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Schweizer Literatur in Kurzkritik VI

Reisen: rund ums Mittelmeer oder in Deutschlands östlichsten Osten; einwärts, nach Amrain oder Bern; oder rückwärts, auf einem Trip durch 100 Jahre globales Shopping. dies und vieles mehr findet sich in 11 Büchern, vorgestellt in der sechsten Folge der Schweizer Literatur in Kurzkritik. Fortsetzung folgt.

Es schreiben:
Christoph Simon über Markus Bundi: «Das Grinsen des Horizonts». Eggingen: Isele, 2007.

Hans-Rüdiger Schwab über Gerhard Meier: «Baur und Bindschädler». Amrainer Tetralogie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007.

Markus Köhle über Susanna Schwager: «Die Frau des Metzgers». Zürich: Chronos, 2007.

Rüdiger Görner über Christine O’Neill: «Zerrinnerungen. Fritz Senn zu James Joyce». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2007.

Georg Deggerich über Alain Claude Sulzer: Privatstunden. 237 Seiten. Edition Epoca. Zürich 2007. 19,80 Euro.

Jesko Reiling über Stiftung Rudolf von Tavel (Hrsg.): «Uf d Liebi chunnt’s alleini a. Mit Rudolf von Tavel in das 18. Jahrhundert». Mit 40 Fotografien von Jürg Bernhardt und Audio-CD. Muri bei Bern: Cosmos, 2007.

Katrin Hillgruber über Perikles Monioudis: «Land». Zürich: Ammann, 2007.

Klaus Hübner über Michael Guggenheimer: «Görlitz. Schicht um Schicht. Spuren einer Zukunft». Bautzen: Lusatia , zweite Auflage 2005, und Gerald Grosse: «Unterwegs in Görlitz». Mit Texten von Michael Guggenheimer und Andreas Bednarek. Bautzen: Lusatia, 2007.

Beat Mazenauer über Reto Hänny: «Flug». Frankfurt: Suhrkamp 2007.

Markus Bundi über Mara Kempter: «Hin und zurück. Lyrische Texte». Eggingen. Edition Isele 2007.

Ute Kröger über Ernst Pfenninger: «Globus – das Besondere im Alltag. Das Warenhaus als Spiegel der Gesellschaft». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. 2007.

Nikosia, Izmir, Albanien, Barcelona oder Piräus

Wie folgt man den Spuren längst zerstäubten Zuckergebäcks? Ein Schweizer Diplomat mit griechischen Wurzeln, im Roman nur «der Reisende» genannt, beginnt in Alexandria eine Odyssee rund ums Mittelmeer. Er sucht die verschollene Rezeptsammlung seines Grossvaters, eines Konditors. Inspiriert von den heiseren Ohrwürmern der legendären ägyptischen Sängerin Umm Kalsum und von Gottfried Benns Sehnsucht nach dem mediterranen Blau, erweist sich Perikles Monioudis, 1966 in Glarus geboren, erneut als faszinierender Erzähler. Den überbordenden Eindrücken und Mentalitäten des Mittelmeerraums begegnet er mit alpin kühler Beschreibungskunst. «Land» ist dezidiert ein Buch über das Schauen und den Kult des Blicks.

Das Transitorische und mit ihm die Verkehrsmittel haben es Perikles Monioudis angetan. Bereits in seinem zweiten Roman «Das Passagierschiff» (1995) kippt der detailgesättigte, hyperrealistische Stil ins Surreale. Auch er handelt von einer detektivischen Suche, die in einem engen Bergtal beginnt und in die Weiten Philadelphias führt. In «Deutschlandflug» (1998) imaginiert Monioudis, ausgehend von der Biographie des «Swissair»-Pioniers Walter Mittelholzer, eine abenteuerliche Expedition sehnsüchtiger Männer und hebt dabei wie im Traum jede Chronologie auf.

Der alten Roadmovie-Weisheit, dass der Weg das Ziel sei, huldigt «Land» mit poetischer Umständlichkeit. Ob Nikosia, Izmir, Albanien, Barcelona oder Piräus: da er das ersehnte Rezeptbuch gleich zu Anfang in Alexandria aufstöbert, werden dem Reisenden die weiteren Stationen seiner Mittelmeerrundfahrt austauschbar. Bald fühlt sich der Leser von einer merkwürdigen Unentschlossenheit und Kühle, ja von Heimatlosigkeit affiziert: «Die Städte sahen mich einmal so, einmal so, ähnlich, wie ich sie sah – als leere Fläche, als schwarzer Vasenhintergrund? Wer wäre dann wessen Hintergrund, ich derjenige der Stadt oder die Stadt, die Städte, meiner?»

Das Eingeständnis des Reisenden, am liebsten allein zu sein und absichtvolle Aktionen zu verabscheuen, verhindert auch ein Wiederaufflammen seiner Beziehung mit einer Berliner Botanikerin, die er in Barcelona besucht. Aus ihrer Perspektive ist der zweite Handlungsstrang erzählt. Auf der Schiffspassage nach Spanien lernt sie an Deck eine junge Frau in einer grünen Windjacke kennen. Von diesem Moment an steigert sich Zufall um Zufall mit kleistscher Konsequenz ins Unheilvolle. Erschütternder Höhepunkt ist eine lähmend realistische, meisterlich ausgeführte Szene, in der zwei Möwen zu Tode gequält werden.

