Schweizer Literatur in Kurzkritik, IV
14 Bücher Schweizer Autoren, gelesen von 14 Rezensenten, meist mit Begeisterung, seltener mit Durchhaltewillen, rezensiert mit Lob und auch mit Tadel. Dies alles in der vierten Folge der Schweizer Literatur in Kurzkritik. Fortsetzung folgt.
Gerald Funk schreibt über Urs Widmer: «Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das. Frankfurter Poetikvorlesungen». Zürich: Diogenes, 2007.
Francesco Micieli schreibt über Kurt Aebli: «Ich bin eine Nummer zu klein für mich». Basel: Urs Engeler Editor, 2007.
Sabine Kulenkampff schreibt über André Winter: «Die Hansens». Zürich: Bilger, 2007.
Joachim Feldmann schreibt über Rolf Dobelli: «Wer bin ich? 777 indiskrete Fragen» und «Turbulenzen. 777 bodenlose Gedanken». Zürich: Diogenes, 2007.
Marcus Jensen schreibt über Franz Hohler (Hrsg.): «112 einseitige Geschichten». München: Luchterhand, 2007.
Beat Mazenauer schreibt über Simona Ryser: «Maries Gespenster». Zürich: Limmat Verlag, 2007.
Michael Harde schreibt über Michael Theurillat: «Eistod». Berlin: Claassen, 2007.
Georg Deggerich schreibt über Zsuzsanna Gahse: «Oh, Roman». Wien: Edition Korrespondenzen, 2007.
Gérald Froidevaux schreibt über Annemarie Schwarzenbach: «Lorenz Saladin. Ein Leben für die Berge». Basel: Lenos, 2007.
Stefana Sabin schreibt über Alfredo Häberli: «Design Live». Basel: Birkhäuser, 2007.
Christoph Simon schreibt über Anita Siegfried: «Die Schatten ferner Jahre». Zürich: Dörlemann, 2007.
Pirmin Meier schreibt über Sergio Giovannelli-Blocher: «Va’ Pensiero. Geschichte eines Fremdarbeiters aus Ligurien». Zürich: Edition 8, 2007.
Markus Bundi schreibt über Dieter Zwicky: «Reizkers Entdeckung». Zürich: Bilger 2006.
Michael Braun schreibt über Felix Philipp Ingold: «Tagesform. Gedichte auf Zeit». Graz–Wien: Literaturverlag Droschl, 2007
Flaneur in der Buchstabenwelt
Germanisten sind Arschlöcher – soll er gesagt haben. Nun, womöglich ist diese Behauptung in ihrer apodiktischen Kürze ein bisschen zu allgemein formuliert. Vielleicht hätte ihr eine kleine Einschränkung wie «manche» oder «die meisten» gut getan. Und ein bisschen gemein ist sie auch. Aber sei’s drum. Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht. Heisst es nicht so?
Die solcherart apostrophierte Berufsgruppe dürfte indes den grössten Teil des Publikums ausgemacht haben, vor dem Urs Widmer – denn um ihn geht es – seine Frankfurter Poetikvorlesungen gehalten hat. Offensichtlich hat er sich in ihrer Mitte nicht unwohl gefühlt. Zumindest deutet nichts in seinen fünf Vorträgen darauf hin, die jetzt als Buch vorliegen.
Widmer macht darin von Anfang an etwas richtig. Er versucht gar nicht erst, den gelehrten Zeigestock auszupacken, auch wenn die Frankfurter Veranstaltung dies möglicherweise nahegelegt hätte. Er wählt die Rolle eines bedächtigen, humorvollen, zugleich liebenden Flaneurs in litteris. Er führt Dialoge auf Augenhöhe mit den Grossen und Kleinen, an denen auch der Leser oder Zuhörer beteiligt wird. Die Literatur ist für ihn kein Steinbruch abstrakter akademischer Wahrheiten. Das Sprechen darüber gleicht keiner Abraumhalde intellektueller Weisheiten. Hier bietet ein Kenner seine Liebesdienste an. Er bleibt dabei stets konkret und spricht von persönlichen Erfahrungen mit Autoren und Büchern, ohne seine Ausführungen allzusehr mit Anekdotischem zu belasten.
Mitunter kommt er dabei natürlich auch zu Einsichten, die nicht gerade überraschend oder spektakulär und neu sind. Dass etwa die Sprache der grossen Autoren sich immer auch durch ein Abweichen von der Konvention, der Sprachnorm auszeichnet, dass ihr im Prinzip erst einmal ein Defizit zugrunde liegt, ist keine neue Entdeckung. Aber Widmer macht diese abstrakte Wahrheit anschaulich anhand seiner bezaubernden und von wirklicher Sympathie getragenen Überlegungen zu Robert Walser, die im Zentrum der ersten Vorlesung stehen. Und immer da, wo er am Werk geliebter Autoren entlang überlegt, ist er grossartig. So auch bei Beckett und Tschechow. Da geht es um das Schreiben vor und nach Freud, dessen Grabungsarbeiten im Unterbewussten die Literatur verändert haben wie kaum etwas zuvor. Die Seele war einst das Terrain der Dichter. Jetzt steht sie unter der Aufsicht der Wissenschaft. Eine ungeheure Kränkung, die verarbeitet werden muss. Hier erzählt Widmer ein zentrales Kapitel der Literaturgeschichte ein bisschen anders als andere. Oder er entwirft, wie in seiner dritten Vorlesung, ein leidenschaftliches und plastisches Porträt Gottfried Kellers, dessen Sehnsucht, «namenlos mit der Stimme des Volks zu singen», nicht in Erfüllung ging.
Da allerdings, wo Widmer sich das grosse Ganze vornimmt und sehr allgemein wird, wie in seinem vierten Vortrag «Von der Fantasie, von Grössenwahn, vom Gedächtnis, vom Tod und vom Leben», da geht ihm doch ein wenig die Puste aus. Nachdem er über dies und das gesprochen hat, muss er überrascht feststellen, dass keine Zeit mehr für den Tod bleibt. Aber auch dies Eingeständnis ist sympathisch. Der Sensenmann macht eben doch ein bisschen sprachlos, wenn man nicht Marcel Proust heisst.
