Schweizer Literatur in Kurzkritik II
In der letzten Ausgabe der «Schweizer Monatshefte» begeisterten sich – und, es soll nicht verschwiegen werden: ärgerten sich auch vereinzelt – 28 Rezensenten über deutschsprachige Neuerscheinungen von Schweizer Autoren. Auch Folge II der Serie «Schweizer Literatur in Kurzkritik» zeigt: auf dem Schweizer Büchermarkt gibt es manches zu entdecken. Langweilig ist nur weniges zu nennen. Neugiererweckend hingegen vieles.
Fortsetzung folgt.
Es schreiben:
Christoph Simon über Nicolas Bouvier: «Lob der Reiselust». Basel: Lenos, 2007.
Andreas Heckmann über Walter Rufer: «Der Himmel ist blau. Ich auch». München: Blumenbar, 2007.
Beat Mazenauer über Maurice Blanchot: «Jener, der mich nicht begleitete». Übers. von Jürg Laederach. Basel: Urs Engeler, 2006.
Stefana Sabin über Yvonne Domhardt, Esther Orlow & Eva Pruschy (Hrsg.): «Kol Ischa. Jüdische Frauen lesen die Tora». Zürich: Chronos, 2007.
Hans-Rüdiger Schwab über Klara Obermüller: «Weder Tag noch Stunde. Nachdenken über Sterben und Tod». Frauenfeld: Huber, 2007.
Thomas Sprecher über Dominik Bernet: «Marmorera». Muri: Cosmos, 2006.
Regula Wyss über Linda Stibler: «Das Geburtsverhör». Bern: eFeF-Verlag, 2007.
Michael Mühlenhort über Peter von Matt: «Das Wilde und die Ordnung». München: Hanser, 2007.
Gerald Funk über Maurice Chappaz: «Evangelium nach Judas». Frauenfeld: Waldgut, 2006.
Anne Tilkorn über Mariantonia Reinhard-Felice (Hrsg.): «Lautmalerei und Wortbilder». Zürich: Limmat Verlag, 2006.
Marcus Jensen über Agota Kristof: «Irgendwo». München: Piper 2007.
Joachim Feldmann über Alex Capus: «Patriarchen. Zehn Portraits». München: Albrecht Knaus, 2006.
Christine E. Kohli über Linard Bardill: «Aufs Leben los«. Zürich: Limmat Verlag, 2007.
Pirmin Meier über Franz Felix Züsli: «ember». München: Erwin Friedemann, 2006.
Lucas Marco Gisi über Armin Senser: «Kalte Kriege. Gedichte». München: Hanser, 2007.
Klaus Hübner über Peter Utz: «Anders gesagt – autrement dit – in other words». München: Hanser, 2007.
Friedbert Stohner über Charles Lewinsky: «Einmal Erde und zurück. Der Besuch des alten Kindes». Zürich: Atlantis im Orell Füssli, 2007.
Die Verlockung des Anderswo
«Es gibt Schriftsteller, die brauchen Geographien, und andere
brauchen Konzentration: Reisende und Seher also. Ich gehöre
zur Familie ersterer.» Wenige Jahre vor seinem Tod schildert
Nicolas Bouvier in «Lob der Reiselust» Begegnungen von
unterwegs und lässt uns teilhaben an seiner lebenslangen
«Ungeduld, die Welt zu erfahren».
Mit dem Segen seines Beamtenvaters, der nicht so viel
gereist ist, wie er es sich gewünscht hat, und der zu seinem
Sohn sagt: «Schau dich um, und schreib mir», zieht Bouvier
los, auf der Jagd nach dem Leben, von dem er kiloweise haben
will, obschon er ahnt, dass er «in dieser trügerischen Welt
nur ein paar Gramm bekommen» wird. Nach der Rückkehr
von seiner legendären Reise nach Afghanistan 1953/54 wird
ihm klar, dass er all diesen Orient nicht in seinem Kopf speichern
kann, «sonst würde er platzen wie ein überreifer Kürbis».
Also beginnt Bouvier zu erzählen. Von Fernweh und Unrast.
Von diesem Planeten, der weit überraschender, erstaunlicher,
grausamer, bunter, grosszügiger sei als der «naive kolorierte
Bilderbogen», den er sich von ihm gemacht habe.
In dreizehn wundervollen Texten würdigt Bouvier die
«Verlockung des Anderswo». Er zahlt Schulden zurück an orientalische
Geschichtenerzähler und an Gobineau, der ihm
«das grosse Kolonialwarengeschäft der Adjektive geöff net» habe.
