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Schweizer Literatur in Kurzkritik IX

Mitten in der Schweizer Literatur mit den «Schweizer Monatsheften».
9 Bücher, vorgestellt in der neunten Folge der «Schweizer Literatur in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

Auf der Treppe mit Thomas Hürlimann

Unlängst geriet ich in eine Auseinandersetzung mit meinem alten Freund Fritz Müller-Zech, Chefkritiker der Literaturzeitschrift «Am Erker». Wir beide unterscheiden uns von der Standardausgabe des Intellektuellen darin, dass wir, wenn es sich vermeiden lässt, keine klassische Musik hören, sondern eine ausgesprochene Vorliebe für die Rockmusik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre haben. Ich möchte die Leser nicht mit Einzelheiten langweilen, aber uns ist «Quadrophenia» von The Who oder das «Hamburger Concerto» von Focus weit lieber als etwa Wagners «Meistersinger».

Unser Disput entzündete sich an der Frage, inwieweit es akzeptabel sei, durch Sampler, also Zusammenstellungen bereits anderweitig und zu unterschiedlichen Zeiten veröffentlichten Materials, auf eine Band aufmerksam zu machen. Müller-Zech ist hier Purist; er hasst alle Sammelalben, da die Stücke dort aus ihrem historischen, ästhetischen und intellektuellen Zusammenhang gerissen seien. Ich bin in dieser Frage toleranter. Auch was die Literatur betrifft.

So konnte ich Thomas Hürlimanns neues Buch ohne Vorbehalte lesen. Denn es sammelt Essays, Reden, kleinere Zeitungsartikel, Erinnerungen und porträtistische Skizzen aus den letzten sechs Jahren. Allesamt für bestimmte Anlässe geschrieben und nun ausserhalb dieser Anlässe publiziert: die üblichen Auftrags- und Gelegenheitsarbeiten eines Schriftstellers eben. Doch das Bändchen ist durchaus vergnüglich zu lesen. Nicht nur weil der Autor genug Verstand mit Phantasie und Erfahrung verbindet, um auf hohem Niveau zu parlieren, sondern auch, weil er zu viel Stil und Sprachvermögen besitzt, um uns mit angelesenen akademischen Weisheiten zu quälen. Gelungen ist der Band zudem, weil der Autor die heterogenen Beiträge durch – typographisch übrigens wunderbar in den Text integrierte – Randnotizen miteinander verknüpft und damit so etwas wie eine autobiographische und intellektuelle Grundierung seines Schreibens durchschimmern lässt.

Es gibt ein paar Kabinettstückchen, wie die Ausführungen zum Lesen als hohe Kunst der Weltvergrösserung, die übrigens vor nicht allzulanger Zeit hier in den «Schweizer Monatsheften» erschienen sind; die launigen Reflexionen zum Wesen des Fussballs, zu Jean Paul und Schillers «Tell»; es gibt aber auch einige schwächere Stücke, etwa zum befreundeten Musiker Daniel Fueter und dem Kunsthistoriker Werner Oechslin, sowie eine kleine Schriftstellersatire, die allenfalls ranzigen Altherrenwitz verströmt, wenn sie Alissa Walser als Sexsymbol im nassen Badeanzug über die sonnendurchglühten Kacheln der Autorenresidenz von Cadenabbia wandeln lässt und zeigt, wie selbst gestandenen Heroen der Feder schnell der letzte Rest von Verstand abhanden kommt, wenn Frauen im Spiel sind.

Zugleich wird die Latte, um es einmal so zu umschreiben, intellektuell sehr hoch gelegt, indem Hürlimann ein anfänglich unscheinbares, zunehmend aber zentrales Motiv seiner Texte, die Treppe, zur Übermetapher erhebt. Platons Höhlengleichnis, in dem die unterirdisch lebenden und von Schattenbildern genarrten Gefangenen nur über eine beschwerliche Stiege ans Licht und zur Wirklichkeit gelangen können, birgt für ihn eine elementare weltanschauliche Wahrheit. Die Treppe erschliesst eine andere, eine höhere Ebene. Sie findet sich daher – bald verborgen, bald offensichtlich – in vielen der Texte nicht nur als vertikale Denkbewegung, und am Schluss bekommt sie mit dem Essay «L’esprit de l’escalier» ein Denkmal gesetzt.

Spätestens jetzt wird deutlich: hier schreibt ein kluger und charmanter Reaktionär. Einer, der die Hoffnung auf ein Darüber, eine metaphysische Sicherung noch nicht aufgegeben hat, einer, der den Glauben an eine Welt verteidigt, die sich nicht im Diesseits erschöpft. Anders jedoch als bei seinem deutschen Kollegen Mosebach, der dem geneigten Leser ständig offensiv seinen Katholizismus unter die Nase hält wie ein Exhibitionist sein entblösstes Glied, äussert sich dieser Glaube bei Hürlimann meist diskret und persönlich. Aus kleinen alltäglichen Geschichten und Erlebnissen, aus dem Konkreten heraus erwächst die Reflexion, mal augenzwinkernd und selbstironisch, mal ernst. Auch wenn man Hürlimanns grosse Hoffnung nicht teilt, kann man seinen Plaudereien mit Vergnügen und Sympathie folgen. Selbst wenn es für meinen Geschmack ein paar klischeegebundene Seitenhiebe zu viel gibt, etwa gegen die Kulturbanausen unter den Hartz-IV-Empfängern, die mit Bier auf dem Sofa vor dem Fernseher ihr schäbiges Leben verdösen und nichts von der Hochkultur wissen wollen, oder unsere geliebten Alt-68er, die den «Guerillakrieg gegen die eigene Bürgerlichkeit» längst verloren haben und nun mit einem gewissen Leidensdruck ihr Theaterabo geniessen.