Peter Weber, der Schöpfer des «Wettermachers», attestierte dem befreundeten Kollegen, er setze «erweiterte Blickwinkel an seine Gegenstände, ohne dass er ihnen dadurch die Gunst entziehen würde». Diese ganz eigene Poetologie des Sehens hat der geborene Epiker Monioudis von Buch zu Buch fortentwickelt. Mit «Land» legt er nun seine grosse Hommage ans Mittelmeer vor, an das mare nostrum der abendländischen Kultur. Dabei bringt er in Anklängen die Geschichte seiner eigenen polyglotten Familie ins Spiel.

Sein Aufwachsen in Glarus spiegelt der Sohn von Auslandsgriechen in der Begegnung des Reisenden mit einem kleinen Schweizer Diplomatensohn, den es nach Zypern verschlagen hat. Beim Anblick des sprachlosen Jungen, der sich weder im Hochdeutschen noch im Englischen zurechtfindet, denkt der Besucher an seine Kindheit zurück, an die «unausgesprochene, aber immerwährende Aufforderung durch die Einheimischen, sich ihnen zu erklären, auf Schritt und Tritt Rechenschaft darüber abzulegen, dass es ihn gab, dass es ihn hier gab». Eine so frühe Erfahrung der Fremdheit stellt anderseits eine vortreffliche Schule der Beobachtung und des Unterscheidens dar.

Während die Schweizerfahne im Inselwind flattert, muss der Reisende den Jungen sich selbst überlassen. Jäh legt das Erzählschiff vom Festland ab und steuert auf eine neue Geschichte zu. Diese Abschiedsmomente, in denen allein das verlockende Blau des Meeres zählt, verleihen dem kontemplativen Roman einen unerwartet schroffen Reiz.

vorgestellt von Katrin Hillgruber, München

Perikles Monioudis: «Land». Zürich: Ammann, 2007.

Ein Schweizer in Görlitz

Der in der Schweiz nicht nur wegen seiner langjährigen Tätigkeit für «Pro Helvetia» bekannte Schriftsteller und Fotograf Michael Guggenheimer ist im Sommer 2007 für seine Verdienste um die an der Lausitzer Neisse gelegene Doppelstadt Görlitz/Zgorzelec mit deren Europamedaille ausgezeichnet worden. Seine jüdischen Vorfahren hatten die nicht nur wunderschöne und kulturhistorisch bedeutende, sondern damals auch noch reiche Stadt 1933 fluchtartig verlassen müssen – ein die weitere Familiengeschichte entscheidend prägendes Ereignis, das Guggenheimer nicht mehr losgelassen hat. Und so bekam das westliche Schlesien ausgerechnet einen Schweizer zum Chronisten!

Seit dem Jahr 2001 beschäftigt sich der Autor intensiv mit der westpolnischen Stadt, die gleichzeitig die östlichste Deutschlands ist. In seinem 2005 in überarbeiteter Auflage neu erschienenen literarisch-feuilletonistischen Streifzug «Görlitz. Schicht um Schicht. Spuren einer Zukunft» zeichnet Guggenheimer ein eindrucksvolles Panorama dieses architektonischen Kleinods, das in den letzten Jahren von zahlreichen Touristen neu entdeckt worden ist. Es geht in seinem Buch nicht nur um die meist recht glanzvolle Geschichte der Stadt und das, was davon noch übrig ist, sondern auch um ihre gewaltigen Probleme im 20. Jahrhundert, die sich erst seit den letzten Jahren Schritt für Schritt zu mildern scheinen. Der zu Zeiten des real existierenden Sozialismus eklatante Verfall der Bausubstanz scheint gestoppt, die der definitiven Abwicklung vieler Industriebetriebe nach 1990 gefolgte hohe Arbeitslosenquote stagniert zumindest, und nach dem massiven Bevölkerungsschwund der neunziger Jahre sind nun wieder Zuzüge zu verzeichnen. Guggenheimer erläutert das alles, vor allem aber porträtiert er, literarisch gekonnt und mit dem historisch geschulten Blick des Fremden, einzelne Menschen und charakteristische Örtlichkeiten. Das macht sein sympathisches Görlitz-Buch lesenswert.

Die meisten Schriftsteller nehmen bisweilen Gelegenheitsarbeiten an, und oft müssen sie das auch. Oder sie helfen einfach einer guten Sache. Guggenheimers Beitrag zu dem mit eindrucksvollen Fotografien glänzenden und deshalb auch sehr ansehnlichen Bildband «Unterwegs in Görlitz» von 2007 ist eine solche Gelegenheitsarbeit. Seine Texte unterrichten in aller Kürze über das Wichtigste zum Thema. Als «literarisch» wird man diese Tourismusbüro-Prosa allerdings kaum bezeichnen können. Für die attraktive Doppelstadt aber darf man hoffen; denn, mit Michael Guggenheimer gesprochen: «Görlitz ist auf dem Weg, zu einem Scharnierort zwischen Ost und West zu werden.»

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Michael Guggenheimer: «Görlitz. Schicht um Schicht. Spuren einer Zukunft». Bautzen: Lusatia, zweite Auflage 2005.

Gerald Grosse: «Unterwegs in Görlitz». Mit Texten von Michael Guggenheimer und Andreas Bednarek. Bautzen: Lusatia, 2007.

Gehst als Tagwandler

Manche Bücher erzählen Geschichten, andere vermitteln Wissenswertes. Wieder andere scheinen nichts weiter zu beabsichtigen als zu schwingen wie die Saite eines Instruments. Der Leser ist eingeladen, als Resonanzkörper mitzuspielen. Markus Bundis «Das Grinsen des Horizonts» ist eine schwingende Saite.