Er bricht eine Lanze für Sprichwörter, die, im richtigen
Moment plaziert, signalisierten, dass man die Komik oder
den Ernst der Situation erfasst habe. Im Okzident komme
ein Unglück selten allein, im Orient sei es «ein Wespenstich
in einem weinenden Gesicht». Er muss ein schrecklich sympathischer
Tourist gewesen sein, dieser Nicolas Bouvier.
besprochen von Christoph Simon, Bern
Nicolas Bouvier: «Lob der Reiselust». Basel: Lenos, 2007.
«Tiefbeglückt / frühgestückt»
Der Münchner Kreisselmeier-Verlag muss vor bald fünfzig
Jahren ein seltsamer Gemischtwarenladen gewesen sein.
1961 erschien dort beispielsweise «Ihre Hoheit Lieschen
Müller. Hof- und Hinterhofgespräche um Film und Fernsehen
», 1963 dagegen der letzte, im Exil entstandene Roman
von Ernst Weiss. Und zwischen Filmanekdötchen und
literarischer Hochkultur hat 1963 auch Walter Rufer mit
seinen Schwabinger Tagebüchern «Der Himmel ist blau.
Ich auch» Platz gefunden.
Der schmale Band enthält gut hundertfünfzig so lakonische
wie amüsante, traurige oder kalauernde Einträge aus
fünf Jahren und war jahrzehntelang praktisch verschollen,
bis die Mitglieder der Münchner Band «Dos Hermanos»
feststellten, dass die Mädels auf ihren Konzerten nichts lieber
hörten als Rufers kurze Notizen aus den frühen Sechzigern,
die ein Brevier der Höhen und Tiefen der Boheme
sind und in Rufer einen geistigen Bruder von Werner Enke
zu sehen erlauben, des Mannes also, der 1968 in dem Film
«Zur Sache Schätzchen» eine noch heute beglückende Lebenskünstlervorstellung
gab.
Wer Walter Rufer war, wusste bei der Neuaufl age des
Buches im Blumenbar-Verlag wohl niemand so recht. Inzwischen
ist immerhin klar, dass er 1931 in Zürich geboren
wurde, sich im München der späten fünfziger Jahre erfolglos
als Schauspieler und Schriftsteller versuchte, in Schwabing
versumpfte, gern mit Otto Sander um die Häuser zog
und 1965 in die Schweiz zurückkehrte, wo er eine Familie
gründete, als Journalist arbeitete und schon 1975 – wohl
wiederum gescheitert – gestorben ist.
Seine kurzen Tagebuchnotizen aus fünf Jahren, in denen
es um das Trinken und das Schlafen, das Schreiben und das
Träumen geht, um eine Liaison mit Marie(chen), um freie
Liebe und fehlendes Geld, um Dichtung und Malerei, in
denen es viele Kalauer und Nonsensgedichte und nur selten
gescheite Refl exionen gibt – diese Notizen bestechen durch
ihre Haltung und ihren Ton weit mehr als durch ihren Inhalt.
Es sind «Scènes de la vie de la bohème» in minimalistischen
Skizzen, artifi zielle Destillate dessen, was sich bei Erich
Mühsam, Franziska zu Reventlow oder Oskar Maria Graf an
Herrlichkeiten über das Schwabinger Bohemeleben fi nden
lässt, mit dem es Anfang der sechziger Jahre freilich nicht
allzuweit her war – man denke weniger an die Schwabinger
Krawalle von 1962 als an ihren Auslöser: das Gitarrenspiel
auf off ener Strasse; man denke an Peter Fleischmanns Dokumentarfi
lm «Herbst der Gammler» von 1967, der die Hippies
im Englischen Garten porträtierte, vor allem aber Volkes
erschreckende Stimme zu Wort kommen liess.
Die vorgeblich im Laufe von fünf Jahren entstandenen
Notizen Rufers sind sicher in einem Rutsch – an zwei, drei
Wochenenden vielleicht und womöglich aufgrund einer
Wette – niedergeschrieben worden, denn die Textmenge
ist ungemein überschaubar, der Tonfall stets ähnlich, die
Motive variieren kaum, und gegen Ende werden die Ideen
knapp. «Wetten, dass», mag Rufer zu Otto Sander gesagt
haben, «wetten, dass ich mit knappsten literarischen Mitteln
die Essenz der Boheme einfange, sagen wir bis zum
nächsten Ersten?» Und genau das hat er getan.
Das Buch ist eine schöne Entdeckung – auch weil es
die Illustrationen der Originalausgabe übernommen hat,
den traumhaft entspannten, präpsychedelisch anmutenden
Schutzumschlag von Maleen Pacha also und ihre Zeichnung
der Leopoldstrasse am Siegestor. Pacha (Jahrgang 1923) hat,
zumal in den sechziger Jahren, als Set- und Kostümdesignerin
beim Film gearbeitet, unter anderem bei Volker Schlöndorff
s «Der junge Törless» und bei «Wälsungenblut», wofür
sie 1965 den Deutschen Filmpreis für Bau und Ausstattung
bekommen hat. Und in der Eremitenpresse von V.O.