An den Schluss seiner Vorlesungsreihe stellt Widmer einen Text über die beiden Ödipus-Dramen von Sophokles. Hier wechselt er von der intellektuellen Plauderei in die nacherzählende Betrachtung der Figuren und Geschehnisse. Die Jahrtausendgeschichte von der Selbstblendung des thebanischen Königssohns ist eine der Urgeschichten des Abendlandes. Keine Deutung, die ich kenne, hat ihr den Fatalismus so sehr ausgetrieben und ihr die Präsenz als blutige Familiengeschichte von Kränkung und Stolz, Verdrängung und Abwehr, Auflehnung und Selbstüberhebung so sehr zurückgegeben wie die von Widmer, gerade weil die Phantasie hier die Feder führt.
Unaufgeregt, unangestrengt, geradezu wie beiläufig lässt uns Widmer an seinen Erkundungen in der Buchstabenwelt teilhaben, die immer auch Erkundungen am Leben und Schreiben sind. Ohne jede intellektuelle Rechthaberei, die so oft der Sprachgestus der Literaturwissenschafter ist, die im übrigen kaum dümmer, selten aber so sprachvermögend sind. Ich könnte ihm stundenlang zuhören.
Mitunter sind Bücher schlauer als ihre Autoren, mitunter verhält es sich umgekehrt. Ein Beispiel für das erstere wäre Julien Green, für die Umkehrung vielleicht Martin Walser. Bei Urs Widmer, der um diese Wahrheit weiss, scheinen mir der Autor und seine Texte auf derselben Ebene zu stehen. Das macht die Lektüre zu einem so grossen und entspannenden Vergnügen. Ein Abend mit ihm in der Zürcher Altstadt oder am Ufer des Zürichsees, mit einem kalten Bier und den Kopf voller Erinnerung an die Lektüre von Jahrzehnten, müsste wunderbar sein.
vorgestellt von Gerald Funk, Marburg
Urs Widmer: «Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das. Frankfurter Poetikvorlesungen». Zürich: Diogenes, 2007.
Die Tapete ist abgereist
Mit dem einladend gestalteten neuen Gedichtband von Kurt Aebli hätte ich gerne eine Reise nach Klagenfurt gemacht. Das anthrazitfarbene Buch hätte gut in meine Hand gepasst, und ich hätte es so gehalten, dass der Satz auf der Rückseite sichtbar gewesen wäre: «Die Tapete ist abgereist ich bin noch da». Den Titel des Buches «Ich bin eine Nummer zu klein für mich» hätte ich mir als gestohlene Einsicht auf meine Stirn tätowiert, und ich hätte mich daran erinnert, wie wir vor 16 Jahren am Wettlesen teilgenommen hatten, dem ersten Wettlesen nach R.R. und dem Jahr, in welchem sich Slowenien vom damaligen Jugoslawien loslöste; Bomber waren zu hören. Ich hätte die Kaffeehäuser aufgesucht und mich erinnert, wie das Wettlesen eine Nummer zu aufgeregt war: «Wörter flogen ohne genaues Ziel durch die Gegend.» Ich hätte mir mit dem Buch unter dem Arm einen Baum ausgesucht, um dort sitzend zu staunen wie Kurt Aebli Blicke auf die Dinge zaubert, damit diese uns immer wieder neu erstaunen: «Ein bewohntes Zimmer wollte noch etwas sagen doch dann stellte sich heraus dass alle Worte eine Farbe hatten die sich zu einer gedachten Linie verhielt wie zum echten Leben.» Aeblis Sätze gehen mittels literarischer Nanotechnologie unter die Haut, in den Körper und wirken langsam, fast retardierend. Wenn das Buch geschlossen wird, beginnt sich die Einsicht in das Gelesene auszubreiten wie ein wärmendes Getränk. Deshalb: langsam lesen, das Buch dann schliessen und warten! – «Einmal mehr haben uns die Worte von aussen gesehen…». Gerne wäre ich mit diesem Buch nach Klagenfurt, doch «die Tapete ist abgereist und ich bin noch da».
vorgestellt von Francesco Micieli, da zu Hause geblieben: Bern
Kurt Aebli: «Ich bin eine Nummer zu klein für mich». Basel:
Urs Engeler Editor, 2007.
Groschenroman in Überlänge
Lebenslange Lesegewohnheiten dringend ablegen! Das ist meine persönliche Lesefrucht aus André Winters grossangekündigtem Familien- und Jahrhundertroman «Die Hansens», der im August – durchaus ansprechend ausgestattet – im Bilgerverlag erschienen ist.
Zunächst beginnt alles ganz gut; das Innenleben eines fiebernden Kindes ist die Anfangssichtweise, die durchaus mitreisst. In den Blicken des Jungen durch das Fenster nach draussen zeigt sich seine Gebundenheit an Räume, Häuser, Denkweisen und Vorgaben, bis hin zum «Toten Fenster Fernsehen», das in seiner Schwärze vom Sehen weg auf das eigene, haltlose Fühlen verweisst. Beeindruckend ist, wie der Autor das von Film- und Fernsehen geprägte Denken des 20. Jahrhunderts übernimmt und reflektiert: «Einen Film haben» ist das Bedürfnis des Menschen, einen Film über sich, über die Welt und über den unbekannten Vater zu haben. Hier liegt die Spitze der Fähigkeiten Winters: das Schreiben von Drehbüchern wäre wohl seine eigentliche Aufgabe in der Welt, denn wo es ihm gelingt, so zu erzählen, wie ein Film laufen könnte, oder wo er einen Dialog dicht gestaltet, sind «Die Hansens» tatsächlich gut – also auf höchstens 20 von 300 Seiten!
Aber der Autor will mehr, will einen langen Roman, will eine Art Summe aus der Literatur des 20. Jahrhunderts. Wollte man all die beinahe abgeschriebenen Szenen (aus Thomas Manns «Felix Krull» etwa oder aus Döblins «Berlin Alexanderplatz» – dem Winter für die Möglichkeit des «freien Zitierens» sogar im Nachwort dankt) positiv bewerten, müsse man sie wohl als Intertextualität bezeichnen oder als Pastiche, statt eben als abgeschriebene Szenen. Doch dann müsste alles auf dem Hintergrund eines eigenen Tones arrangiert sein, müsste eine Funktion des Zitierens über das «Guckt mal, das kenn’ ich!» spürbar werden… Doch das ist bei allem guten Willen nicht hineinzulesen. Die Grenzen der Lächerlichkeit sind oft überschritten – etwa im eigentlich hochdramatisch angelegten Kapitel über den Eistod des Vaters Hansen, in dem eine Zährte im Wasser schwimmt, die wohl dem Leser eine Zähre der Trauer entlocken soll, die jedoch eher dazu führt, das man genervt Jammertränen vergiesst über soviel Differenz von Anspruch und Produkt, die nicht nur hier hervorscheint.