In drei Teilen versammelt der Band parolenabgeneigte Prosa und furios zurückhaltende Lyrik. Der Prosateil «Sein wie Glas» beginnt mit der Blutentnahme bei einem Kind und endet mit einem Liebesbrief aus einem feuchten Kellerloch. Assoziativ miteinander verbundene Gedichte stellt der zweite Teil nebeneinander: auf der linken Seite spüren wir einen Lufthauch im Nacken – «deines Schutzengels vielleicht» –, auf der rechten Seite fühlen wir uns «ausgesetzt und eingesperrt – beides zugleich». Im dritten Teil, den «Notizen eines Andern», folgen einsätzige Denkanstösse, wohlgezielte Seitenhiebe, die das Absurde, Banale, Irritierende des täglichen Lebens in insgesamt 42 Sätzen auf den Punkt bringen.

Bundi schreibt weder mit «spitzer Feder» noch mit «scharfer Zunge». Mit groben Pointen, sentimentalen Gefühlen, Sensationen und Provokationen liebäugelt er nur aus ganz weiter Ferne. Seine ungekünstelten Verse, Kürzestgeschichten und schlichten Einsätzer beschreiben die Männer von der Müllabfuhr als Kulturträger, zeichnen Gespräche mit Fischen nach («Ich sagte ihm, dass ich keine Ahnung hätte, ob sein Aquarium grösser sei als meins»), stellen Betrachtungen an zu heiligen Kühen, existenzsichernden Fenstern, fliessendem Glas und jungen Katzen, die treibendes Laub zum Erliegen bringen.

In den biografischen Angaben wird Markus Bundi als «freier Autor» bezeichnet. «Das Grinsen des Horizonts» gibt dieser gängigen Berufsbezeichnung einen Inhalt: der freie Autor schreibt einen Satz und überlässt den Rest der Seite dem Leser als Notizpapier. Der freie Autor skizziert Geschichten und bricht sie ab, sobald sie Gefahr laufen, originell zu werden. Der freie Autor ist im täglichen Leben Hilfsbuchhalter, Versicherungsstatistiker, Redaktor eines Lokalblatts, als Schreibender nimmt er sich heraus, langsamer zu gehen.

«Wenn weiter nichts ist, würde er gern so weitermachen.» Sollte Bundi im Abschnitt «Notizen eines Andern» dennoch sich selbst meinen, hoffen wir Leser, dass weiter nichts sei und er so weitermachen könne wie im «Grinsen des Horizonts». So frei und einladend.

vorgestellt von Christoph Simon, Bern

Markus Bundi: «Das Grinsen des Horizonts». Eggingen: Isele, 2007.

Der Globus ist ein Warenhaus…

…oder trägt die Erdkugel gar den Namen des Warenhauses? Dann müsste die Erde ein Einkaufsparadies sein. Das Kaufhaus Globus jedenfalls ist eines – und dies seit nunmehr hundert Jahren. Dies wird von Globus stilvoll gefeiert, und zwar mit dem für ihn typischen Hauch von Luxus und Exklusivität. Beides ist auch im Jubiläumsbuch zu spüren, mit dem Globus sich selbstbewusst präsentiert.

Schon beim Blättern verliert man sich. Da ist das Inserat, das 1925 für die neueste technische Errungenschaft wirbt: für Ventus, den Staubsauger, der auch als «Heisslufthaartrockner» zu benutzen ist. Da sind charmante Bilder aus der Hauszeitung, die das typische Interieur der dreissiger Jahre zeigen oder Szenen von der Globus-Modenschau 1939 festhalten – grosse Blumenmuster sind angesagt. «Verkleinerungen von Kriegsmaschinen», so teilt 1965 ein Weihnachtsinserat mit, gehören nicht in Kinderhände, «und deshalb verkaufen wir im Globus diese Art ‹Spiel’-Zeug› nicht». Da ist, aus dem Jahr 1977, die peppig-freche und politisch-augenzwinkernde Werbung für Spezialitäten aus China. Sie brachte die chinesische Botschaft so auf, dass das Heer der uniformierten Pappchinesen abmarschieren musste, die da in Reih und Glied im Hintergrund des Schaufensters standen. Die siebziger Jahre können gar nicht so muffig-braun gewesen sein, die Modefotos beweisen es. Allerdings ist man geneigt, das beim Betrachten der seinerzeit trendigen Polstermöbel gleich wieder zu bezweifeln.

Unweigerlich begibt man sich so auf eine Zeitreise, die durch die eigene Vergangenheit hin mitten die Gegenwart führt: wer hat Globi nicht geliebt? Wer kennt nicht den gespitzten Rotstiftstummel und den dazugehörigen Slogan «Wer rechnet, kauft im Globus»! Das Plakat, 1942 entworfen, wird von Globus noch immer als Ausverkaufswerbung verwendet.

Der Band – eine besondere Werbung? Freilich, das ist er. Aber er ist auch ein besonderes Geschichtsbuch, nämlich eines, das hundert Jahre Zeitgeschichte in Schweizer Waren- und Konsumgeschichte spiegelt, dabei ein Kapitel Sozialgeschichte aufblättert und alles in allem die Geschichte eines besonderen Schweizer Unternehmens zu einer unterhaltsamen Lektüre macht. Das allein schon darf gefeiert werden, meine ich, und feiere es auf meine Weise: mit etwas Besonderem aus Globus Delikatessa.

vorgestellt von Ute Kröger, Kilchberg

Ernst Pfenninger: «Globus – das Besondere im Alltag. Das Warenhaus als Spiegel der Gesellschaft». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2007.

