat diese Frage in einem Interview mit dieser Zeitschrift verneint («Schweizer Monatshefte», Juni 2007) und sich damit ganz bewusst gegen billigen Optimismus und wohlgefälliges Schönreden entschieden. Vielmehr konfrontiert er sein Publikum mit einer buchstäblich heil-losen Welt, in der von Anfang an ein kalter Endwind weht und die unabweisbar auf ihr Ende zutreibt. Die Ursachen für diese Katastrophe sind kein Gottesgericht, sondern hausgemacht. Mögen die auf der Bühne agierenden Figuren auch auf das allegorische Spiel des Barocktheaters verweisen, so ist ihr durch blinde Gier und Profitstreben geeintes Handeln durch und durch modern. King Kälins Parole, «Bi üs im Spiel und au global / Lauft alles butznormal!», ist gängiger Politikerjargon, und auch die Zuversicht des Manns an der Börse, der selbst im apokalyptischen Feuer noch ein Signal für gute Geschäfte auf dem Parkett wittert, ist uns nicht unbekannt: «Kurz vor Börsenschluss / zeigt sich ein neues Angebot: / Der Himmel färbt sich rot.» Bei soviel Geschäftssinn wollen die Einsiedler Frauen nicht zurückstehen und haben für zahlungskräftige Pilger neben den üblichen Devotionalien («Madönneli im Sternenwind / Madönneli mit Rosenkranz») auch gleich noch Beruhigungspillen, Auferstehungsflügel und Gletscherbrillen im Angebot. Sind die Akteure erst einmal richtig in Fahrt, kippt ihre Begeisterung nicht selten in sinnfreies Wortgeklingel: «Makro mikro Todeskräfte / Quallen Gallen Fiebersäfte / Karzinom Dynamik Embolie / Atom Islamik Dysphasie / Natur Fraktur Total.» Das ist hart an der Grenze zum Klamauk, und man befürchtet schon, Hürlimanns Stück könnte in ein beliebiges postmodernes Potpourri abgleiten. Zuletzt jedoch wird der Wind auf der Bühne schärfer und die Stimmung nachdenklicher. In

einem Zwischenspiel führt eine Kinder-Theatertruppe die Passion Christi auf, was besonders bedrückend wirkt, weil das vermeintlich naive Spiel der Kinder die düstere Welt der Erwachsenen exakt kopiert. Am Ende wird nicht nur die Hoffnung auf Erneuerung aus kindlicher Unschuld enttäuscht. Auch die Liebe, das vielleicht letzte Bindeglied zwischen der christlichen Kultur und dem säkularen Denken der Gegenwart, erweist sich als schwacher Trost. «Du muesch kei Angscht ha», versichern die in Angst und Schrecken vereinten Paare einander in der Schlussszene, «Heb mi nume / S isch gly ume / Ich bi da.» Gleich darauf hebt der Endwind zu seinem siebten und letzten Anlauf an.

In Calderóns «Grossem Welttheater» gab es noch eine zweigeteilte Bühne: das göttliche Gesetz oben und die Welt der Menschen unten, beide vermittelt durch die von Gott gewährte Gnade. Bei Hürlimann ist der Himmel über dem Einsiedler Klosterplatz leer. Auf eine Erlösung von aussen darf hier niemand mehr hoffen.

vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld

Thomas Hürlimann: «Das Einsiedler Welttheater 2007». Zürich: Ammann, 2007.

Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied…

Wer kann sich eine Geschichte ausdenken, in der es genauso um Aussteiger geht, die im Baselbiet und im Schwarzwald als Möchtegernindianer in Tipis spirituelle Feiern abhalten, wie um den Basler Geld- und Kunstadel, eine Geschichte, in der griechische Statuen mit mittelalterlichen Altarbildern kombiniert werden, Solbaden mit Schweinezüchten, die baselstädtische Schwulenszene (samt Ableger im Kriminalkommissariat) mit einem tschechischen Hehler, der Flasche verfallene Geschichtslehrer und vergessliche Professoren mit blitzgescheiten alten Damen, Elsässer mit Schwaben und Schweizern, eine Geschichte, in der die Aargauer Kantonspolizei einen Schuh voll Wasser herauszieht, so peinlich, dass man vor Schmunzeln vergisst, in einem fiktiven Roman zu sein? Die Antwort lautet: Hansjörg Schneider in seinem neuesten Krimi «Hunkeler und die goldene Hand».