Aber diese Ausrutscher verzeihen wir dem Klosterzögling aus dem Stift Einsiedeln gern, zumal wir mit dem grössten Vergnügen das teuflische Grinsen bemerkt haben, mit dem der Autor in einer schönen Erinnerung an die pädagogische Provinz seiner Jugend davon berichtet, wie der gestrenge Priester-Rektor seines Gymnasiums auf einer Urlaubsreise im feurigen Schlund des Stromboli verschwindet.

vorgestellt von Gerald Funk, Marburg

Thomas Hürlimann: «Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand». Zürich: Ammann, 2008.

In der Leere mit sich allein

In Adrians Leben gibt es viele Frauen: Linda, Patricia, Tonja, auch Carmela; mit Carmela schlittert er sogar in die Ehe. Als Adrian noch klein war, gab es die unzähligen Au-pair-Mädchen. Eine Frau aber fehlt, schon immer, so sehr, dass Adrian sie immer neu erfindet – die Mutter. Eine grosse Schauspielerin sei sie geworden, erzählte der kleine Junge. Der erwachsene Adrian träumt, die Mutter sei in das Haus seiner Kindheit zurückgekehrt, in Graubünden, wo alles mit einer Begegnung auf dem Kartoffelacker begann, als Adrians Vater sich in das fremde Mädchen verliebte. Fremd sollte sie bleiben, auch nach der baldigen Hochzeit, und nach der Geburt ihrer beiden Kinder verschwand sie spurlos. Ihr Mann, Adrians Vater, verlor nie wieder ein Wort über die Frau, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte.

Und so blieb dem kleinen Adrian nichts anderes übrig, als mit wachsender, vergeblicher Wut nach der abwesenden Mutter zu fragen. Die Antworten musste er sich in stummer Familienrunde selbst geben. Seine Schwester Carla hat ihm nie ein Wort geglaubt. Überhaupt scheint sie der Sprache zu misstrauen. Ihren Ausdruck findet sie in der Musik, ebenso ihre Heimat. Sie ist so früh wie möglich von zu Hause ausgezogen und immer unterwegs. Mit dem Orchester auf Tournee, was vielleicht nur eine virtuose Form der Flucht ist. Adrian und Carla sind also längst erwachsen, aber das Loch, das die abwesende Mutter gerissen hat, lässt sich nicht stopfen. Carla kann vor der Leere nicht fliehen, Adrian das Traumbild mit keiner Wirklichkeit in Einklang bringen.

Diese Abwesenheit gestaltet Jacqueline Moser in ihrem ersten Roman «Lose Tage» so eindringlich wie lakonisch. Das Drama eines ganzen Lebens vermag sie in wenige Sätze zu fassen; das trifft auch auf die Randfiguren zu, die in Adrians und Carlas eigentümlich engen Welten auftauchen. Darin liegt eine grosse Stärke dieses Textes, zugleich auch eine Schwäche, zumindest im Hinblick auf die Gattungsbezeichnung. «Lose Tage» ist eine lose Folge von Vignetten, die oft, insbesondere im ersten Drittel, eine grosse Intensität erreichen. Doch zu einem Roman sind sie nicht zu fügen, und so lässt ausgerechnet diese Anstrengung einen starken Text im Lauf der Lektüre blasser und blasser werden. Schade, doch von Jacqueline Moser ist sicher noch einiges zu erwarten.

vorgestellt von Patricia Klobusiczky, Berlin

Jacqueline Moser: «Lose Tage». Frankfurt a.M.: Weissbooks, 2008.

Auf der Platte mit Meier

Dieter Meier, geboren 1945 in Zürich, steuert nicht nur seit gut drei Jahrzehnten in der Formation Yello Texte, Gesang und exzentrische Geräusche bei, sondern ist zudem bildender Künstler, Aktionist, Filmemacher und Autor. 2006 veröffentlichte er den Sammelband «Hermes Baby» mit feuilletonistischen Essays, einigen leider ziemlich üblen Gedichten, vor allem aber mit vielen guten autobiographischen Texten, darunter Szenen aus dem Leben eines manischen Pokerspielers, aus der «Schlangengrube der Getriebenen» , die beeindrucken, auch weil Meier seine Sucht nicht moralisierend betrachten mochte.

Als bildender Künstler hat er seine Stärken ebenfalls in den kurzen Spannungsbögen, in den Happenings und Aktionen, die er «Situationismus» nennt. «La Conquête de l’inutile», diese kurze Werkschau von 1969 bis 2007, ist eine Feier des Spielballdaseins. Durchschnittlich «ein paar zehntausend Tage» verbringt der Mensch auf dem «Planet Dada» – warum, kann er nicht wissen. Meiers Zentralthema, die Zumutung des Sinns, gesellt sich zu den zweckbefreiten Riesenmaschinen von Jean Tinguely, mit denen sich Meier beschäftigt hat: im Getriebe der eigenen unverstehbaren Existenz ist man zu Gast und muss dies als das einzig Sichere betrachten, alles andere konstruiert man, und sei es zur «Eroberung des Nutzlosen».