Amrain, Zentrum der Welt

«Toteninsel», «Borodino», «Die Ballade vom Schneien» und «Land der Winde»: mit diesen 1979 bis 1990 erschienenen vier schlanken Romanen vor allem verbindet sich Gerhard Meiers später Ruhm. Aus Anlass seines 90. Geburtstags am 20. Juni letzten Jahres hat Suhrkamp sie in einer schmuck ausgestatteten Kassette neu vorgelegt. Welche Faszination von dem Doyen der Schweizer Literatur auszugehen vermag, spiegeln die Nachworte von Peter Handke, Michel Mettler und Peter Weber, dreier Kollegen also, sowie das des Literaturwissenschafters Werner Morlang.

Die Handlung der Tetralogie ist nicht der Rede wert. Alles konzentriert sich auf die Bummeleien zweier Herren gesetzteren Alters, wobei in den ersten beiden Büchern Bindschädler meist der schweigsame Zuhörer Baurs ist, während er in der «Ballade vom Schneien» bei dem sterbenden Weggefährten wacht, dessen Grab er im Schlussband aufsucht. Stets kreisen diese Rundgänge im tieferen Sinn um Erlebnisse, Vorstellungen und Ansichten der beiden. Ebenso eigensinnig wie versponnen, hellwach wie zuweilen skurril begeben sie sich auf die Suche nach einer abwesenden Zeit, die erst in der Sprache zu sich kommt. Proust, sagt Baur, sei der «intelligenteste Schriftsteller», denn er habe «die unangestrengteste Prosa geschrieben». Auch Meier ist ein intelligenter Schriftsteller.

Nichts wäre unangemessener, als ihn zum quasiexotischen Provinzler zu stempeln, für den sein Dorf das «Zentrum der Welt» bleibt, Amrain, wie in den Romanen der Name für Meiers Geburts- und Lebensort Niederbipp lautet. Zu lernen, was Weltoffenheit eigentlich bedeutet, wäre vielmehr von ihm, dem erklärten Liebhaber des Kleinräumigen, der zugleich ein Himmelsfreund ist. Immer scheint dieser «Augenmensch» mehr wahrzunehmen als wir es vermögen. Mit unerhörter Eindringlichkeit und Konzentration erfasst sein Blick noch die feinsten Abstufungen von Farben, Licht und Schatten in der Atmosphäre. Einer wie er kann daher auch mit Grund noch davon sprechen, dass «Kunst etwas Bewegendes, Betroffenmachendes» sei, sind es doch Bilder und Musikstücke, Werke aus Literatur und Film, die seinen Protagonisten Erfahrungen vermitteln, ohne die das Leben schal bliebe.

Im Kern ist Meiers Schreiben kontemplativ, mithin zeitkritisch. «Einer Epoche», deren Allmachtswahn «in Konkurrenz zur Natur zu treten versucht», setzt er Inhalte entgegen, die in formalen Strukturen ihr Echo finden. Darin zumal besteht Baurs und Bindschädlers Weisheit, dass eine menschengemässe Existenz sich ihrer natürlichen Rhythmen bewusst bleibt, dass wir sie als Summe von nicht nur biologischen «Wiederholungen» begreifen sollten, in die man sich einzuüben hat. Auch die Einheit mit den Toten zählt dazu, die hier manchmal zu reden beginnen. All dies steht quer zu den vorherrschenden Modernisierungs-, Rationalisierungs- und Optimierungsprogrammen dieser Jahre, zur von Erlebnisgesellschaft und Spannungskultur unterfütterten Züchtung des «nützlichen Menschen» (wie, Konrad Lorenz zitierend, einmal gesagt wird). Des Autors Skepsis an jener Aufklärung, die sich mit der Dürftigkeit eines «materialistischen Allerwelts-Weltbilds» begnügt, geht mit dem Plädoyer für «das Unbegreifliche», das «Geheimnis dieser Welt» einher und ist entschieden antitotalitär grundiert.

Weder nostalgisch noch auftrumpfend (und erst recht nicht auf irgendwelche «Debatten» schielend) entfaltet Meier schon vor drei Jahrzehnten sein Zentralthema des «Vakuums an Spiritualität». Einfache biblische Frömmigkeit und das Bewusstsein kosmischen Bezogenseins gehen hier ineinander. Da finden sich denn auch einmal seitenlange Wiedergaben des Schöpfungsberichts der Genesis, von Psalm 104 oder der Bergpredigt, als gehörten sie ganz selbstverständlich in den eigenen Text – und das tun sie ja auch. Der Mensch, heisst es, ist bloss «diesseitig … gar nicht fassbar».

Meier stellt das dar, wozu wir nicht mehr fähig sind. Er führt uns einen verlorenen Zustand vor. Dafür, dass wir ihn verloren haben, wird der Preis wahrscheinlich ein hoher sein. Nicht so sehr getröstet, als in tiefem Ernst lassen uns diese Bücher zurück. Ihr stiller ist zugleich ein beängstigender Autor, wie er uns not tut.

vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Münster

Gerhard Meier: «Baur und Bindschädler». Amrainer Tetralogie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007.