Der Mord geschieht auf der siebten Seite. Ein Basler Kunsthändler treibt tot in einem Rheinfelder Solebassin. Sein junger Lover wird in Untersuchungshaft gesteckt, leugnet, die Polizei tappt im Dunkeln. «Hunki» aber – kurz vor der Pensionierung, und damit auf dem Zenith der Erfahrung – fährt pausenlos in der trinationalen Regio umher, bringt gewieft (fast alle) Leute zum Reden, wird einmal um Haaresbreite von einer Bisonherde zertrampelt, ein andermal von einem halbirren Hünen zusammengeschlagen und findet dank seiner Beharrlichkeit eine Spur nach der anderen. Aber keine erlaubt es, den jungen Mann herauszuholen; im Gegenteil, die Spuren führen auseinander. Erst ganz am Schluss verdichtet sich alles, und in der Schlussszene (die ruhig ein bisschen weniger rasant hätte erzählt werden dürfen) erbringt Vater Rhein wieder einmal den Tatbeweis dafür, wie gut er die Welt von allerlei zwielichtigen Typen und fiktiven Objekten säubern kann.

Schneider unterhält glänzend. Nie tiefschürfend, aber immer erhellend, nie fanatisch, aber immer pikant. Eine bekannte «Boulevardzeitung» samt Reporter wird in den Blick genommen und kriegt einen kräftigen Nasenstüber, ayurvedische Rücken- und tibetische Energie-Ganzkörpermassagen werden belächelt, ein klein wenig wird auch am Image des Basler Kunst- und Antikenhandels gekratzt und im Teig gerührt, aber nie verletzend. Sogar der Mörder zeigt am Ende noch eine Spur Grösse. Hübsch sind wie gewohnt die Situationsbeschreibungen. Mit ein paar Pinselstrichen wird einmal die frustrierende Öde einer Quartierkneipe, dann der lautstark-erotische Jugendmarkt in der Steinenvorstadt gemalt. Handkehrum wandern wir mit Hunkeler durch wunderbar stille Landschaften im Baselbieter Jura und im nahen Elsass. Unbezahlbar schliesslich seine Ode an Fritz, den alternden Gockelhahn! Vor dem Lesen empfiehlt es sich, wieder einmal die Merseburger Zaubersprüche zu lesen.

vorgestellt von Rudolf Wachter, Basel/Lausanne

Hansjörg Schneider: «Hunkeler und die goldene Hand». Zürich: Ammann, 2008.

Ein anglikanischer Judenchrist in Zürich.

Am 8. Oktober 1864 trat Moritz Heidenheim sein Amt als anglikanischer Kaplan der englischen Gemeinde in Zürich an. Am selben Tag wandte er sich mit einem Gesuch an den Erziehungsrat: «Es wäre mir darum sehr angenehm, würde mir die Erlaubnis ertheilt, wöchentlich einige Vorlesungen an der hiesigen theologischen Fakultät halten zu dürfen.» Die Theologische Fakultät erklärte, «dass allerdings für eine Vermehrung der Lehrkräfte … kein Bedürfnis vorhanden sei; dass indess die wissenschaftliche Betätigung des Petenten zur Habilitation als Privatdoc. d. Theol. nicht zu beanstanden sei». So erhielt die Theologische Fakultät die Anweisung, die Probevorlesung des Petenten «mit thunlicher Beförderung» zu veranstalten, was Ende November geschah. Heidenheims Vorlesung hatte den Titel «Die Aufgabe der alttestamentlichen Exegese in der Gegenwart». Da der Petent Kenntnisse «insonderheit auf dem Gebiet der hebräischen Paläographie» aufwies, wurde er als Privatdozent an der theologischen Fakultät zugelassen.