Die Widmung: «Für Söhne. Für meine Brüder, für meinen Vater» und Sätze wie «Das Weib schweigt. Seine Lider schliessen sich schwer» offenbaren «Die Hansens» früh als patriarchalischen Kitsch. Die Unwahrheit des Kitsches und das Erheben jeder Kleinigkeit zu dramatisch-schicksalhafter Bedeutung, die dann im Verlaufe des Buches oft vergessen wird, wie etwa die Idee des Ostpols, machen das Ganze zum Groschenroman in Überlänge. Im Aufreihen der Klischees und modischen Trends heutiger Literatur und Soaps (vom Geistheilen über die geisteskranke Frau bis zum Gesang als Lebensinhalt) sowie im Bemühen fast aller must-haves der literarischen Gestaltung des 20. Jahrhunderts (vom Naziwiderstand bis zur Hippiebewegung und dem Mauerfall) wird auf dem Monte Verità der Gipfel überschritten, als ausgerechnet Hermann Hesse vorbeiläuft. Danach ist es endgültig aus mit der «Stringenz» des Erzählens, die dem Debütroman den «Zentralschweizer Manuskriptpreis» eingebracht hat. Doch an dieser Stelle des Romans angelangt, ist man froh, endlich durch zu sein und ist eigentlich schon alles egal.
Nie wieder, das habe ich gelernt, lese ich einen so früh als schlecht erkennbaren Roman bis zu Ende, dazu ist das Leben zu kurz. Allemal besser wäre es, eine Relektüre der schamlos ausgeschlachteten Originale zu beginnen, damit uns das 20. Jahrhundert nicht als Kitschfilm abhanden kommt.
vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Erlangen
André Winter: «Die Hansens». Zürich: Bilger, 2007.
Mindestens 777 mal zuviel
Vor sechs Jahren, so ist der Damenzeitschrift «Amica» zu entnehmen, bemächtigte sich die Langeweile des erfolgreichen Managers Rolf Dobelli. Also begann er zu schreiben und hat seitdem nicht mehr aufgehört. Nach drei Romanen liegen nun zwei Bände mit jeweils 777, mehr oder weniger einleuchtenden, Gedankensplittern vor.
«Wer bin ich?» – so der Titel der ersten Lieferung – ist eine Frage, die sich wahrscheinlich auch Nichtphilosophen gelegentlich stellen, um darüber zu grübeln zu beginnen. Wem das nicht genügt, der findet in Dobellis Büchlein reichlich weiteres Material. «Was konkret erwarten Sie von der Liebe?», heisst es da, oder «Gibt es Hass auf den ersten Blick?» Gerne bedient sich der Ex-«CEO verschiedener Tochtergesellschaften des Swissair-Konzerns» (Klappentext) auch modernen Wirtschaftsjargons, um den Weg zur Selbsterkenntnis zu erleichtern. «Wie regelmässig führen Sie Mitarbeitergespräche mit Ihrem Lebenspartner?», ist so ein Denkanstoss, der seinen Reiz aus der Zusammenführung zweier gewöhnlich strikt getrennter Sphären bezieht, dessen Potential aber kaum über einen milden Provokationswert hinausgeht. Glaubt man Dobelli, so handelt es sich bei Fragen dieser Art, um eine «Kunstform», die «subversiver sein kann als der Aphorismus». Dabei beruft er sich auf Vorbilder wie Max Frisch oder auch Marcel Proust, dessen bekannter Fragebogen jahrelang fester Bestandteil der Magazinbeilage einer grossen deutschen Tageszeitung war. Hier bestand der Unterhaltungswert darin, von den persönlichen Wünschen und Obsessionen unterschiedlichster Personen des öffentlichen Lebens zu erfahren. Dobellis Fragen hingegen sind zumeist rhetorischer Art und manchmal ziemlich banal oder kindisch. «Glauben Sie, es gibt Menschenfresserfresser?» zum Beispiel zeigt, dass der Autor auch an reinem Blödsinn seine Freude hat, die der Rezensent aber leider nicht immer zu teilen vermag.
Vielen wird es anders ergangen sein, denn man liest, das Büchlein sei ein Bestseller. Grund genug also für den studierten Betriebswirt, noch einmal nachzulegen. «777 bodenlose Gedanken» verspricht der zweite Band, also keine Fragen mehr, sondern klassische Aphorismen. «Der Aphorismus», so heisst es in einem Wörterbuch, ziele durch seine «konzise Formulierung und Pointierung» auf «überraschende Erkenntnis». Bei Dobelli liest sich das so: «1938: Österreich wäre mit einem Internet-Anschluss besser gefahren.» Kalauer dieses Niveaus als Geistesblitz verkaufen zu wollen, erfordert schon eine bemerkenswerte Chuzpe. Was nicht heissen soll, dass sich unter all den geistreichelnden Sentenzen, die besser im Notizbuch des Autors verblieben wären, nicht auch einige fänden, über die sich nachdenken lässt. Wenn er beispielsweise behauptet, «rhetorisch glanzvoll nichts» zu sagen, sei «besser als andersherum», fragt man sich durchaus, was «andersherum» bedeuten könne. Und kommt rasch zu dem Ergebnis, dass Dobelli schlicht falsch liegt. Aber das ist schon fast egal angesichts des Umstands, dass er mit Sprüchen ein ganzes Buch gefüllt hat, denen es sowohl an sprachlicher Eleganz wie auch an inhaltlicher Substanz mangelt.
vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen
Rolf Dobelli: «Wer bin ich? 777 indiskrete Fragen». Zürich: Diogenes, 2007.
Rolf Dobelli: «Turbulenzen. 777 bodenlose Gedanken». Zürich: Diogenes, 2007.
113 Hits, Füller und Nieten
Das Vorwort zu diesem Band ist kurz, frech, ehrlich und überflüssig. Hier folgt der komplette Wortlaut: «Ich habe 112 Geschichten gesammelt, die nicht länger als eine Druckseite sind, und lege sie Ihnen hiermit unter dem Titel ‹Einseitige Geschichten› zur Lektüre vor. Zürich, Februar 2007, Franz Hohler».