Begehrte Berner Barettlitöchter

Den Bernern sagt der Volksmund gerne einen Hang zur Gemächlichkeit nach. Die Lektüre der Erzählungen des «Klassikers der berndeutschen Literatur», Rudolfs von Tavel (1866–1934), lässt jeden Nichtberner erfahren, worin diese Gemütlichkeit gründet: im Dialekt. Beginnt man nämlich von Tavels in Berndeutsch geschriebene Geschichten zu lesen, so muss man zunächst erfahren, dass sich der Leseprozess deutlich verlangsamt. Hat man sich, nicht zuletzt mit Hilfe der beigelegten CD, auf der einige Passagen der Texte vorgetragen werden, dann eingelesen, so kann man sich auch am Inhalt erfreuen und lässt sich mit Vergnügen in die vorwiegend heitere Welt von Rudolf von Tavels 18. Jahrhundert entführen.

Der von der Berner Stiftung «Rudolf von Tavel» herausgegebene Band enthält Auszüge aus drei Romanen von Tavels und eine Kurzgeschichte, die alle das Berner Leben im Ancien Régime beleuchten. Den realhistorischen Hintergrund der Erzählungen haben die Herausgeber mit sehr stimmungsvollen Fotografien dokumentiert, die einige der Schauplätze, Persönlichkeiten oder Gegenstände illustrieren, die von Tavel in seinen Geschichten erwähnt. Sie tragen mit dazu bei, das Bild von Berns goldener Zeit, wie das Berner 18. Jahrhundert auch gerne genannt wird, zu zementieren.

Im Zentrum der meisten hier versammelten Erzählungen stehen die sogenannten Barettlitöchter; junge Patriziertöchter, deren Väter im Berner Rat sassen und die deshalb von vielen Verehrern hofiert wurden. Auffälligerweise zeichnet von Tavel allerdings nun nicht die kalkulierten oder von den Eltern bestimmten Eroberungsversuche nach, sondern lässt die Paare stets aus wahrer Liebe zusammenfinden. Oder wie es der Titel bereits verkündet: «uf d Liebi chunnt’s alleini a» – und nicht auf politisches Karrierekalkül –, wenn es ums Heiraten geht. So entwirft von Tavel ein sehr harmonisches Bild der Berner Familien, das wohl nicht so sehr die realen Verhältnisse widerspiegelt, dafür aber den heutigen Ehe- und Liebes-Vorstellungen sehr nahekommt. Die Geschichten über die einmal schneller, einmal langsamer Zueinanderfindenden enthalten allerlei amüsante Situationen: da wird eine vornehme Picknick-Gesellschaft von einer Kuhherde verfolgt, da sieht sich eine adlige Familie nach einem Landsausflug gezwungen, lange Verhandlungen mit den Wächtern der Berner Stadttore zu führen, um passieren zu dürfen, da schliesst ein Landvogt aus Versehen seine Gäste im Salon ein und ist überrascht, diese am nächsten Morgen noch anzutreffen, da liefern sich Bedienstete eine Verfolgungsjagd durch das nächtliche Bern, weil die Laterne der Herren abhanden gekommen ist. Solche Episoden erinnern an volkstümliche Schwänke, die so gar nicht mit den Clichés der eher steifen, auf Moral, Sitte und Konventionen bedachten Berner Aristokraten zusammenpassen.

Von Tavel sucht stets hinter den Gepflogenheiten der Bienséance, des richtigen Verhaltens in Gesellschaft, das Menschliche und kann deshalb ein farbenprächtiges und lebendiges Gesellschaftsgemälde zeichnen, das zwar weitgehend konservativ geprägt, aber durchaus auch modern ist. Unterhaltsam ist es auf jeden Fall; u das isch ging o guet.

vorgestellt von Jesko Reiling, Zürich

Stiftung Rudolf von Tavel (Hrsg.): «Uf d Liebi chunnt’s alleini a. Mit Rudolf von Tavel in das 18. Jahrhundert». Mit 40 Fotografien von Jürg Bernhardt und Audio-CD. Muri bei Bern: Cosmos, 2007.

Ein alter Löl erklärt die Welt

Das Phänomen Altersmilde ist sattsam bekannt. In «Die Frau des Metzgers» erzählt ein alter Tatterer in charmantem Plauderton wie er als 19jähriger empfindsamer Metzger in ungeschlachter Umgebung seine grosse Liebe kennenlernte. Da macht einer glauben, dass Liebe seinerzeit einfach nicht vorhanden gewesen, ihm aber das Glück zuteil geworden sei, «ein Hildi» kennenzulernen, das ihm klar machte, was Liebe sei. Er ist in Liebesdingen ein Mann der alten Schule und verschreibt sich lebenslänglich dieser Frau. Verehrerinnen wird er mitunter erst los, wenn er ihnen «in der Wursterei einen Munistotzen an den Grind warf». Als Hildi schwanger wird, begräbt er berufliche Zukunftspläne, sucht 21jährig eine Arbeit: «Die Ethik und der Stolz spielten bei mir eine Musik. Dazu brauchte ich keine Pfaffen. Entweder weiss man, was man zu tun hat, oder man weiss es eben nicht… Wir krampften von früh bis spät, fünfzehn Stunden oder mehr am Tag. Ab und zu feierten wir ein bisschen und fielen unter die Tische. Das war das ganze Leben.»