Die Besonderheit dieses Habilitationsvortrags lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Ein konvertierter Jude anglikanischer Konfession, der sich als Samariterforscher einen Namen gemacht hatte, legt die Bedeutung der alttestamentlichen Exegese den Theologen der Zwinglistadt dar. Drei Jahrzehnte lang hielt Heidenheim als Privatdozent Vorlesungen zum Alten Testament und zur rabbinischen Literatur und wurde nie Professor; er starb als ältester Privatdozent Europas. Denn das Kollegium, der Kirchen- und der Erziehungsrat sahen in seiner Beschäftigung mit der rabbinisch-talmudischen Tradition einen Hinweis, dass er das Judentum nicht überwunden hatte, und fanden, dass er sich deshalb für eine Professur an der evangelischen Fakultät nicht eigne. Tatsächlich aber war Heidenheim einer der ersten, der die Bedeutung der rabbinischen Tradition für die christliche Theologie erkannte.

Die Biographie ist im Rahmen eines Projekts des Schweizerischen Nationalfonds entstanden, zu dem auch die Sacherschliessung und Beschreibung der von Heidenheim zusammengetragenen umfangreichen Sammlung hebräischer Drucke und Handschriften gehört, die sich heute in der Zentralbibliothek in Zürich befindet. Hunderte von Bibelausgaben, dazu Werke früher jüdischer Grammatiker, hebräische Handschriften und illustrierte Esther-Rollen spiegeln die hebräische Literatur- und Druckgeschichte wider. Die Erschliessung der Sammlung und die gleichzeitig entstandene Biographie machen eine Gestalt bekannt, die sich einer einfachen Etikettierung entzieht. Heidenheim wurde 1824 in Worms in einer jüdischen Familie geboren, wurde zum Rabbiner ausgebildet, promovierte in Giessen in Philosophie, trat zum Christentum über, studierte am King’s College, wurde 1859 in London als anglikanischer Priester ordiniert und war zwischen 1864 und 1873 anglikanischer Kaplan in Zürich, wo er 1898 starb.

Heidenheims Lebensweg und sein spiritueller Werdegang werden im Kontext des Zeitgeistes positioniert, die spezifischen religiösen Verhältnisse in Zürich werden verständlich gemacht, und seine intellektuelle Neugier und seine wissenschaftliche Anstrengung – und sein Verkanntwerden durch die damalige etablierte Theologie! – werden im Zusammenhang seiner Entwicklung erklärt. Dabei ist eine gutrecherchierte und flüssig erzählte Biographie entstanden, die, indem sie eine Lebensgeschichte erzählt, zugleich eine Epoche europäischer und Schweizer Kultur- und Religionsgeschichte aufrollt.

vorgestellt von Stefana Sabin, Frankfurt

Olivia Franz-Klauser: «Ein Leben zwischen Judentum und Christentum. Moritz Heidenheim 1824–1898». Zürich: Chronos, 2008.

Aus dem Bichselland

Wenn Peter Bichsel in seiner aus dem dingnahen Dialekt geborenen Sprache einen Satz setzt, stehen am Jurasüdfuss die Uhren still. Oder schreibt er ihn, weil sie stillstehen? Dieses Büchlein jedenfalls hat nicht die Zeit gestaut, es ist eine Kompilation schon gedruckter Texte, mitunter zauberhafter Lesebuchgeschichten aus dem wohlvertrauten

Bichselland. Was Fontane mit halbem Recht Gottfried Keller vorgeworfen hat – er überliefere die ganze Welt seinem Kellerton − das gilt in ähnlichem Masse auch für Bichsel. Von seinen eigenartigen, trauriglustig-lakonischen Erzählungen lässt sich ohne weiteres auf den Autor schliessen, und umgekehrt wäre es bei hundert anderen ausgeschlossen, dass sie sie geschrieben haben könnten. Hier handeln sie, diese «Dezember»-Berichte, diese Impressionismen des Endes, von der Unfeierlichkeit der Feiertage, der Furcht vor der Heimsuchung durch eine Lotto-Million, den komischen Sinnlosigkeiten des Lebensvollzugs, den Sehnsüchten einer kargen Existenz, die in ein einziges Wort wie «Gossau» finden.