Meier vermittelt jedoch nie eine Leidenshaltung. Zumindest im Kunstbereich kann er über die Absurdität des Lebens lachen. Diese nicht streng chronologische, aber sehr interessante Werkschau präsentiert vor allem in Fotodokumentationen Meiers Ketten von konstruierten Momenten, irren Sortierungen, vorgenommenen Schicksalseinordnungen und grotesken Bemühungen, die dadurch mit der Welt des von umgedrehten Karten abhängigen Pokerspielers in Verbindung stehen.

1969 zählt er eine Werktagswoche lang auf dem Zürcher Heimplatz einen Berg kleiner Metallstücke akribisch in Beutelchen ab, nichts weiter. 1970 folgt in Zürich das öffentliche Angebot, sich das Schreiten über eine gepflasterte Strecke formal mit einer «Gang-Bestätigung» bescheinigen zu lassen – schon Jahrzehnte vor der Idee des «Charlottenburger Erlebnisbestätigungsamtes» von Katz & Goldt. 1971 kauft Meier von Passanten in New York ein «Yes» oder «No» für je einen Dollar, gibt ihnen dann ein Meier-Zertifikat und dazu die Versicherung, er werde mit diesen erworbenen Worten kein Schindluder treiben.

Eine durchgehende Charakteristik des Werkes lässt sich kaum geben, aber eines haben alle Aktionen und Stücke gemeinsam: der Bankierssohn Meier, der keine materielle Not kennengelernt hat, drängt sich nie auf. Stets bietet er an. Eine verblüffende Dezentheit, die Dada sonst nicht unbedingt kennzeichnet, springt hier ins Auge: alles ist schnell erfassbar und auch schnell wieder vorbei, spurlos. Mit einer Ausnahme. Für die Kasseler Documenta 1972 liess Meier auf dem Bahnhofsplatz eine Metalltafel zwischen die Gehwegplatten einsetzen, die besagte: «Am 23. März 1994 von 15.00–16.00 Uhr wird Dieter Meier auf dieser Platte stehen». Während dieser etwa 8000 Tage wurde er mit YELLO zum Star. Und so umgab ihn beim Lokaltermin zur Erfüllung der Prophezeiung eine grosse Menschenmenge. Die Aktion fand statt, das Beweisfoto zeigt Meier im besten Anzug, schmunzelnd und umringt von Fans; er steht wie versprochen auf dem Boden der selbstgeschaffenen Tatsache. Er widersprach sich damit selbst, denn es bestätigte eine Ordnung der Welt, es war eine eingehaltene Gesetzmässigkeit, und so nutzlos die Aktion auch erschien: Meier hätte dafür besser ausfallen sollen. Seine Verneinung des Sinnvollen ging hier also eigentlich schief. Aber wie hätte er die Aktion zerstören können, ohne der Sache damit eine wiederum unangemessene Schwere zu verleihen? Es war das schöne Dilemma eines in sich inkonsequenten Kunstwerks. Und so passte es dann doch.

vorgestellt von Marcus Jensen,

Dieter Meier: «La Conquête de l’inutile. Werke 1969–2007». Bern: Benteli, 2007.

In Brügge mit Aortariss

«Am ersten seiner fünf letzten Tage sass Jensen an seinem Pult, und draussen stand eine Kutsche im Regen», so fängt der erste Kriminalroman des vor allem für seine pfiffigen Kolumnen bekannten Linus Reichlin an. Wie bitte? Nein, Jensen ist Polizist in Brügge und stirbt noch nicht! Vielmehr steht er vor der Frühpensionierung, da er sich ganz seinem Hobby, der Atomphysik, widmen möchte. Dafür fällt alsbald der Kutscher vom Bock und ist tot. Dieser erste Todesfall hinwiederum, so viel sei verraten, bleibt für den Roman völlig ohne Konsequenz. Nachdem wir also gehörig verwirrt worden sind, meldet sich Brian Ritter, ein amerikanischer Alkoholiker auf Weltreise mit seinen zwei zehnjährigen Söhnen, bei der Polizei und gibt an, er werde bedroht.

In der Befragung durch Jensen äussern die Knaben den sehnlichen Wunsch, ihr Vater, unter dem sie unsäglich leiden, möge durchs Gebet den Tod finden. In der Nacht darauf wird Ritter auf der Strasse tot aufgefunden. Sein Tod, Aortariss ohne nachweisbare äussere Einwirkung, ist ein Rätsel und bleibt sogar für Belgiens besten Pathologen merkwürdig. Und weil gleichzeitig mit Ritters Tod die beiden Jungen aus dem Hotel verschwunden sind, nehmen wir mit Jensen die Spur auf. Aber nicht nur wir, es meldet sich bei Jensen auf die Zeitungsmeldung hin auch eine ausnehmend schöne Frau, Annick O’Hara, die ihn durch einen entscheidenden Hinweis auf die richtige Spur lenkt und sich, weil blind, kurzerhand von ihm nach dem Süden der Vereinigten Staaten und nach Mexiko begleiten lässt.

Warum sie sich auf die Suche nach der jungen mexikanischen Gesundbeterin und Heilerin begibt, die höchstwahrscheinlich die beiden Jungen entführt hat, erfahren wir freilich nicht; wir wundern uns nur mit Jensen über die Zähigkeit der Begleiterin, der jedes Mittel recht ist, um zu ihren Informationen zu kommen, und die sich durch nichts von ihrem Ziel abbringen lässt. Erst eine Klapperschlange…

Doch auch Jensen selbst gibt uns zu denken. Ist es möglich, einen Menschen durch Beten zu heilen – oder zu töten? In ihm kämpft eine dementsprechende Kindheitserfahrung mit dem Atomphysiker, und auch wir werden im Laufe des Romans Zeugen von Vorgängen, die uns an den Naturgesetzen zweifeln oder zumindest in uns den Wunsch aufkommen lassen, es möge doch solche – ins Positive und vielleicht auch ins Negative zielenden – Erscheinungen der anderen Art nun ebenfalls geben.