Der 92jährige Hans Meister erzählt seiner Enkelin die Geschichte vom Kennenlernen bis zum Tod seiner grossen Liebe. Eine Geschichte, die in den 1920ern beginnt und in den 1990er Jahren endet. Das ist natürlich jede Menge Stoff. Weil der lebenslustige Greis den Tod nahen spürt, gibt er sich schonungslos und freimütig, möchte abladen, versucht auf den Grund zu gehen, kommt aber doch nicht aus seiner Haut heraus: «Ein bisschen verdreschen schadet niemanden. Statt immer nur lafern. Das ist meine Meinung, musst sie ja nicht teilen.» «Säbi Zit», so die Standardrechtfertigung, wäre eben ganz anderes gewesen. «Säbi Zit» machte der Hans Karriere, und das Hildi vereinsamte. «Säbi Zit» wurde er wichtig, sie bekam Minderwertigkeitskomplexe. Er lernte Leute kennen, sie konnte nicht mitreden. «Säbi Zit» traf er die Entscheidungen, alle. Gefragt wurde niemand, sie wurde vor vollendete Tatsachen gestellt und zwar in allen Bereichen, betrafen sie nun den Umzug, die Firmengründung oder den Urlaub. Frauen hätten heutzutage diese «Hingabe» nicht mehr, heisst es da.

Ein «alter Löl» erklärt da die Welt, gibt sich reuig, schämt sich bisweilen und gesteht ein, nicht über seine Nasenspitze hinausgeschaut zu haben. Eine Abrechnung nicht nur zu eigenen Gunsten, und die Enkelin, Susanna Schwager, schreibt mit, verdichtet und veredelt in grossartiger Manier. «Alles was ich aufschrieb, wurde gesagt. … Die Wahrheit bleibt ein Umriss», schreibt sie in ihrem Nachwort.

«Die Frau des Metzgers» erzählt die Geschichte Hildi Meisters nicht nur aus der Erinnerung ihres Mannes, sondern es kommen auch ihre jüngste Schwester und ihre älteste Tochter zu Wort. «Er brachte sie dann nach Hause, mit der Handtasche voller Scherben», so erzählt die Tochter über ihre Zeugung. Drastisch wird klar, dass die Erinnerung des Herrn Meister sich im Laufe der Jahrzehnte offenbar verselbständigte und mit der Wahrheit wohl nur mehr entfernt verwandt sein dürfte. Dieses Buch lässt den Leser die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse begreifen, führt vor Augen, warum sich so lange nichts änderte. Ein trauriges, aber wichtiges Buch. Ein Monument für eine grosse Schweigerin. Eine uneingeschränkte Empfehlung.

vorgestellt von Markus Köhle, Wien

Susanna Schwager: «Die Frau des Metzgers». Zürich: Chronos, 2007.

Mit Hund über der Schulter

Alain Claude Sulzers neuer Roman handelt von grossen Themen: Vertrauen und Verrat, erfüllten und unerfüllten Hoffnungen, Stolz und Selbstachtung. Im Zentrum der Geschichte steht der 22jährige Leo Heger, der im Sommer 1968 aus seiner tschechischen Heimat flieht und über Wien in die Schweiz gelangt. Durch ein Sozialwerk findet er Quartier bei einem älteren Ärztepaar, das ihn höflich, aber distanziert bei sich aufnimmt. Seine eigentliche Bezugsperson wird seine Sprachlehrerin Martha Dubach. Sie ist zwölf Jahre älter als Leo, hat zwei Kinder im Teenager-Alter und sieht die ehrenamtliche Tätigkeit vor allem als Chance, der bedrückenden Enge ihres Haushalts zu entkommen. Über den blossen Sprachunterricht hinaus werden die wöchentlichen Privatstunden für beide zur einzigen Gelegenheit, sich einem anderen Menschen mitzuteilen. Leo nutzt dies, indem er Martha von seiner Freundin Laura erzählt, die er ohne Abschied in Prag zurückgelassen hat, weil sie ihm bei seiner Flucht nur hinderlich gewesen wäre. Martha wiederum redet sich den Kummer über ihren Vater von der Seele, der nach dem Tod seiner Frau jede Kommunikation verweigert und in einem Altenheim dahinvegetiert. Aus der anfänglichen Nähe entwickelt sich bald eine Liebesaffäre, die der sexuell unerfahrene Leo geniesst, während Martha dadurch ihre Unabhängigkeit gegenüber der Familie behauptet. Gleichwohl ist die Beziehung ohne Perspektive. Denn Leo verschweigt, dass die Schweiz für ihn nur eine Zwischenetappe ist und er bereits heimlich Englisch lernt, um in den USA ein Medizinstudium zu beginnen. Tatsächlich, so erfahren wir aus zwei den Roman einrahmenden Episoden, bringt Leo Heger es später in Seattle zu einer gutgehenden Zahnarztpraxis und einem Haus in exklusiver Lage. An eine Martha Dubach kann er sich nach dreissig Jahren nur noch dunkel erinnern.