Stomps sind 1963 ihre Illustrationen zu Jens Rehns «Das
neue Bestiarium der deutschen Literatur» erschienen.
Das eigentliche Verdienst der Neuaufl age von Walter
Rufers angenehm leichtgewichtigen Schwabinger Tagebüchern
liegt also womöglich weniger darin, einen Autor wiederentdeckt
zu haben, den man den Mädels gut vorlesen
kann, als darin, einen Anstoss zur Beschäftigung mit der
Münchner Kultur der frühen sechziger Jahre geliefert zu
haben, der Zeit vor Fassbinder, Wenders, Syberberg und
Klaus Lemke also, in der es vermutlich viele aufregende
Funde zu machen gibt.
besprochen von Andreas Heckmann, München
Walter Rufer: «Der Himmel ist blau. Ich auch». München: Blumenbar, 2007.
Ringen des schreibenden Ichs
Der Schreibende kämpft immer mit einem Gegenüber, das
imaginär ist und dennoch reale Kraft auszuüben vermag.
Oder bildet sich der Schreibende dies nur als innere Stimme
ein? Kämpft er mit sich, wenn er gegen jenen «Kollegen»
anredet, von dem Maurice Blanchot (1907–2003), Schriftsteller
und Th eoretiker des Paradoxen, erzählt? Sein «récit»
«Jener, der mich nicht begleitete» (1953) folgt keiner kohärent
verfolgbaren, ablesbaren Fabel. Vielmehr wird das
Ringen, zwischen dem schreibenden Ich und «jenem», zum
sprachlich vollzogenen Kreisen um eine imaginäre Mitte,
in der resignierend und verzweifelnd der Schreibende in
seinen Schreibversuchen «festgenagelt» stecken bleibt – und
am Ende doch zu einem Schluss kommt. Die Selbstaufgabe
markiert gewissermassen den Vollzug seiner Schrift.
Wer ist dieser Gefährte, der auf keinen Namen hören
will, der das Ich durch die Wohnung begleitet und es bis in
seine verworrensten Gedanken verfolgt? Blanchot vermeidet
jegliche Klarheit. Die Dialoge der beiden sind kommunizierende
Röhren, oder unendliche Widerspiegelungen, sie sind
schillernde Refl exe von Refl exionen über das Schreiben und
Schreibenkönnen. Die «unendliche Komplizenschaft» der
beiden Stimmen gleicht einem leichten Pas de deux und zugleich
einer Danse macabre, die im Ich ans «Entsetzlichste»
appeliert: « …man kann nicht wirklich verschwinden, wenn
man in zwei getrennten Welten sterben muss.»
So kryptisch der Text zu lesen ist, in Jürg Laederach
hat Maurice Blanchot einen Wahlverwandten gefunden,
der ihn gültig ins Deutsche hinüberzusetzen vermag. Laederach
hat für diese vielfach verspiegelte Erzählung eine
geschmeidige Sprache gefunden, die zwar nicht den Sinn
aus ihrer Vertracktheit erlöst, aber der Paradoxie doch eine
Leichtigkeit verleiht, als ob sie nichts weiter wäre als eine
flüchtige Geistesabwesenheit.
besprochen von Beat Mazenauer, Luzern
Maurice Blanchot: «Jener, der mich nicht begleitete». Übers. von Jürg
Laederach. Basel: Urs Engeler, 2006.
Die Stimme der Frau
Im traditionell-orthodoxen Judentum waren Torastudium
und Gottesdienst als Möglichkeit deutenden Handelns und
religiösen Erlebens dem Mann vorbehalten. Doch im Kielwasser
der Frauenemanzipation verlangten Frauen auch die
Teilhabe am Studium der religiösen Quellen. Im akademischen
Milieu, als Religionswissenschafterinnen oder -philosophinnen
ist die Präsenz von Frauen alltäglich geworden,
und in vielen jüdischen Gemeinden haben sie inzwischen
Stimm- und Wahlrecht. Im Gottesdienst wird der Frau
jedoch noch immer keine aktive Rolle zugestanden; in der
Synagoge sitzt sie getrennt vom Mann, der allein die Liturgie
durchführt, und sie betet, anders als der Mann, still. Denn
die Stimme der Frau, im Hohelied als lieblich beschrieben,
würde den Mann, so die tradierte Unterstellung, vom Beten
ablenken – im Talmud wird sie sogar als «Scham» bezeichnet.
Dass Frauen im Gottesdienst die Gebete laut mitsingen, ist
in vielen traditionellen Gemeinden noch immer skandalös.