Die beiden Welten treffen sich in der Predigt, die der beschwipste Jensen dem aufmerksamen Wirt Conzales über die Relativität der Naturgesetze im subatomaren Bereich hält («das Wirkliche ist weniger real als das Mögliche»), und gegen Ende in dem schönen Gespräch zwischen Jensen und der Heilerin über Unordnung und Ordnung, Entropie und die starke Kernkraft. Und dass die Protagonisten des Romans einander doch nicht wie die Heliumatome begegnen, nehmen wir ganz zum Schluss gerne zur Kenntnis. Darum scheint es Reichlin in diesem Buch, in dem auch ernsthafte Töne Platz gefunden haben, vor allem gegangen zu sein.

Bei zwei, drei Längen fragt man sich vielleicht, ob sie nötig waren, etwa beim Exkurs über die Pathologie, der dem geneigten Leser schon etwas den Appetit nehmen kann, oder bei der abstossenden Redeweise des Sheriffs eines Provinzkaffs in den Südstaaten, dessen Rechtfertigung des Rauchens im Dienstzimmer unsere Laune freilich gleich wiederherstellt: «‹Ist eigentlich verboten›, sagte Caldwell und zündete sich eine Zigarette an. ‹Ich muss einschreiten, wenn jemand in meinem Distrikt in einem öffentlichen Raum raucht. Aber ich schreite immer erst ein, wenn sie zu Ende geraucht haben. Wenn ich das bei mir selbst anders handhaben würde, wäre das Diskriminierung. Und die ist auch verboten.›»

Die Produktion des Buches (in dem sich immerhin S. 125f. einer aufgrund der Aufschrift «Wellcome» von der Qualität eines Motels seine Meinung macht!), könnte etwas sorgfältiger sein. Der Freund einer sprachrichtigen und einheitlichen deutschen Orthographie lächelt jedenfalls über die Kombination von behände (S. 21) und aufwendig (u.a. S. 43), die zwar amtlich richtig, aber sprachlich falsch ist, und runzelt darüber, dass die Krankheit Fasciitis necroticans ab S. 167 mit Beharrlichkeit Fascitiis necroticans heisst, seine Stirn. Aber solches geht nicht zu Lasten des Autors und beeinträchtigt das Lesevergnügen nur minimal.

vorgestellt von Rudolf Wachter, Basel/Lausanne

Linus Reichlin: «Die Sehnsucht der Atome». Kriminalroman. Berlin: Eichborn, 2008.

Im Dada mit Wachtmeister Studer

Zürich, Bahnhofstrasse 19. Hier eröffnen Tristan Tzara und Hugo Ball im März 1917 die Galerie Dada, in der Absicht, so Ball, «eine kleine Gesellschaft von Menschen zu bilden, die sich gegenseitig stützen und kultivieren». Einer dieser Menschen ist ein 21jähriger Chemiestudent, der sich Clauser nennt. Balls Lebensgefährtin Emmy Hennings hat den jungen Mann zwei Monate zuvor bei einer Dada-Ausstellung kennengelernt. Sie sass an der Kasse und spendierte dem mittellosen Besucher die Eintrittskarte.

Am 28. April 1917 tritt Clauser bei einer Soirée der Galerie Dada auf. Laut Programmheft rezitiert er zwei eigene Gedichte: «Vater» und «Dinge». Ein literarischer Novize ist er allerdings nicht. Bereits als Schüler hat er für das Feuilleton einer Tageszeitung geschrieben, später sogar kurzfristig eine eigene Zeitschrift herausgegeben. Doch in Zürich findet er endlich Anschluss an eine bunte literarische Szene. Das Chemiestudium scheint er nicht sehr ernsthaft zu betreiben; statt dessen taucht er ein in das Leben der Boheme. Mit fatalen Folgen; denn er wird schwer morphiumsüchtig.

Friedrich Glauser, so Clausers richtiger Name, wurde 1896 als Sohn eines Schweizer Handelsschulprofessors in Wien geboren und gehört zu den tragischen Schriftstellerexistenzen des 20. Jahrhunderts. 1918 auf Druck des Vaters entmündigt, verbrachte er acht Jahre seines kurzen Lebens in psychiatrischen Einrichtungen. Doch vom Morphium, kurz MO genannt, kam er nicht los. «MO» ist auch der Titel des biographischen Romans, den der Autor Frank Göhre nun vorgelegt hat.