Wenn dem Herausgeber selbst zu all den Miniaturen nichts Verbindendes einfällt, wozu gibt es dann dieses Vorwort? Möchte er nur sagen: «Das Büffet ist eröffnet»? Anfangs scheint es sich überwiegend um leicht absurde Texte zu handeln, doch dann gibt es viel zu viele Abweichungen von diesem möglichen Konzept. Auch die Qualität dessen, was Hohler gesiebt und gesucht hat, schwankt stark. Nun ist es nicht gerade schwierig, vielleicht eine Stunde lang am eigenen Bücherregal entlangzuschlendern und eine ganze Menge Kurztexte planlos zu versammeln, ausserdem einige Freunde um Originalbeiträge zu bitten, erst recht nicht, wenn auch noch Ausschnitte aus Romanen dabei sein dürfen oder Aphorismen oder belehrende, wie für Kinder geschriebene Episoden. Und schliesslich erlaubt sich der Herausgeber, gleich zwei eigene – leider schwache – Texte mit aufzunehmen. Obwohl also die Idealform einer solchen Anthologie nicht annähernd erreicht wurde, bleibt trotzdem ein guter Eindruck zurück. Wie geht das?
Eine Art Häppchenservice für den eiligen Leser mit dermassen kurzen Proben lässt das Starke besser zur Geltung kommen. Er hat den wirklich schwachen Zehntel rasch hinter sich, überblättert achselzuckend das Mittelmass, denn beides stiehlt wenigstens nicht viel Zeit. Wie in einem Pop-Album überstrahlen die wenigen Hits die vielen Füllstücke und die Nieten. Und über der Freude einiger Neu- oder Wiederentdeckungen geht vergessen, dass diese Anthologie nicht mehr Zusammenhalt bietet als die Willkür des Herausgebers.
Zu den Hits gehört etwa die Geschichte der Lyrikerin Sarah Kirsch, die auf wenigen Zeilen eine makellose Kürzestgeschichte hinzaubert, so, als hätte sie nie etwas anderes geschrieben. Eine verwandte Entdeckung ist die nicht ganz geschlossene Miniatur von Else Lasker-Schüler, ein konzentrierter wehmütiger Selbstnachruf. Oder Wolfdietrich Schnurre: der Mann hat gefälligst wiederentdeckt zu werden. Luigi Malerbas «Das Huhn und die Mafia» liest sich wie ein weltbekannter Klassiker. Büchners Märchen aus dem Woyzeck wirkt isoliert sehr stark, diese tränenselige Skizze von dem im Weltall verlorenen Kind muss als eine Urzündung des Existenzialismus gelten. Urs Widmer verhilft prügelbereiten Polizisten zu ihrem Ziel, und auch Martin R. Dean steuert einen starken Text über das Verhalten schweizerischer Behörden bei.
1981 erschienen, ebenfalls im Luchterhand-Verlag, Franz Hohlers «111 einseitige Geschichten». Ein Vierteljahrhundert später springt der Zähler also einfach um eins weiter, auf 112 einseitige Geschichten. Doch nein, tatsächlich wurden es 113 Geschichten. Auch das passierte vermutlich ohne Absicht.
vorgestellt von Marcus Jensen, Berlin
Franz Hohler (Hrsg.): «112 einseitige Geschichten». München: Luchterhand, 2007.
Einkaufen, Wolf anrufen
Marie streift unstet durchs Unterholz der Grossstadt und kann nicht ruhen. Doch im Unterschied zu ihrer Namensverwandten bei Georg Büchner, die es nicht länger aushält, kommt sie mit dem Leben durchaus zurecht, auch wenn sie dafür eine Unzahl täglich neu erstellter Listen und Aufzählungen benötigt. Kaffee kaufen steht zuoberst, und Wolf anrufen. Wolf, ihr Freund, ist ein einsamer Streuner, ein Kammerjäger auf der Suche nach digitalen «Käfern» und «Rumpelstilzchen»: Computerprogrammen, die im Hintergrund arbeiten. Auch Marie hat ein solches «Rumpelstilzchen» am Laufen. Auf der Strasse oder im Bus begegnet ihr immer wieder ihre Mutter, die zerzaust wirkt wie die gehässige Märchenfigur. Doch Mutter ist längst gestorben und begraben. Dennoch läuft das Programm gespenstisch weiter. Lange vor ihrem Tod hatte Mutter alles Reden aufgegeben und nur noch ihr Staubflockenmeer unter dem Bett gepflegt. Vater durfte es nicht wegputzen. Wie gegen unsichtbare Widerstände sucht Marie mit diesen Erinnerungen klar zu kommen. Rituelle Gewohnheiten verleihen ihrem Alltag Halt und schützen sie vor dem leichten Irrwerden.
Simona Ryser begleitet Marie bei ihren Versuchen zur Ordnung mit einer streng rhythmisierten, zwischen poetisch zerdehnter Langeweile und gehetzter Ungeduld subtil wechselnden Sprache, die im Kern die Rauheit und Ungebärdigkeit von Büchners «Woyzeck» in sich birgt. Diskret und gewieft lässt die Autorin Motive und Sätze daraus in ihren Text einfliessen, um an Schlüsselstellen, wie dem Tod der Mutter, dem Büchnerschen Drama verblüffend nahe zu kommen: «Ihr Körper war ein lustig verdrehtes Gestell, die grauen Haarzotten standen weitab vom Kopf, wie bei Rumpelstilzchen.» Simona Ryser erzeugt ein kompaktes Erzählstakkato, worin eingebettet die Heldin durch Konsumparadiese und die urbane Wildnis geistert, auf der Suche nach Wolf und sich selbst, um – vielleicht – doch zu einer Ordnung zu finden. Am Ende mischt sie «die Zahlen neu». Mit «Maries Gespenster» ist der Zürcher Autorin Simona Ryser ein bemerkenswertes Romandebüt gelungen.
vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern
Simona Ryser: «Maries Gespenster». Zürich: Limmat Verlag, 2007.