Nur in einem der zehn Texte kommt kein «Ich» vor. Bichsel, scheint es, erzählt stets von sich. Seine Geschichten stellen sich als erlebt und wahr dar. In einfachen Sätzen mit eingebautem, leicht verstecktem Hintersinn wird das Banale zum Besondern und Erzählenswerten erhoben, gelegentlich vom ästhetisch etwas langweiligen Standpunkt des «Guten Menschen» aus, wie ihn die Ringier-Kolumnisten so lieben. Man kennt das alles: die Geste der Hilflosigkeit und auch Uninteressiertheit gegenüber allem Grossen, Starken, Unbescheidenen, die Heiligung des Kleinen, Beiläufig-Alltäglichen; ferner ein bisschen Sozial- und Zeitkritik, die auf Wirklichkeitskritik gründet. Sein Missionieren hält sich wohl in höchster Diskretion; aber der Erkenntnisgewinn, denkt man sich, blüht doch recht vereinzelt. Dann aber die erwartet unerwarteten Sätze, die den Grauschleier leuchtend durchstrahlen. Der Erzähler nimmt es den Käfern in seiner Wohnung persönlich übel, dass sie ihn zwingen, sie umzubringen. Frauen, die er kennengelernt hat, misst er daran, ob er traurig sein könnte, wenn sie stürben. Oder eine grosse Wahrheit wie «Erzählen ist friedlich, und der wahre Frieden ist eine grosse und wunderbare Erzählung». Bichsel schafft es, im Leser Schmerzwut zu erwecken über den Idioten, der seinem gescheiten Sohn verleidet, die Josef-Geschichte vorzulesen. Er schafft es, immer aufs neue, auf drei Seiten eine Welt zu geben, die man so schnell nicht vergisst.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Zürich

Peter Bichsel: «Dezembergeschichten». Frankfurt a.M.: Insel, 2007.

Wir spielen immer…

Der Zug nach Bukarest hält auf freiem Feld, weil jemand den Lokführer bestochen hat. Denn die meisten Reisenden wollen nicht bis in die Hauptstadt des seit kurzer Zeit kommunistischen Rumänien weiterfahren, sie wollen zum «Heiligen», einem Wundertäter, der sie von ihren Gebrechen erlösen soll. Später, so erfahren wir von der Erzählerin, hat man an der wilden Haltestelle eine Rampe errichtet und ein richtiger Bahnhof soll folgen, denn «der Heilige lohnte sich für das Dorf, und das Unglück der Leute war dauerhaft». Ein Zustand, an dem das kommunistische Regime erst recht nichts zu ändern versteht.

Wir befinden uns in der ersten Hälfte von Catalin Dorian Florescus neuem Roman, der nach seiner Heldin Zaira benannt ist. Der Autor, selbst als Halbwüchsiger mit seinen Eltern von Rumänien in die Schweiz emigriert, debütierte im Jahre 2001 mit dem autobiographischen Buch «Wunderzeit». «Zaira» ist Florescus vierter Roman und sein bislang ambitioniertestes erzählerisches Unterfangen. Und wir können sagen, es ist gelungen.

1928 wird Zaira in eine Gutsbesitzerfamilie hineingeboren. Sie bleibt das einzige Kind ihrer Mutter, die bald nach der Geburt aus der Provinz ins mondäne Bukarest flüchtet. So wird das Mädchen von der Grossmutter erzogen. Seine wichtigste Bezugsperson aber wird sein grosser Cousin Zizi, der kleine Theaterstücke für das einsame Kind inszeniert, in denen sich Realität und die Phantasiewelt der Commedia dell’Arte vermischen.