Die geradezu klassische Erfolgsstory eines mittellosen Emigranten wäre nicht weiter bemerkenswert, würde Sulzer sie nicht mit der parallel erzählten Geschichte von Leos Grossmutter Olga konterkarieren. Anders als ihr umtriebiger Enkel lebt die verhärmte Frau seit Jahrzehnten allein in einem abbruchreifen Bauernhaus in der tschechischen Provinz. Ohne Interesse an menschlichen Kontakten, redet sie nur noch mit sich selbst oder ihrem Hund. In der Beschreibung des von Pilz und Moder befallenen Hauses, der Spiegelscherbe über dem gebrochenen Spülstein und den sich von der Wand schälenden Tapeten wird die ganze Tristesse des sozialistischen Alltags gegenwärtig. Und doch erheischt diese karge Existenz keineswegs unser Mitleid. Gerade in der Beharrlichkeit, mit der die alte Frau stur ihren täglichen Verrichtungen nachgeht, zeigt sich ein unbändiger Stolz und der Wille zur Selbstbestimmung. Als man ihren Hund aus Rachsucht oder purer Bosheit erschiesst, weiss Olga, was zu tun ist. Mit dem toten Tier über der Schulter steigt sie auf den Dachboden, um sich am Haken, an dem früher der Schinken hing, aufzuknüpfen. Die Passage ist die traurigste, aber sicherlich auch die einprägsamste des ganzen Buches, geschrieben in einer respektvolle Distanz wahrenden, ganz und gar unsentimentalen Sprache. Darin steckt eine grosse Meisterschaft. Und das Wissen darum, dass sich Wert und Grösse eines Lebens nie allein am Erfolg bemessen.

vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld

Alain Claude Sulzer: Privatstunden. 237 Seiten. Zürich: Edition Epoca, 2007.

Sprachmoleküle im Bild

Was ist die kleinste sprachliche Einheit? Die Silbe, ein Laut oder ein einzelner Buchstabe? Fest steht immerhin so viel: wer sich mit den Molekülen der Sprache beschäftigt, kann so manche Entdeckung machen, den Wörtern da und dort auf die Schliche kommen – und so auch sich selbst. Von solch anhaltender Beschäftigung zeugt Mara Kempters Band «Hin und zurück».

Angekündigt werden «lyrische Texte», was aber nur die halbe Wahrheit ist. Denn die 65jährige Aarauerin schreibt nicht nur Gedichte, sondern setzt diese auch gestalterisch um. Was der Band also offenbart, sind graphische Gedichte, konkrete Poesie, wie einst Eugen Gomringer sie ins Leben rief. Epigonalität liegt Mara Kempter allerdings fern, sie geht andere Wege, gehorcht den eigenen Regeln. Konsequent bedient sie sich der Kleinbuchstaben der klassischen Schreibmaschine (nicht etwa Courier, wie heute jeder Computer sie als auszuwählende Schrift aufgelistet hat). Je nach Text sind die Zeilen linksbündig gesetzt, befinden sich auf einer Mittelachse oder sind in versetzten Blöcken arrangiert. Graphik und Text gehen eine Symbiose ein, das eine lässt sich ohne das andere nur schwer oder nur unvollständig beschreiben. Nehmen wir zum Beispiel den Satz: «Die Durchsichtigkeit nicht übersehen.» – Auf der Bedeutungsebene ist unschwer ein Paradox auszumachen, die Autorin würde diesen Satz jedoch nie so schreiben, vielmehr unterteilt sie diesen in elf Zeilen, wobei jede Zeile aus genau drei Buchstaben besteht: «die / dur / chs / ich / tig / kei / tni / cht / übe / rse / hen». Was der Satz vermittelt, spiegelt die graphische Umsetzung; dieses «Bild» schafft, wenn man so will, einen zusätzlichen doppelten Boden. Geschickt entgeht Kempter der Falle der blossen Illustration, nie wird die Graphik zum didaktischen Mittel, ist vielmehr gleichberechtigter Partner beim steten Versuch, «das a sagen zu / b schreiben».

Da kann es dem Leser schon mal «sprech / blasig / glasig» werden, wenn die Buchstaben solcherart tanzen. Es ist eben ganz erstaunlich, was in den einzelnen Wörtern steckt; und es ist schlicht schlagend, wie Mara Kempter uns diese Geheimnisse – eben «Hin und zurück» – offenbart.

vorgestellt von Markus Bundi, Baden

Mara Kempter: «Hin und zurück. Lyrische Texte». Eggingen: Edition Isele, 2007.

Abheben mit Reto Hänny

Der Anfang ist unverändert geblieben, und ebenso das Ende. Dazwischen aber hat Reto Hänny seinen Roman «Flug» von 1985 gehörig durcheinandergewirbelt, so dass dessen Neufassung ein anderes Gesicht zeigt. Hänny hat den Roman beschleunigt, indem er ganze Absätze gestrichen hat, etwa solche, die von den Pionieren des Flugwesens erzählten. Demgegenüber verlieh er der Beschreibung des adoleszenten Lesers mehr Gewicht und bettete die Reminiszenzen an den Kindertraum vom Fliegen noch kompakter in schlingernde, artistische, hochpräzise Satzschlaufen ein.

Der Ich-Erzähler, der zu Beginn des Buches für einen Flug über die Alpen eincheckt, hebt in der Maschine selbst zu einem Erinnerungsflug in die eigene Kindheit ab. Er zählt sich nicht zu den kühlen Machern, denen das Fliegen längst zur alltäglichen Gewohnheit geworden ist. Noch immer spürt er in sich den «ikarischen Traum» – und stürzt gleichzeitig in Erinnerungen hinab, ins neblige, dunkle Tal, in dem er einst «zu Geborgenheit verdammt in der Stube ausharren» musste, sehnsüchtig hochblickend zum Postflugzeug, das allabendlich «unterwegs nach Süden jedenfalls; ins Licht und in die Wärme» seine Bahn über die Alpen zog.