Parole Emil
Eschenbach dreht wieder seine Runden. Rechts und links und in der Limmat ist der bissige Züricher Kommissar aus der Feder Michael Theurillats unterwegs. In seinem zweiten Fall läuft er durch das winterliche Zürich, isst zwischendurch viel und fettig und nimmt – zwischen Weihnacht und Neujahr – zehn Kilo ab. Aber darum geht es nicht. Er verliebt sich hoch über der Stadt in die Sekretärin eines Hauptverdächtigen, und es könnte etwas Ernstes sein. Aber darum geht es auch nicht. Kathrin, seine Tochter, liegt nach zwei Kreislaufzusammenbrüchen auf der Intensivstation, Drogen sind der Grund, und als Vater hätte er es beim letzten Treffen ahnen müssen: die kurz geschorenen schwarzen Haare, das bleiche Gesicht. Aber darum geht es gar nicht.
In «Eistod» geht es um einen der kältesten Winter in Zürich seit Menschengedenken. Die Obdachlosen, Randständigen sterben rechts und links und in der Limmat. Kein Wunder, dass Eschenbach sich dafür interessiert. Prominenten Köpfen der Zürcher High Society missfällt dieses Interesse, doch unterstützt von einem Häuflein verschworener Getreuer entwirrt Eschenbach zahlreiche verschlungene Fäden einer unglaubwürdigen Geschichte: Menschenversuche zur Erforschung des Giftes Tetrodotoxin, das den Nobelpreis bringen kann, den Tod oder eine Menge Geld – je nach gesellschaftlicher Position. Hart an der Grenze zur Albernheit wirkt diese biochemische Verschwörung, wenn mittendrin – oder auch am Rande – die CIA, der Schweizer Geheimdienst SND und die zweite Kompanie (46/II) für elektronische Kriegführung der Schweizer Armee über die eigenen Füsse fallen. Aber darum geht es ja nicht.
Theurillats Stärke ist der warmherzig-ironische Blick auf seine Stadt und die Menschen. Man läuft gerne mit Eschenbach durch Zürich, denn beiden gibt der Autor einen Charme und Charakter, die manche holprige Windung der Krimihandlung vergessen lassen. Wenn Eschenbach dienstbeflissen durch die Strassen seiner Stadt stapft, erinnert er an einen erwachsenen, aber nicht alten Emil Tischbein, der Herrn Grundeis mit dem steifen Hut verfolgt und mehr und mehr Detektive um sich schart. Erich Kästner grüsst aus Berlin, denn Zürich hat eine Stimme bekommen, die sehr weit schallt.
vorgestellt von Michael Harde, Schalkenbach
Michael Theurillat: «Eistod». Berlin: Claassen, 2007.
Lange, bernsteinfarbene Beine…
Es ist beileibe nicht einfach, Zsuzsanna Gahses neuen Roman literarisch einzuordnen. Das Buch ist ebenso Kranken- wie Liebesgeschichte, ein Lehrstück über die Macht der Erinnerung und nicht zuletzt eine Reflexion über das Erzählen selbst. Doch der Reihe nach. Alles beginnt mit einer ganz alltäglichen Begebenheit. Die Ich-Erzählerin, eine Frau um die fünfzig, besucht einen befreundeten Goldschmied im Krankenhaus, um Ideen für künftige Schmuckprojekte zu notieren. Noch ehe sich die beiden richtig begrüsst haben, macht sich die Erzählerin auf die Suche nach einer Vase für die mitgebrachten Blumen. Im Flur wird sie vom plötzlich einfallenden Sonnenlicht geblendet und sieht sekundenlang die leuchtende Silhouette eines Mannes – ein paar Schuhe, zwei lange, bernsteinfarbene Beine, Rücken und Kopf. Für die Erzählerin ist dennoch sofort klar, dass es sich um Roman handelt, ihren «Lebensmenschen», mit dem eine wechselvolle Geschichte sie verbindet. Die Erscheinung löst bei der Erzählerin eine Flut von Erinnerungen aus, die ungeordnet und gegen ihren Willen über sie hereinbrechen. Aus den Erinnerungssplittern wird nach und nach deutlich, dass beide einen Teil ihrer Schul- und Studienzeit miteinander verbracht haben, sich anschliessend fünfzehn Jahre lang aus den Augen verloren und nach einem zufälligen Wiedersehen zwei Jahre lang eine Affäre hatten. Zu der Zeit war Roman bereits mit einer Slowenin verheiratet, hatte Haus und Tochter und führte ein gutbürgerliches, um nicht zu sagen spiessiges Leben. Geradezu hämisch erinnert sich die Erzählerin an die Spitzendecken auf den Sessellehnen in Romans Wohnung, «die aussahen, als hätte man ihnen Präservative übergestülpt».
Im Laufe des Krankenhaustags kommt es noch zu mehreren Begegnungen mit Roman, der sich der Erzählerin immer wieder zu entziehen scheint und von dem sie nie mehr zu sehen bekommt als flüchtige, sonnengelbe Schemen. Ihre vergeblichen Nachstellungen vergleicht sie selbstironisch mit der Jagd auf den Gott Pan, der in seiner Mittagsruhe nicht gestört werden will. Zuletzt bleibt fraglich, ob die Lichtgestalt im Flur tatsächlich Roman war, zumal die Erzählerin alles daransetzt, ihre Glaubwürdigkeit beim Leser zu erschüttern. So lässt sie neben dem einstigen Geliebten noch eine Reihe weiterer Bekannter auftauchen, unter anderem ihre Freundin Hanna, die eigentlich auf Reisen in Griechenland sein müsste und nun ein Symposion vorbereitet, dessen Teilnehmer in Trainingshosen und Strandlatschen anreisen. Ungewöhnlich ist auch, dass die Patienten alle gemeinsam einen alten Schlager summen, der ausgerechnet «Yellow Bird» heisst und sich nahtlos in die Assoziationskette von Honig, Sonne und Bernstein einfügt. Zugleich stiften diese Motivkomplexe den eigentlichen Erzählzusammenhang zwischen den sporadischen, oft widersprüchlichen Beobachtungen der Erzählerin.
Wie auch in ihren anderen Büchern, zeigt Zsuzsanna Gahse in «Oh, Roman» wenig Interesse an einer linearen, einem artigen Nacheinander folgenden Erzählweise. Ihre kurzen, häufig nur wenige Sätze umfassenden Absätze schaffen vielmehr einen Erzählraum, den der Leser nicht auf einer geraden Linie von A nach B durchschreiten kann, sondern nach Belieben in verschiedene Richtungen erkunden und für sich entdecken soll. «Ordnungen mit früher und nachher sind nicht nötig», heisst es an einer Stelle selbstbewusst. Wer sich als Leser darauf einlässt, der Prosa Zsuzsanna Gahses in ihren überraschenden Wendungen, Variationen und Sprüngen zu folgen, darf sich auf ganz neue ästhetische Erfahrungen freuen: «Sichtbar wird ein verschlungener Raum, gewunden und schön wie ein Hirn.» Erst recht, wenn es wie Bernstein leuchtet.
vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld
Zsuzsanna Gahse: «Oh, Roman». Wien: Edition Korrespondenzen, 2007.