Göhre, selbst ein vielgelobter Krimiautor, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Werk und Leben Glausers. Mitte der achtziger Jahre verfasste er Einführungen für die bei Arche erscheinenden Neueditionen der berühmten Kriminalromane um den bärbeissigen Wachtmeister Studer, später gab er im selben Verlag die biographische Collage «Zeitgenosse Glauser» heraus. Und nun der «Lebensroman des Friedrich Glauser». Göhre lässt ihn am 29. April 1917 beginnen. Die Soirée in der Galerie Dada geht dem Ende zu. Auf der Bühne wird noch gesungen, während Glauser im Hinterzimmer sitzt und zur Spritze greift. «Er lockerte die Schlinge, liess das Stück Kordel achtlos zu Boden fallen. Hitze schoss durch die Venen, sein Herzschlag beschleunigte sich.» Später liegt er bewusstlos am Limmatquai, wo ihn seine Freunde finden. Es lässt sich unschwer erkennen, dass sich hinter diesen Figuren – bei Göhre heissen sie «Lilly» und «der Grossmeister» – Emmy Hennings und Hugo Ball verbergen. Doch es sind eben nicht in erster Linie die biographischen Fakten, die den Autor interessieren, sondern die «weissen Räume» dazwischen: «Ich zeichne das Bild eines in sich Verstrickten, eines Umtriebigen, spüre den Möglichkeiten und Wirklichkeiten eines gelebten Lebens nach, sehe in Glauser meinen Zeitgenossen.»

Diese Form der Anverwandlung ist nicht unproblematisch, führt sie doch zu einer Unmittelbarkeit des Erzählens, die dem Leser manchmal die Orientierung erschwert. Mehr als wettgemacht wird dieses Manko allerdings durch einen Gewinn an Atmosphäre. Als Romanfigur ist uns Glauser in seinen existentiellen Nöten näher, als er es als Gegenstand einer herkömmlichen Biographie sein könnte.

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino hat einmal von der Gefahr des Kafka-Syndroms für künstlerische Kreativität gesprochen: man könne nicht offensiv die Welt erobern mit seinen «eigenen Wahrnehmungen, mit seinen eigenen Kombinationen und Erfindungen, wenn man sich ständig dem Zwang der Legitimation» aussetze. Für Friedrich Glauser war die Legitimation seines Schreibens immer auch die Rebellion gegen die Autorität des übermächtigen Vaters. Befreien konnte er sich davon nicht, ebensowenig wie von seiner Morphiumabhängigkeit. Eine freie Autorschaft bleibt unter solchen Bedingungen Illusion. Das anschaulich und erfahrbar gemacht zu haben, ist das Verdienst dieses lesenswerten Buches.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

Frank Göhre: «MO. Der Lebensroman des Friedrich Glauser». Bielefeld: Pendragon, 2008.

Im Maghreb mit Poesie

Das Fremde ist Material; es fordert Aneignung heraus und gleichzeitig Abstandnehmen. «Wieso ist hier Afrika» fragt eines der Gedichte in Ivo Ledergerbers Lyrikband «Aus dem Maghreb» – eines der Gedichte, die alles in allem wenig Aufhebens von sich machen, aber langsam, ganz langsam in den Leser eingehen. (Die hier ebenfalls gebotene französische Übertragung wirkt allerdings weniger überzeugend und das nicht nur, weil sie diese fragezeichenlose Eingangsfrage schlicht mit «L’Afrique ici» wiedergibt und das nicht gerade nebensächliche «Wieso» unterschlägt.)

Auch Nachdichtungen aus dem Arabischen finden sich unter den Gedichten, etwa eine bewegende Steinhymne. Poetische Bilder aus dem tunesischen Karst; man darf und soll an Karthago denken, an dieses «esse delendam», an dieses Zerstört-Werden-Müssen – die Forderung, die der alte Cato im römischen Senat litaneiartig an jede seiner Reden anhängte. Ginge es darum, das eindrücklichste poetische Bild dieses Bandes zu nennen, so wäre es dieses: «Grell im Morgen/Sahara in der Höhe/auf Wolkendünen/gleitet/der Flugzeugschatten/im Regenbogenring.» (Zugegeben, dieses Bild findet in der französischen Version eine kongeniale Entsprechung: «Matin éblouissant/Sahara sur la hauteur/des dunes de nuages/escortent/l’ombre de l’avion/d’un anneau irisé».) Nicht alle Gedichte Ledergerbers erreichen das poetische Sprachniveau dieser Strophe; aber nahezu alle sind es wert, dass man sich ihnen stellt, abgesehen von der ersten Zeile des Bandes: «Wie wenn’s dich auf den Arsch haut»; eine derartige – pardon – Selbstverarschung der Sprache gehört in den Kindergarten. Als Auftakt für einen solchen (übrigens höchst ansprechend gestalteten) Band eignet sich ein so gesuchter Stilbruch nicht.

vorgestellt von Rüdiger Görner, London

Ivo Ledergerber: «Aus dem Maghreb». Frauenfeld: Waldgut, 2007.

Im «Café Odeon» mit Grappa

«Ein Wanderer im Alpenregen» – das war das Buch, das Franz Böni im Jahr 1979 seinen literarischen Durchbruch brachte. Dass er schon 1968 mit dem literarischen Schreiben begonnen hat, erfährt man aus einem neuen Band mit dem verheissungsvollen Titel «Sierra Madre. Prosa. 1968 bis 2007». Dazwischen liegen mehr als 20 Bücher, düstere Wortkunstwerke zumeist, geprägt von diffusen Ängsten und gefühlten Bedrohungen, oft in einer Schweiz spielend, die dem Leser als heil- und ausweglos erscheinen mag, als eigentlich kaum mehr bewohnbar. Gekonnte Katastrophenprosa.