Noch immer fragt er sich, warum die biedern, braven Bürger fortwährend versuchten, ihn am Boden zu halten und sein Anderssein verhöhnten: «an entscheidender Stelle blieb ihm der Zutritt verwehrt.» Weshalb wollen sie ihm den Traum vom Fliegen austreiben, wo doch nur zwei, drei Generationen früher ihre Vorfahren den Traum vom Fliegen mutig in die Tat umgesetzt hatten? Blériot beispielsweise, der sich allerdings nach seiner erfolgreichen Kanalüberquerung als ruhmreicher Pionier im Dienst des militärisch-industriellen Komplexes herumzeigen liess und sich nur spät nachts hin und wieder leise fragte: «Kann ich überhaupt fliegen, oder habe ich es nur als Kind gekonnt, wie alle?»

In dieser Kernfrage begegnen sich der Pionier und der Erzähler, der auf dem Flug über die Alpen das Staunen noch nicht verlernt hat. «Flug» ist auch in dieser Neufassung ein fesselndes Buch über den Traum vom Fliegen und die Lust daran; aber auch über die Angst der Erwachsenen vor solchen Träumen. Mit Recht setzt Samuel Moser in seinem Nachwort ein grosses Ausrufezeichen dahinter: «Es ist tollkühne Literatur – Aviatur!»

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

Reto Hänny: «Flug». Frankfurt: Suhrkamp, 2007.

Zerrinnern mit Fritz Senn

Allein schon der Titel hat etwas Widerständiges und Offenbarendes: Zerrinnerungen. Eine Fusion aus Zerrinnen und Erinnerung, ein Rinnsal, das zum Gedächtnisstrom wird und umgekehrt, ein unwillkürliches Verzerren des Gewesenen im und durch den Erinnerungsakt. Ein Band liegt uns vor, der etwas Ungewöhnliches bietet: kulturelle Überlieferung zum Thema «James Joyce und seine Gemeinde», enthusiasmiert und über philologische Detailfragen zerstritten wie sie ist – und das in Gestalt eines beinahe vierhundertseitigen Gesprächs zwischen gut zwei Generationen von Joyce-Experten, zwischen Fritz Senn, einem Joyceaner der ersten Stunde, der die Literatur dieses Grossen unter den Weltliteraten geradezu lebt und atmet, einem der profundesten Kenner des Werkes und dessen Aufnahme in den Literaturen und philologischen Wissenschaftszirkeln der Welt – sowie Christine O’Neill, einer irischen Joyce-Weisen, einst von Fritz Senn entdeckt und gefördert. Was beiden gemeinsam ist: ihre institutionelle Unabhängigkeit; Privatgelehrte sind sie, und diese so selten gewordene Ungebundenheit im akademischen Betrieb bestimmt den sehr ansprechend gestalteten Gesprächsband. Auch für Leser, die weniger genau mit dem Werk von Joyce vertraut sind, lohnt die Lektüre dieses Kulturdokuments, das gleichzeitig in «The Lilliput Press» in Dublin erschienen ist.

Man möchte keine Seite dieses Gesprächsbuches missen, selbst jene nicht, die Wiederholungen von bereits Gesagtem bringen; denn das gehört ja zur Authentizität eines jeden substantiellen Gesprächs. «Bis ein Gespräch wir sind» heisst es bei Hölderlin; die «Zerrinnerungen» lösen diese poetische Hoffnung ein, ein Gespräch, gestiftet von James Joyce. In diesem Buch fluten die Texte und Gedanken zwischen Limmat und Liffey; sie kreisen, meist konzentrisch, um grosse Themen (die Frage der «Sprache», der Edition – man denke an die nie beigelegten Querelen zwischen Hans Walter Gabler und John Kidd zur Frage des korrekten Ulysses-Textes – der Übersetzung und Mythen) sowie um die kleinen, sich für gross haltenden Querelen zwischen den verbissenen Joyceanern (in welcher literarischen Gemeinde fände man dergleichen nicht!), die Senn mit souveräner Ironie schildert und bedenkt. Überhaupt bringt sich hier ein grandioser Causeur ins Gespräch, der mich, pardon, oft mehr an Fontanes Idee der Causerien erinnert als an den eher gesprächskargen Joyce. Es liessen sich hier seitenweise Bonmots aus diesem Gesprächsband zitieren, Maximen zur Editionsweisheit, Einsichten über das Funktionieren literarischer Gesellschaften, aber eben auch Reflexionen zum Thema «Erinnern», was ja für Joyceianer mit einer unbedingten Zeitpunktgenauigkeit verbunden ist, gibt es doch einen heiligen Tag in deren Kalender, der 16. Juni (1904), Bloomsday, an dem sich Joyce und Nora Barnacle erstmals sehr nahe gekommen waren. Und wie es sich mit Leopold Blooms und Stephen Dedalus’ gleichfalls an diesem Tag unternommenen Streifzügen durch Dublin verhält oder nicht, erfahren wir in diesem Band auch. Nebst anderem finden sich in den «Zerrinnerungen» Wortprägungen Senns, die bleiben werden: die mir angenehmste lautet «Tychomatik» (sprich: «Machenschaften des Zufalls»), der Senn einen grossen Einfluss auf das Erinnern wie auf Konstellationen zubilligt, die unter anderem die Gründung der Zürcher James-Joyce-Stiftung ermöglichte. Mit Fritz Senn sich zu zerrinnern hat etwas ungemein Inspirierendes.

vorgestellt von Rüdiger Görner, London

Christine O’Neill: «Zerrinnerungen. Fritz Senn zu James Joyce». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2007.

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