Lorenz Saladin, neu aufgelegt
In jeder Biographie steckt ein mehr oder weniger offenes autobiographisches Interesse. Weshalb sich Annemarie Schwarzenbach (1908 – 1942) so intensiv mit dem Alpinisten Lorenz Saladin beschäftigte – heute würde er als ein Extrem-Bergsteiger gelten – ist offensichtlich: auch sie gehörte zu den Menschen, für die das wahre Leben nur anderswo sein kann. Sein früher, schicksalhafter Tod mag die Autorin zusätzlich fasziniert haben, weil sie darin vielleicht eine unbewusste Todessehnsucht erahnt haben mag, die sie ebenso mitfühlen konnte wie Lorenz Saladins unstillbaren Drang nach Abenteuer und existentieller Grenzerfahrung.
Lorenz Saladin war einer der grossen Bergsteiger in einer Zeit, in der der Alpinismus eine starke politische Bedeutung besass. Er galt als Kommunist, vielleicht weil er vier Expeditionen in die Berge des Kaukasus und des russischen Pamir unternahm und in Moskau zeitweilig berühmter war als in der Schweiz. Sein letztes Unternehmen wurde ihm 1936 zum Verhängnis. Erschöpft und verletzt starb er auf dem Rückweg von seiner Besteigung des Siebentausenders Khan Tengri an einer Blutvergiftung.
Dieses Leben beschreibt Annemarie Schwarzenbach mit Einfühlung und Sinn für heroische Dramatik. Ihr Buch ist über weite Strecken hinweg eine poetische Vergegenwärtigung von Saladins Lebensweg und dessen, was ihn bewegt und beschäftigt hat. 1938 erschienen, war «Lorenz Saladin» ihr zu Lebzeiten bekanntestes und bestverkauftes Buch. Heute erscheint es mit einem ausführlichen, wertvollen Nachwort von Robert Steiner und Emil Zopfi, die mit viel Sachverstand manches ergänzen und präzisieren, was die Autorin damals faktisch nicht wissen oder, als Nichtbergsteigerin, kaum verstehen konnte. Wofür sie hingegen zweifellos empfänglich war, ist die aussergewöhnliche Qualität und Ausdruckskraft von Lorenz Saladins Photographien. Das lässt sich in dieser reich illustrierten Neuausgabe leicht nachfühlen.
vorgestellt von Gérald Froidevaux, Basel
Annemarie Schwarzenbach: «Lorenz Saladin. Ein Leben für die Berge». Basel: Lenos, 2007.
Sofa, Schublade, Teller, neu designt
Das schweizerische Design hat ein besonderes Renommee, das nicht zuletzt von der Zürcher Hochschule für Gestaltung ausgeht, die inzwischen in der Zürcher Hochschule der Künste aufgegangen ist. Zu ihren Absolventen gehört auch der Designer Alfredo Häberli: 1964 in Buenos Aires geboren, 1977 mit der Familie in die Schweiz gekommen, hatte er zuerst eine Lehre als Hochbauzeichner gemacht, ehe er zum Industriedesigner ausgebildet wurde. Darüber hinaus haben die Arbeit in der Produktentwicklung in den USA und in Deutschland wie auch Erfahrungen als Ausstellungsmacher seinen praktischen Sinn ebenso wie sein ästhetisches Empfinden geprägt. Schon die Schubladenelemente «Zehn Hoch» von 1997 oder sein Sofa «Zurigo» von 1999 waren in ihrer Einfachheit von einer Eleganz, die für Häberlis Entwürfe charakteristisch blieb – charakteristisch wurden auch die Anlehnung an das Bauhaus oder Zitate aus dem Repertoire der klassischen Moderne. Dafür ist das Regalsystem «SEC» von 1997 symptomatisch, das in seiner geometrischen Klarheit und in der Symmetrie der farblichen Fronten wie ein Bild von Mondrian wirkt. Das Regal wurde von der italienischen Firma Alias produziert und dem italienischen Design zugerechnet – so wie seinerzeit das Tafelservice «Origo» von 2000 dem finnischen Design zugerechnet wurde: die buntgestreiften Teller und Schüsseln, die Häberli für die Firma Iittala entwarf, entsprachen in ihrer schlichten und praktischen Form dem traditionellen finnischen Design und leiteten zugleich dessen Erneuerung ein. «Origo» ist inzwischen ein Verkaufsschlager. Auch unter den Installationen, die in «Design Live» dokumentiert sind, tauchen die Origo-Schüsseln mehrmals auf: sie scheinen unter Blumen zu verschwinden, suggerieren ein Spiel zwischen dem Objekt und seiner Abbildung oder sind Teil eines farblich assortierten Arrangements. So zeigen die Inszenierungen in diesem Band Häberlis Objekte in ungewohntem und ungewöhnlichem Ambiente und führen die Wirkungsdynamik zwischen Form und Funktion vor. Die Qualität der Abbildungen, der Typographie und der Gestaltung machen den Band, der dem Werk Häberlis gewidmet ist, selbst zu einem Designobjekt.
vorgestellt von Stefana Sabin, Frankfurt a. M.
Alfredo Häberli: «Design Live». Basel: Birkhäuser, 2007.
Ada Lovelace, neu vorgestellt
In ihrem dritten Roman nähert sich Anita Siegfried dem Leben der britischen Mathematikerin Ada Lovelace, die mit ihren Liebesaffären, ihrer Spiel- und Drogensucht ihre Zeitgenossen provozierte. Ada wurde 1815 als einzige legitime Tochter Lord Byrons geboren, den sie nie kennenlernen sollte. Zu ihrer Geburt war der Dichter ausser Haus, «er vergnügt sich im Drury-Lane-Theater mit einer Tänzerin – oder vielleicht ist es die kleine Komparsin, die neulich ihre Anstecknadel in seiner Kutsche vergessen hat?» Adas Mutter, Lady Byron, schätzte ihren Mann als «durch und durch unheilbar verderbt» ein. Mit dem Baby fuhr sie zu ihren Eltern, wenige Wochen später war die Scheidung aktenkundig. Lady Byron fasste den Entschluss, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um aus Adas Wesen die Neigungen und Veranlagungen zu tilgen, die sie mit dem Vater gemein hatte. Mit zunehmendem Alter wehrte sich Ada gegen die rigorosen erzieherischen Massnahmen: «Meine Mutter ist nicht mein auf ewig von Gott autorisierter Schutzengel.»