Auch Jahre später, Zaira ist längst eine berühmte Marionettenspielerin geworden, zehrt sie von diesen Erlebnissen. Aber der Reihe nach. Während die Zeit des Zweiten Weltkriegs noch glimpflich überstanden wird, ist das Schicksal des Gutes mit der Machübernahme durch die Kommunisten besiegelt. Auch Zaira wird nicht glücklich. Sie heiratet ihren Jugendfreund Paul, doch die Ehe scheitert. In dem Marionettenspieler Traian trifft sie die Liebe ihres Lebens. Mit ihm ist sie übrigens in jenem Zug unterwegs, der die Bedürftigen zu ihrem Wunderheiler bringt. Traian bekommt in Bukarest einen Kulturpreis überreicht und hält vor den versammelten Funktionären eine Rede, in der er die magische Kraft des Theaters beschwört: «Sie waren ein Kind, Sie wussten noch nichts von der Schwere der Welt. Von der Schwere, die Ihre Eltern vielleicht bedrückte. Die Welt war gut, und das Theater hob sie für ein oder zwei Stunden aus den Angeln. Das Tolle daran ist: Alles war wahr. Fiktion kannten Sie nicht. Kunst kannten Sie nicht. Es war, wie es war, es war das Leben selbst.» Worte, die auch Zaira als wahr empfindet. Dass Traian seine Kunst auch mit einer verhängnisvollen Liebe zum Alkohol bezahlt, weiss sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Später, Zaira hat eine Tochter von Traian, ist aber mit einem anderen Mann verheiratet, gelingt es ihr, Rumänien zu verlassen und in die USA auszuwandern. Auch hier kann sie sich behaupten, doch das Glück, das sie beim kindlichen Theaterspiel empfunden hat, stellt sich wieder nicht ein. Zumal sie am Ende des Romans, als Siebzigjährige, erfahren muss, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil ihrer Wirklichkeit Täuschung gewesen ist.

Doch obwohl die Kraft der Fiktion sich an dieser Stelle von ihrer bösartigen Seite zeigt, liest sich Florescus Roman als ein gewaltiges Plädoyer für das Erzählen, für die Geschichten, von denen nicht selten unsere Existenz abhängt. Und er lehrt uns gleichzeitig, irdischen Glücksversprechungen zu misstrauen. In diesem auch sprachlich stimmigen Buch ist Florescus von der Kritik oft gelobte Fabulierkunst ganz bei sich.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

Catalin Dorian Florescu: «Zaira». München: C. H. Beck, 2008.

Unerhörte Ereignisse, ohne Wendung

Drei Monate soll Helen, eine junge Künstlerin, auf dem Grundstück eines reichen, aber sozial deformierten und mit allerlei eklatanten Defekten behafteten Sammlers verbringen, um diesen zu portraitieren. Eine Atmosphäre des Unguten und schliesslich Bedrohlichen erwartet die junge Frau, deren Kindheit von Armut geprägt war.

Zoe Jennys Roman reisst die Leser von Beginn an in einen Sog der Spannung, der aus einer Reihe von Geheimnissen, Tiersymbolen, unheimlichen räumlichen Verhältnissen und dem abnormen Verhalten des Auftraggebers zu resultieren scheint. Doch das eigentliche Grauen entstammt nicht der Abfolge unerhörter Ereignisse, denen die junge Frau – ihrer Freiheit beraubt wie der einst von ihr gezeichnete Kondor im Zoo – ausgesetzt ist. Sie ist über alles Erträgliche hinaus duldsam, macht abwartend alles mit, was geschieht, verschweigt am Telefon, der einzigen Verbindung zur Aussenwelt, ohne ersichtlichen Grund die Wahrheit über ihre Umgebung und ihr Befinden. Selbst als ihr bei einer schmerzhaften Verletzung nicht geholfen wird und man sie bei einem Versuch der Flucht am Flugplatz zurückhält, scheint sie nicht wirklich gegen das ihr Widerfahrende aufzubegehren, sich nicht wirklich um eine Wendung des Geschehens zu eigenen Gunsten zu bemühen. Die Erwartung eines unmittelbaren Durchbruchs zu Untergang oder Rettung wird im Leser aufgebaut, wieder und wieder, und verpufft, wieder und wieder, an der Indifferenz der Protagonistin gegenüber allem ausser der Kunst, dem einzigen Gebiet, das sie im Leben für sich erobern konnte und durfte. Das pathologische Verhalten des Sammlers «R.», der ihr besitzergreifend, dominant und zugleich manchmal servil und anhänglich begegnet, während sie ihn – ebenso passend wie unplausibel – zusammen mit einem Affenkopf portraitiert, scheint Helen letztlich nicht so zuzusetzen wie ihr Bedürfnis, Leere um sich zu haben und sich in ihrer Arbeit auszulöschen wie die kalte Kerze auf dem Bild in ihrem Zimmer.