Ein fleissiger Schriftsteller jedenfalls ist dieser Franz Böni, nicht wegzudenken aus der neueren Literatur der deutschsprachigen Schweiz. Dennoch stutzt man ein wenig, wenn man sein neues Buch aufschlägt. Der Anfangsabschnitt «Pamela. Frühe Prosa und Gedichte» enthält einige allzuschlichte Schreibversuche; die Jünglingsgedichte und die sonstige hier versammelte Prosa in recht biederem Schulaufsatzstil hätten nicht unbedingt gedruckt werden müssen. «Fahrraddiebe. Prosa und Aufsätze», der zweite und umfangreichste Teil der Sammlung, überzeugt da schon eher. Er bietet feinsinnige Skizzen ungewöhnlicher Lebensläufe, knappe Berichte über Lese- und Kinoerlebnisse und, ein Glanzstück, die geheimnisvolle Geschichte vom «Haus zum Schwarzen Garten» an der Zürcher Stüssihofstatt.

Die nicht allzu vielsagende Prosaübung «Café Odeon», die den Kollegen Arlati und die Kunst des Grappatrinkens zum Thema hat, gibt dem dritten Teil der Sammlung ihren Titel. Hier mögen Insider des literarischen Lebens auf ihre Kosten kommen, erfährt man doch manches über Bönis einstigen Verleger Siegfried Unseld und über zeitgenössische Schriftsteller und deren Marotten. Aber auch einige merkwürdige und bemerkenswerte Geschichten über die Schweiz und ihre Bewohner sind dabei, Texte über die Hopi-Indianer und das Yukon Territory und anrührende Prosaskizzen wie «Spiegel, das Kätzchen» oder «Lignano». Der als «Romananfang» bezeichnete letzte Teil mit der Überschrift «Adria», in dem es um Vater und Mutter, die Schweiz, Italien, Ägypten und manches andere geht, weitet das

«Lignano»-Thema aus, weit über den merkwürdigerweise »Bibbione» (statt «Bibione») geschriebenen, Lignano benachbarten Badeort hinaus. Das lässt sich lesen.

Heterogenität ist ein Kennzeichen dieser Prosasammlung, und das 22 Jahre alte Nachwort von Urs Bugmann kann Franz Bönis Texte naturgemäss auch nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Angst und Schrecken, Lieblosigkeit und Kargheit, Seelenlosigkeit und Schweigen werden herausgestellt, Stimmungen und Befindlichkeiten, auf die man in Bönis Arbeiten immer wieder stösst, auch in den späteren. Man mag über die Zusammenstellung des schmalen neuen Bandes bisweilen den Kopf schütteln – der mit wenig Sorgfalt erstellte Anmerkungsteil gibt über die Kompositionsprinzipien, falls vorhanden, kaum näheren Aufschluss. Man wird auf ein paar schwächere Texte treffen, in der Regel aber auf solide gebaute, vielfach interessante und manchmal herzergreifende Kurzprosa. «Sierra Madre» ist, bei allen Schwächen, eine angenehme und oft, im produktivsten Sinne, auch verstörende Lektüre. Wer Franz Böni allerdings überhaupt noch nicht kennt, sollte zu seinen «grossen» Büchern greifen. Es lohnt sich.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Franz Böni: «Sierra Madre. Prosa. 1968 bis 2007». Vaihingen/Enz: IPA, 2007.

In der U-Bahn mit Geschnetzeltem

Der Musikjournalist Silvano Cerutti legt mit dem Band «Gschnätzlets – Short Stories» sein Buch-Debüt vor. Es enthält auf 135 Seiten 30 kurze Geschichten. 30 Bissen für zwischendurch, ein Buch für die U-Bahn, fürs WC, für Leute mit wenig Zeit. Kurzgeschichten aus der Schweiz – man muss unweigerlich an Peter Bichsel denken, nicht nur, weil man gerne an ihn denkt, sondern auch weil man sich denkt: Ja, dieses Genre wird trotz Bichsel, Borchert, Bernhard, Böll im deutschsprachigen Raum nach wie vor etwas vernachlässigt. Okay, man könnte auch an Hermann, Bachmann und Faber denken, alles nicht sonderlich originell (die Auswahl, nicht die Autoren selbst) und zum Teil auch nicht mehr sehr aktuell. Man denkt sich also, gut, Short Stories, mal wieder. Das Interesse ist geweckt. Man betrachtete das Buchcover, ein leerer Teller, ein leeres Glas, eine Gewürzgarnitur, sauberes Besteck, aber ein ordentlich bekleckertes Tischtuch und denkt: Weinflecken? Blut? Suff (Ernest Hemingway)? Splatter (Edgar Allan Poe)? Man blättert los, bringt die ersten paar Erzählungen hinter sich und denkt: Okay, jetzt könnte aber auch mal eine andere Erzählhaltung eingenommen werden. Man nimmt die Verlagsinformation zur Hand: «roh, ungeschminkt, als wäre der Leser mit der erzählenden Person eng befreundet», heisst es dort. Aha. Weiter. Ein an sich grosser Freundeskreis, aber ein sprachlich und intellektuell doch sehr ähnlicher. Ja, die Erzählenden stammen aus den unterschiedlichsten Schichten – aber sie reden alle gleich, sie erzählen alle gleich, sie sind alle gleich formlos und haben gleich viel bzw. wenig Tiefgang. Ja, es werden Kraftausdrücke eingestreut, das allein macht eine Figur jedoch noch nicht authentisch. Da werden alle Figuren über einen sprachlichen Kamm geschoren, da gibt es keine Ausreisser nach oben und unten, das ergibt eine nivellierte Sprache mit da und dort eingestreuten Dialekthäppchen. Das ist ein etwas dünnes Gericht, denkt man und erinnert sich wehmütig an ein Wesensmerkmal der Short Story: stark komprimierten Inhalt. Man wünscht sich Verdichtung und Aussparung, Komplexität und Mut zur Lücke. Man muss sich mit Allerweltsoffensichtlichkeiten zufriedengeben. Jaja, die Arbeitswelt ist brutal geworden, da und dort Entlassene und Ungerechtigkeit. Gut, eine Kurzgeschichte muss nicht unbedingt eine Pointe, sie darf auch einen offenen Schluss haben, aber da muss das Präsentierte dann doch etwas mehr hergeben. Da dürfen nicht nur Gegenwartsklischees angezapft und dann nicht wirklich differenziert betrachtet werden. Emotionen und Konflikte sind zwar zur Genüge vorhanden, doch hier poltert ein alter entlassener Hase sprachlich und analytisch gleich indifferent wie ein junger Selbständiger. Das heisst, es werden einem zwar die verschiedensten Gerichte aufgetischt, aber nach ein, zwei Happen immer wieder entzogen. Das könnte einen ärgern, aber da sie alle ohnehin ähnlich schal schmecken, hält sich der Unmut in Grenzen. Kein Züri-Gschnätzlets mit Kalbs-, kein Basler Gschnätzlets mit Rindfleisch. Nicht Fisch – nicht Fleisch. «Gschnätzlets» ist ein Buch das dem Leser weder den Magen füllt, noch ihn sonstwie satt macht.