Der Roman beginnt an Adas 21. Geburtstag, dem Tag ihrer Volljährigkeit, und endet mit ihrem Tod im Alter von nur 36 Jahren. In Rückblenden erhellt Anita Siegfried nicht nur Adas konfliktreiches Verhältnis zu ihrer moralisierenden Mutter und dem unbekannten, «verheerend attraktiven» Vater. Sie schildert Adas Leidenschaft für die Mathematik, die sie zur wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Erfinders Charles Babbage machte. In Babbages Auftrag schrieb Ada Lovelace die «Notes» zu seiner Analytischen Maschine – jene Anmerkungen, die Adas Namen ins heutige Computerzeitalter gerettet haben: auf der Landesausstellung Expo.02 wurde der Pavillon «Der intelligente Raum» in Neuenburg im Gedenken an die erste Programmiererin «Ada» genannt.
Zu den leuchtenden Stellen des Romans gehören Ausflüge zu den Angestellten des freiherrlichen Haushalts: zu Lizzy und Rose in die Küche, in der es dampft und brodelt von früh bis spät. Dass Ada ihre Mutter mit Henne anspricht, diese selbst sich Vögelchen nennt, und ihren Gatten Krähe oder Hahn ruft, kommentiert Adas Zofe Ellen mit einem unschlagbar trockenen «nun ja». Pure Lesefreude verbreitet ein Besuch der Weltausstellung 1851, wo Ada und Babbage in der Maschinenhalle die neuesten Erfindungen der modernen Technik bestaunen: «Spektakulärstes Objekt war ein mit Dampf betriebener Mähdrescher aus den USA».
Als «Poetin der Mathematik» bezeichnete Benjamin Woolley Ada Lovelace in seiner Biographie. «Eine Frau am Anfang der Moderne» nannte Dorothy Stein sie. «Die Braut der Wissenschaft» nannte sich Ada selbst. Als Frau im «Schatten ferner Jahre» beschreibt sie Anita Siegfried. Sie hat nicht nur einen lohnenden Roman über eine hochbegabte, vielgestaltige Frau, sondern auch ein mitreissendes Panorama Londons in vorviktorianischer Zeit geschaffen.
vorgestellt von Christoph Simon, Bern
Anita Siegfried: «Die Schatten ferner Jahre». Zürich: Dörlemann, 2007.
Betrachtungen eines Gastarbeiters
Mit «Va’ Pensiero. Geschichte eines Fremdarbeiters aus Ligurien» legt Sergio Giovannelli ein Dokument vor, das über seinen Wert als autobiographische Studie hinaus repräsentativ wird für eine nunmehr bereits historisierte Phase der neueren Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz. Es handelt sich um jene von der Hochkonjunktur geprägte Phase der Migration in der Mitte des letzten Jahrhunderts, bei welcher Italiener – teils als Saisonniers, teils als Daueraufenthalter – das Erscheinungsbild des Ausländers in der Schweiz mehr als alle anderen Zuzüger prägten.
«Und die Italiener fuhren zu Tausenden ab, gesellten sich im Ausland zu jenen Millionen, die schon vor ihnen gegangen waren; nach Übersee, Nord- und Südamerika, Australien und eben: Nordeuropa. Möglicherweise gab es geheime Abkommen der italienischen Regierung mit den ausländischen Arbeitgebervereinigungen, mit dem Ziel, den sozialen und politischen Druck im Innern abzuschwächen und aus stark politisierten Arbeitern, wie sie beispielsweise aus dem Raum Genua und der Emilia-Romagna kamen, eine willige anonyme Masse zu bilden, mit wenig Rechten und einer Unmenge Pflichten, manövrierbar je nach Hochkonjunktur oder Rezession.» Ob diese Darstellung für die damalige Einwanderungswelle vollumfänglich zutrifft, darf im Detail bezweifelt werden. An der Wahrhaftigkeit des Verfassers gibt es indes keinen Zweifel. Für ihn und seinesgleichen trifft der Hinweis auf die starke Politisierung der Gastarbeiter ohne Zweifel zu. Giovannelli war in der linken Colonia Libera Italiana organisiert, die sich ursprünglich scharf von der antikommunistischen Konkurrenz der Christlichen Arbeitnehmervereinigung ACLI abhob. Erst zur Zeit der Überfremdungsinitiativen kamen die Organisationen einander näher, so wie überhaupt der politisierende Arbeiter Giovannelli bei kirchlichen Organisationen, etwa der katholischen Paulus-Akademie in Zürich, nach eigenem Zeugnis stets eine aufgeschlossene Aufnahme fand.
Sergio Giovannelli war – als engagierter linker Gewerkschafter, Funktionär und Publizist im Umfeld der organisierten Interessenvertretung – im Vergleich zur grossen Mehrheit der italienischen Einwanderer wohl ein überdurchschnittlich politisierter Gastarbeiter. Trotzdem und vielleicht sogar deswegen ist seine Autobiographie als zeitgeschichtliches Zeugnis in höchstem Grade aussagekräftig. Wie es Sergio Giovannelli gelingt, etwa am Beispiel seines Stiefvaters und seiner Mutter, das Milieu der norditalienischen Arbeiterschaft um La Spezia einzufangen, erinnert in der Anschaulichkeit der atmosphärisch starken Schilderung dann und wann an Filme von Vittorio de Sica und Luchino Visconti. Das eigene, von seelischen wie auch physischen Verwundungen geprägte Schicksal erfährt – jenseits von Selbstmitleid – eine erschütternde Glaubwürdigkeit. Dann und wann ist auch eine gesunde Portion Selbstironie mit im Spiel, besonders wenn es um das fragile Verhältnis zum anderen Geschlecht geht.