Zoe Jenny gelingt es, ein literarisches Kunstwerk herzustellen, das Leseerwartungen benutzt und durch minimale Verschiebungen zugleich enttäuscht und erfüllt. Nicht eine dramatische Zuspitzung der spannenden Handlung, sondern das Verstreichen der Zeit im Raum – weiss wie eine Leinwand und leergeräumt wie das Puppenhaus in Helens Kindheit; das atemraubende Thema des Romans «Das Portrait».

vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Erlangen

Zoe Jenny: «Das Porträt». Frankfurt a. M.: Frankfurter Verlagsanstalt, 2007.

Peter gepanscht

Peter Pan. Mutig ist es schon, sich einmal mehr an den scheinbar unverwüstlichen, 1904 zunächst als Theaterstück erschienenen Kinderklassiker zu wagen. Hinzu kommt, dass er in der neuen Ausgabe weder übersetzt noch nacherzählt werden sollte, sondern ausdrücklich «nachersetzt» – eine Mischung aus beidem, oder besser: etwas, das es bisher genauso wenig gab wie dieses Verb. Damit aber ist das Buch Geist vom Geist Birgit Kempkers, die es in ihrer eigenen Prosa kess und knallig liebt. Tatsächlich lässt ihr Verfahren der partiellen Sentimentalität der englischen Vorlage keine Chance. Beherzt rafft sie und fabuliert aus, lässt Passagen weg und fügt andere hinzu. Auf weite Strecken lesen wir uns so in einer phantastischen Erzählung fest, wobei auch verwegene Modernismen in Semantik und Syntax nicht allzusehr stören: «ach wäre er im Comic und würde weggebeamt und nie mehr hier», heisst es etwa, als sich Peter einmal «mulmig» fühlt. Und weil der alte viktorianische auf diese Weise zu einem Text voller Witz und Spielfreude mutiert, gestaltet sich die Wiederbegegnung mit dem Jungen, der nicht erwachsen werden will, besonders prickelnd.

Erst recht in einem Appendix mit der Überschrift «Peter Pan bin ich» ist die Nachersetzerin ganz bei sich. Als «kleine Poetik» angekündigt, liegt hier eine begeisterte Variation über ein «Jenseits von Zuschreibung, Abklärung, Aufklärung und Deutung» vor. Ihr Cantus firmus ist ein bedingungsloses Lob – eine Panegyrik sozusagen – auf lustvolle Verantwortungslosigkeit, die der Alltagswelt, in der wir uns nach der Pubertät gewöhnlich einrichten, eine Nase dreht. Kempkers Vorliebe für die preziöse Inszenierung, mit der sie als Erzählerin selbst geneigten Lesern manches zuzumuten pflegt, wirkt hier weniger anstrengend als sonst, da sie sich im Einklang mit der Anarchie des Helden aus «Nieland» befindet (wie, statt des geläufigeren «Nimmerland», das englische «Neverland» wiedergegeben wird). Was sie uns mitzuteilen hat, läuft darauf hinaus, dass dieser Peter Pan so ziemlich alles zu sein vermag und auch dessen Gegenteil, vom «Muster im Universum» bis zum klitzekleinsten Detail. Oder, um es so auszudrücken: «Sigmund Freud ist Peter Pans Lumpi, und des Pudels Kern ist die verlorene Zeit.» Ein klarer Fall für die paulinische Theologie zugleich – man schlage nur im 1. Brief an die Korinther nach, Kapitel 1, Vers 27 – und allemal Zeichen von «Anmut pur». Was wiederum bedeutet: «Das Panprinzip ist rücksichtslos, jünglingshaft und hat sich selbst im Sinn. Es pfeift auf Potenz und Erguss und liebt doch Prunk und Schnack.» In der Tat musste dies einmal so deutlich gesagt werden.