vorgestellt von Markus Köhle, Wien

Silvano Cerutti: «Gschnätzlets. Short Stories». Zürich: Salis, 2007.

Im Fan-Shop mit Groupies

Offenbar ist der Nerv des Zeitgeistes getroffen. Ein Kult wird zelebriert. Ein Mythos gefeiert. Einer Ikone gehuldigt: Publikumsandrang, täglich vom 19. März bis am 1. Juni dieses Jahres, im gewöhnlich eher leeren Strauhof, dem Zürcher Ort für literarische Ausstellungen. Eine raumfüllende Installation stimmt die Besucher ein. Kunstvoll assoziiert sie Abgründe, zeigt in fliessenden Bildern – unterlegt mit O-Tönen und ausgesuchter Musik – Schicksalsstationen einer Schönen, Reichen, Begabten, Gefährdeten. Konflikt mit der Familie, Reisen als Flucht und Suche nach Identität, Trauer, Leiden an den Bedingungen des Lebens sind dargeboten – ästhetisch und emotional höchst ansprechend.

Nein, nicht Lady Diana wird retrospektiv präsentiert. Gefeiert wird der 100. Geburtstag Annemarie Schwarzenbachs (1908–1942), und wir gehen durch Zürichs aktuelle Literaturausstellung «Eine Frau zu sehen».

Dem Geheimnis des «faszinierenden Lebens» dieser «atemraubend schönen Frau» und der sie «umdunkelnden Tragik» auf der Spur, schieben sich die Besucher an mäandrierenden Gestellen vorbei, beugen sich über die vielen kleinen Bilder, recken die Hälse, um die Dokumente lesen zu können, lauschen in einer Kabine den Erinnerungen Annemarie Schwarzenbachs an ihre übermächtige Mutter, während eine Filmsequenz die beiden einträchtig miteinander zeigt; manche tauschen, ehrfürchtig flüsternd, Eindrücke aus. Von der «ergreifenden Schönheit» der literarischen und journalistischen Texte ist allerdings dabei nichts zu hören…

Fan-Artikel, besser noch: Devotionalien, denkt der Beobachter unwillkürlich, Devotionalien liessen sich hier bestimmt gut verkaufen! Dabei hat er freilich nicht Billig-T-Shirts mit Porträtaufdruck im Sinn. Eher Kostbares und Edles, durchaus auch Teures. Wie etwa die prächtige, mächtige Bild-Biographie «Auf der Schwelle des Fremden» des Grossneffen Alexis Schwarzenbach, Kurator der «Ausstellung zum Buch», wie es im Verlagsprospekt heisst. Der Historiker konnte aus dem Vollen schöpfen: Beziehungen öffneten ihm (Archiv-)Türen und gewährten ihm Zugang zu Schatztruhen voller Material; das Familien-Archiv und Nachlässe, insbesondere Foto-Nachlässe von Familienmitgliedern, waren ihm zugänglich. Geld spielte bei der Herstellung offenbar keine Rolle. So entstand dieser wunderbare Band, dem es an nichts mangelt, vor allem nicht an privaten Fotos. Annemarie ist auf ihnen zu sehen, in jeder Lebensphase, in jeder erdenklichen Pose, sogar einem Bergsee entsteigend, «oben ohne». Wer mag sich da noch durch die wirklich eindrücklichen Fotoreportagen der Reisejournalistin Annemarie Schwarzenbach ablenken lassen?

Nicht ganz im Sinne des Titels, aber augenfällig ist, dass Alexis Schwarzenbach seine schöne Grosstante nicht «Auf der Schwelle des Fremden» stehen lässt, sondern sie ganz nah heranholt an den Betrachter, der hoffentlich auch zum Leser wird, denn es lohnt sich. Weit ausholend und aus intimer Kenntnis der Familiengeschichte(n) breitet er vor ihm das Leben Annemarie Schwarzenbachs im Familienkontext aus, streut Anekdoten ein, die glücklicherweise nicht zu Nähkästchenplaudereien ausarten. Der Autor hält Distanz.