Zeitgeschichtlich wertvoll und erzählerisch vergnüglich sind die mit «Il pane degli altri» überschriebenen Kapitel über die verschiedenen Arbeitsstellen zu lesen, einschliesslich des starken Motivs «Bahnhof», der Charakterisierung patriarchaler Arbeitgeber und matriarchaler Zimmervermieterinnen, der biederen dörflichen Behördenautorität, der Bemühungen um die deutsche Sprache und des Zerrissenseins zwischen alter und neuer Heimat. Die lebensvollen Stellenporträts als Faktotums im Bären in Gerzensee, als Portier- und Badegehilfen im Bad Lostorf bei Olten, als Buffet- und Küchengehilfen in einem Basler Café, als Monteurs in Bern und schliesslich als Mechanikers bei Wyss in Aarau sind realitätspralle Schilderungen nicht nur sozialer, sondern auch menschlicher Verhältnisse.
Dass sich der Verfasser «Sergio Giovannelli-Blocher» nennt, ist als Hommage an seine Frau Judith gemeint, die ehemalige Sozialarbeiterin und heutige Schriftstellerin. Der politische Leser liest es jedoch anders: «Ich bin der Schwager von Christoph Blocher, habe mich aber in keiner Weise von ihm vereinnahmen lassen.» Wie auch immer: die Memoiren von Sergio Giovannelli sind denkwürdig genug, um als literarisch ansprechendes und menschlich glaubwürdiges Zeitdokument auch ohne den Namen des letztverbliebenen Feindbildes der schweizerischen Linken bestehen zu können.
vorgestellt von Pirmin Meier, Beromünster
Sergio Giovannelli-Blocher: «Va’ Pensiero. Geschichte eines Fremdarbeiters aus Ligurien». Zürich: Edition 8, 2007.
Tricky und vor allem zwicky
Nach «Der Schwan, die Ratte in mir» (2002) legt Dieter Zwicky unter dem Titel «Reizkers Entdeckung» einen weiteren Band mit Prosatexten vor: klassische Erzählungen, Parabeln, Allegorien, Reflexionen und Beobachtungen im weitesten Sinn. Vieles dreht sich in seinen Texten um Sprache, sei dies experimentell oder philosophisch; wenn dieser Autor will, dann erstreckt sich ein einziger Satz – das «Heil in Locorotondo» schildernd – auf zehn Seiten. Das ist konsequent, ist doch andernorts im Buch zu lesen, dass Worte «reinste Gruppenwesen» seien: «Sie blühen nur auf, wenn sie einer Riesenzahl Kolleginnen und Kollegen andauernd zauberhafte Anträge machen dürfen.» Eigenleben und Eigendynamik der Sprache beschreibt Zwicky auf vielfältige Weise, vergisst dabei auch nicht, dass auch Worte viel Schlaf brauchen: «Sie wollen vergessen sein. Worte wollen schliesslich denken.». Die «Geschichten» des 1957 geborenen Zürchers sind schlagfertig und «tricky», immer hintersinnig und vor allem «zwicky».
vorgestellt von Markus Bundi, Baden
Dieter Zwicky: «Reizkers Entdeckung». Zürich: Bilger 2006.
Der Dazwischer
Es darf als programmatische Pointe gelten, dass der Umschlag des neuen Gedichtbandes von Felix Philipp Ingold eine berühmte mathematische Figur zeigt: das Möbiusband. Diese seltsam verschlungene Figur hat – obwohl dreidimensional strukturiert – keine Rückseite. Ein poetologischer Glücksfall für einen durch und durch sprachreflektierten Autor wie Ingold. Denn die Poesie, wie er sie anstrebt, verwirklicht sich als vokabulare Möbiusschleife – als ein Sprachkörper, der in seinen semantischen und syntaktischen Verschlingungen immer wieder in sich selbst übergeht und in seiner nicht fixierbaren Mannigfaltigkeit immer neue Bedeutungen aus sich hervorbringt. Die Poesie beginnt für Ingold erst da, wo der Sprechende das altvertraute System der «langue» aufbricht, sich aus der «Knechtschaft der Zeichen» (Roland Barthes) löst und kein Wort mehr in seinen vertrauten semantischen Verankerungen belässt.
So ist es nur konsequent, wenn der Autor in seinem Band «Tagesform», dem Schlussstück einer im Jahr 2000 mit dem Band «Auf den Tag genaue Gedichte» begonnenen Trilogie, ein furioses Klangspiel ans Ende setzt. Er führt einmal mehr virtuos vor, wie sich lautverwandte Wörter, die semantisch wenig miteinander gemein haben, «als selbständige Attraktoren gegenseitig verbinden».
Für das Sprachexperiment des Ingoldschen Typs ist ein seltsamer Künstler nötig: «der Dazwischer». Dieser seltsame Grenzgänger im «Dazwischen» übt sich beständig in innersprachlichen Verschiebungen: «Das Unerhörte wäre / – wo’s hoch kommt – dazwischen.» So kommt es zum beständigen Drehen und Wenden der Wörter und Wortverbindungen in der lyrischen Möbiusschleife. In kleinen verrückten Paradoxien, Anagrammen, Kalauern und doppelten Negationen bewegt sich das lyrische Subjekt, das sich ganz der eigendynamischen Sprachbewegung hingibt, durch den Text. Die Sprachschleife führt von «tragen» zu «ragen», von «gilt» zu «tilgt», von «Stille» zu «stellt» und «Stirn» – bis der Text in seinen eigenen Widersprüchen und assoziativen Verschlingungen zu vibrieren beginnt: «Wohin / das Wunder tragen wenn es plötzlich / ragt und gilt und also / tilgt was stimmt. Wie Witz. Ist Sturm / die Frage die die Stille / stellt und ruft er auf so manche Stirn / herab ein Glück. Wofür / wenn nicht für keinen Urzustand / ist diese Unruh gut.»
Diese «Unruh», wie Felix Philipp Ingold sie immer wieder poetisch inszeniert, ist nicht für ein schnelles Verstehen gut. Eher für eine beständige Entautomatisierung der Sprache. Ingold will uns aufwecken aus unseren bewusstlosen Routinen der alltäglichen Rede. Und manchmal gelingt ihm eine poetische Utopie, die er einer Bemerkung des russischen Dichters Ossip Mandelstam entnommen hat: das «beglückende Wort ohne Sinn».
vorgestellt von Michael Braun, Heidelberg
Felix Philipp Ingold: «Tagesform. Gedichte auf Zeit». Graz–Wien: Literaturverlag Droschl, 2007.