Vor und trotz allem aber gibt die Wahlbasler Autorin mit ihrem nachgestellten Manifest für die freie Phantasie dem unterschätzten Text seine literarische Würde zurück – mag dafür auch das «liebevolle … Wegkastrieren» manch «tantentuntigen» Zeigefingers erforderlich gewesen sein. Während sie selbst Peter Pan zu einem zweiten «Bartleby» erklärt, wird unter der Hand eine andere Verwandtschaft ungleich deutlicher: dass nämlich der wackere Vielschreiber Sir James Matthew Barrie (1860–1937) die Grösse seines älteren britischen Landsmannes Lewis Carroll hier immerhin streift. Gleichwohl bleibt der Abstand zu dem vorsurrealistischen Sprachzauberer und Nonsense-Poeten beträchtlich, nach dessen Überzeugung unser Geist (mit einem Wort André Bretons) bei jeder Schwierigkeit noch einen Ausweg im Absurden finden könne und somit die Bereitschaft, dies zu bejahen, dem vernünftig gewordenen Menschen das geheime Reich wiederzugewinnen helfe, in dem die Kinder leben.

Solche Bezüge muss der Leser allerdings selbst herstellen, denn das von Kempker abgebrannte Feuerwerk leuchtet jene nicht aus. Über den Autor, der uns fast genau in der Mitte des Buchs recht nachdenklich anblickt, erfahren wir gar nichts, was desto bedauerlicher ist, als sich ihn betreffend selbst gute Literaturgeschichten auszuschweigen pflegen. Die Metamorphosen vom ersten Auftreten Peter Pans (damals noch im Kensington-Garten) in Barries «The Little White Bird» (1902) bis zu der üblicherweise als Vorlage herangezogenen Erzählung «Peter and Wendy» (1911) bleiben unerwähnt, und von wem die mit deutschen und englischen Satzpartikeln versehenen Illustrationen stammen, hätte man auch gern gewusst. (Der Signatur zufolge dürfte es sich um den bekannten «Punch»-Zeichner Edward Linley Sambourne handeln.) Jedenfalls tragen auch sie zur Qualität der rundum ansehnlich gestalteten Edition bei. Und da diese in nur 700 Exemplaren aufgelegt wurde, sollten Enthusiasten mit dem Erwerb nicht zu lange zögern.

vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Münster

James Matthew Barrie: «Peter Pan». Aus dem Englischen nachersetzt von Birgit Kempker. Basel: Urs Engeler Editor, 2007.

Oheim im Abseits

Mal ehrlich: würden Sie im Schnellimbiss nach Hühnerhappen und einer Heisswurstsemmel verlangen wollen, oder nach Flockmais im Kino? Vor die Wahl gestellt, zöge mancher wohl den Entkleidungstanz einer Kraftfrau vor, die im Wirklichkeitsfernsehen ihren Staun-BH ablegt. Mit solchen Begriffen will der «Anglizismenindex» uns, also die über 100 Millionen Deutsch-Muttersprachler, mahnen: wenn denn schon der kleine Heisshunger oder voyeurfreundliche Dauerwerbesendungen bezeichnet werden sollen, dann in Zukunft bitte auf deutsch. Auf die allzu vielen englischen Wörter in der Sprache des Alltags könnten wir nämlich gut verzichten, meinen seine Urheber. Schliesslich gäbe es ja Alternativen genug, die im vorliegenden Band auf rund 250 Seiten in übersichtlicher Form verzeichnet werden. Damit soll den tendenziell verdrängenden Eigenschaften vieler englischer Wörter Einhalt geboten werden. Anders als bei Bastian Sick aber, dessen Erfolg nicht zuletzt auf dem Verlachen derer basiert, die von bildungsabstinenten Elternhäusern und staatlich finanzierten Schulen kaum mit dem sprachlichen Existenzminimum ausgerüstet worden sind, wird hier der Sinn für Sprache auf eine konstruktive, sich dem Ermessen des jeweiligen Sprechers anheimstellende Weise geschärft. Das ist gewiss verdienstvoll. Ganz so (welt-)offen jedoch wie eingangs postuliert, scheint das von Sprachpflegevereinen in Deutschland und der Schweiz geförderte Projekt nicht zu sein.