Es sei Annemarie Schwarzenbach wichtig gewesen, als Schriftstellerin wahrgenommen zu werden, betont er. Ihm aber scheint ihr Wunsch nicht unbedingt Befehl gewesen zu sein. Sein Buch – wissenschaftlich fundiert, sprachlich geschliffen, denn Schwarzenbach ist ausgewiesener Historiker – feiert vielmehr Glamour und Tragik und ist ein Luxusprodukt. Dass es damit Bedürfnisse bedient, bestätigen Auskünfte verschiedener Zürcher Buchhändler: Trotz seinem Preis ist es ein Verkaufserfolg; die literarischen Texte Annemarie Schwarzenbachs hingegen sind weniger gefragt. Das Publikum lässt sich eben gern einladen, durch ein vermeintliches Schlüsselloch zu schauen.

Schlüssellochintimität wird auch geboten bei der Besichtigung von «Annemarie Schwarzenbachs Elternhaus Bocken, bis 1979 Wohnsitz der Familie». Alexis Schwarzenbach führt durch das normalerweise nicht öffentlich zugängliche Haus, das dem Credit Suisse gehört, den «Schauplatz der schweren Auseinandersetzungen zwischen Annemarie und ihrer Mutter Renée». Preis: gerade mal 39 Franken, inklusive «Voucher für einen Sandwichlunch». Im Nu ausverkauft. Na bitte! Homestories und diese Art Events sind heute gefragt. Wer will schon nur noch lesen? Selbst die «Welterstveröffentlichung» der «Schlüssel-Erzählung» – gemeint ist Annemarie Schwarzenbachs sexuelles Coming-out – «Eine Frau zu sehen», auch wenn sie schmal ist, lässt sich schliesslich anstrengungslos als Hörfassung konsumieren. Auch dem ist Rechnung getragen und das Hörbuch, gelesen von Bibiana Beglau, dem Buch beigefügt.

Die Anstrengung des Lesens lässt sich nicht umgehen bei der, ebenfalls datumsgenau erschienenen, Übersetzung der Biographie von Dominique-Laure Miermont «Annemarie Schwarzenbach. Eine beflügelte Ungeduld». Der Untertitel lässt Schlimmes befürchten. Aber der ist möglicherweise gewählt als verkaufsförderndes Zugeständnis an Lesererwartungen; denn serviert wird kein Psychokitsch, sondern Lesenswertes. Die französische Übersetzerin vieler Werke Annemarie Schwarzenbachs und Klaus Manns legte zusammen mit Nicole Müller bereits 1989 eine fundierte Biographie Schwarzenbachs vor: «L’Ange inconsolable» («Der untröstliche Engel», 1995). Nicht gerade ein Bestseller. Die Umstände waren wohl nicht danach, die Querelen um den Nachlass noch nicht beigelegt, und die Schwarzenbach-Renaissance dämmerte gerade erst herauf. Ihre neue «vibrierende Biographie» – so der Klappentext des Verlags, der sich voll guter Hoffnung wohl ein bisschen an dem Rummel beteiligt – basiert auf nun erst zugänglichen Quellen.

Bezeichnend für die Rezeptionsweise seit der Wiederent-

deckung Schwarzenbachs ist, dass ein Bild die Autorin inspirierte, ein Porträtfoto, das «eine unergründliche Hoff-nungslosigkeit» ausstrahle. Dementsprechend schildert sie das kurze, schillernde, schrille Leben der Annemarie Schwarzenbach als unendliche Geschichte einer Krankheit und entwickelt ein differenziertes Psychogramm eines Lebens in psychischer Not. Ob dieses Leben aber wirklich gelten kann als «Abbild der Instabilität und des fortschreitenden Zusammenbruchs einer Gesellschaft und eines Kontinents, die ihre Orientierung verloren haben»? Darüber würde der Leser gern mit der Biographin diskutieren, denn ihm entgeht nicht, was ihr roter Faden nur selten berührt: dass es ein privilegiertes Leben auf grossem Fuss war. Annemarie Schwarzenbach konnte es sich leisten.

«Es handelte sich bei ihr um eine schreibende Millionärstochter aus der Schweiz, die aus Spielerei und wahrscheinlich, um sich irgendwie interessant zu machen, regen Verkehr mit Prominenten pflegte und grosse Reisen machte», charakterisiert Oskar Maria Graf sie in seiner derben Art. Angesichts der derzeitigen Schwarzenbach-Begeisterung wünscht man sich gelegentlich einen solch frechen, gar nicht devoten Zwischenruf.

Überhaupt: Wäre es nicht an der Zeit, dass Historiker und Biographen, statt auf Annemarie Schwarzenbach zu starren, das Familiengeflecht Bismarck-Schwarzenbach-Wille-Weizsäcker in den Blick nähmen, um seine Bedeutung und seinen Einfluss im politischen und historischen Kontext Deutschlands und der Schweiz auszuloten? Ein florierender Devotionalienhandel würde aus einem solchen Projekt aber wohl nicht entstehen .

vorgestellt von Ute Kröger, Kilchberg

«Eine Frau zu sehen – Annemarie Schwarzenbach». Ausstellung im Strauhof vom 19. März bis 1. Juni 2008.

Alexis Schwarzenbach: «Auf der Schwelle des Fremden. Das Leben der Annemarie Schwarzenbach». München: Rolf Heyne, 2008.

Dominique-Laure Miermont: «Annemarie Schwarzenbach. Eine beflügelte Ungeduld». Aus dem Französischen von Susanne Wittek. Zürich: Ammann, 2008.

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