Versteht man nämlich die vier angehängten «Textbeiträge» als die zum Index gehörigen weltanschaulichen Kommentare, staunt man hier über die Wortwahl und da über das Verlautbarte selbst. Während Gerhard H. Junker das Spektrum sinnentstellend verwendeter Anglizismen plastisch zu beschreiben weiss, klagt Peter Hahne im Volkston sozusagen das von ihm zuerst in der Bild-Zeitung geforderte «Recht der Bürger auf Schutz gegen sprachliche Ausgrenzung» ein. In Heinz-Dieter Deys Beitrag tritt dann das Misstrauen als erkenntnisleitende Kraft offen zutage: Berater international tätiger Firmen «schleusen» darin systematisch englische Wörter «ein»; solche «Eindringlinge» werden prompt zu einer Gefahr, der nur noch mit geschickter «Taktik» zu begegnen ist. Das Bedauern des Verfassers über die (nun doch schon etwas zurückliegende) Verdrängung von «Oheim» und «Muhme» durch «Tante» und «Onkel» akzentuiert solche Denkart dabei auf eine nicht nur skurrile Weise. Ähnliches gilt für den Text von Heinz-Günter Schmitz. Auch ihn treibt die «jahrhundertalte mächtige Tradition aktiver deutscher Sprachloyalität» um, zudem noch ein wohl nicht nur sprachlicher Antiamerikanismus. Dagegen lobt er die massstabsetzende Arbeit des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins (1885–1945): Grund genug, einmal selbst in dessen «Zeitschrift» zu blättern.

«Anglomanie» und Frankophonie waren darin bereits vor 100 Jahren die grossen Themen. Während der Schweizer Zweigverein die französischen Bahnhofsnamen im Oberwallis als «um der eidgenössischen Bequemlichkeit willen» praktizierte «Entdeutschung» geisselte, diskreditierten deutsche Sprachpfleger sehr viel systematischer die französische Sprache und Kultur schlechthin. Ihrem Wunsch gemäss hätte der politisch korrekt und also national denkende Hundebesitzer etwa schon 1905 an einer Rauchrolle ziehend und begleitet von seinem Jagdgebrauchsteckel Pirschmann durch den Eichenhain streichen sollen. Dass der energisch deutsch bezeichnete beste Freund des Menschen ein ganz anderes Kaliber darstellte, als etwa das «viel an Diarrhöe» leidende Schosshündlein Minime, das uns aus Thomas Manns Felix Krull vertraut ist: wer würde die im- und explizit politische Aussage solcher Namen und Begriffe, das jeweils Mitzudenkende nicht ermessen können?

Heute dagegen ist der Ort des sprachlichen Widersachers sehr viel schwerer auszumachen: der global player ist zweifellos ein vaterlandsloser Geselle, der ungefragt Grenzen überschreitet und sich um gewachsene Traditionen nicht schert. Ob aber die Argumente, die dem Anglizismenindex beigegeben werden, wirklich geeignet sein können, den angeprangerten sprachlichen Einflüssen zu begegnen? Ihre weltanschauliche Unschuld jedenfalls haben sie längst verloren. Allein deshalb bleibt es ganz entschieden vorzuziehen, auch in dieser Hinsicht weiterhin auf das ganz persönliche Sprach- und Denkvermögen all derer zu vertrauen, die Deutsch sprechen.

vorgestellt von Anett Lütteken, Zürich

«Der Anglizismen-Index. Anglizismen. Gewinn oder Zumutung?». Hrsg. von Gerhard H. Junker in Verbindung mit dem VDS-Arbeitskreis Wörterliste und dem Sprachkreis Deutsch, Bern. Paderborn: IFB, 2008.

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