Dieses vorgeschriebene Schweigen wird nun, zum ersten Mal
im deutschsprachigen Raum, in einem Band gebrochen, in
dem Tora-Interpretationen von jüdischen Frauen gesammelt
sind und der programmatisch den hebräischen Titel «Kol
Ischa» trägt: «Die Stimme der Frau».
Gemäss der liturgischen Ordnung wird jede Woche ein
Abschnitt aus der Tora, den fünf Büchern Mose, gelesen;
nach der üblichen Einteilung sind es 54 Wochenabschnitte,
die das jüdische Jahr bestimmen. Diese Wochenabschnitte
aus der Tora wurden von verschiedenen Autorinnen
– Philosophinnen und Rabbinerinnen, Literatinnen und
Schriftstellerinnen, die religiös, traditionell oder säkular
sind – interpretiert. Diese Interpretationen bewegen sich
zwischen theologischer Auslegung und philosophischem
Essay, literarischem Versuch und individualpsychologischer
Skizze und verbinden immanente Textanalyse mit kulturkritischer
Refl exion. Indem die Autorinnen immer wieder
auf die tradierte Deutungstradition – auf Talmud, rabbinische
Literatur, Kabbala – zurückgreifen, führen sie den jüdischen
hermeneutischen Kontext vor und werden zugleich
Teil davon. Bei allen Unterschieden des Deutungsansatzes,
des Stils und der inhaltlichen Gewichtung zeigen diese Interpretationen
die jüdische hermeneutische Tradition als
ein mühsames (Ver-)Handeln zwischen Mensch und Gott.
Damit ist dieser Band nicht nur ein möglicher Begleiter
durch das jüdische Jahr, sondern vor allem ein beeindrukkendes
Beispiel jüdischer Gelehrsamkeit.
besprochen von Stefana Sabin, Frankfurt
Yvonne Domhardt, Esther Orlow & Eva Pruschy (Hrsg.): «Kol Ischa.
Jüdische Frauen lesen die Tora». Zürich: Chronos, 2007.
An der letzten Grenze
Kann ehrlichen Herzens ein Buch gelobt werden, das etwas
behandelt, vor dem man sich fürchtet? Etwas, das uns mit
unserer tiefsten Ohnmacht konfrontiert? Etwas, das «unser
Vorstellungsvermögen … übersteigt», «vor dem alles menschliche
Denken an sein Ende kommt»? Das eine Bereitschaft verlangt,
um die wir uns, in der westlichen Zivilisation jedenfalls, heute
ebenso allgemein wie grundsätzlich drücken – diejenige
zur Konfrontation mit unserer Endlichkeit, mit der Tatsache
und dem Prozess unserer Auslöschung? So sehr wir uns statt
dessen mit brüchigen Phantasmen unablässigen Fortschritts
beschwichtigen: irgendwann einmal, ganz plötzlich oder
nach langen Qualen vielleicht, werden wir nicht mehr sein.
Zu diesem thematischen Umfeld hat Klara Obermüller
neun Vorträge und Aufsätze aus über zwei Jahrzehnten zusammengestellt
und mit einem langen Vorwort versehen.
Nicht ohne Grund datiert der älteste dieser Texte von 1979,
dem Todesjahr ihres Mannes, des Schriftstellers Walter
Matthias Diggelmann, der an Krebs starb. Das unmittelbare
Miterleben seines langsamen Abschieds aus dem Leben
kerbte sich bleibend in ihr Bewusstsein ein. Sterben und
Tod, als Herausforderungen nicht nur des Denkens, haben
sie seither nicht mehr losgelassen. Beeindruckend ist die
Unauslöschlichkeit erfahrener Nähe über das Grab hinaus
– um so mehr angesichts einer Gegenwart, in der die Halbwertszeit
menschlicher Beziehungen immer geringer wird.
Nicht systematisierend, sondern in Form persönlicher
Erinnerungen, der Reportage über ein Hospiz, der Auseinandersetzung
mit Büchern von Fritz Zorn und Elisabeth
Kübler-Ross, Verena Kast, Peter Noll und anderen, der Interpretation
eines Rilke-Gedichts schliesslich, macht Klara
Obermüller verschiedene Facetten ihres Titels sichtbar.
Was auf diese Weise entsteht, ist ein faszinierendes Ineinander
intimster Befi ndlichkeiten und öff entlicher Strukturen.
Schlaglichter fallen auf die Sinnfragen der Überlebenden
wie auf gewandelte gesellschaftliche Bedingungen, innerhalb
derer heute gestorben wird, angesichts sich zersetzender
Familienstrukturen und fehlender Rituale, unter den
Bedingungen der Professionalisierung. Der Massentod vor
dem Hintergrund politischer Katastrophen gerät ebenso in
den Blick wie kulturell-religiöse Versprachlichungs- und
Deutungsversuche. Bei alledem verliert sich die Darstellung
nie ins Abstrakte. Immer gibt sich eine Person als beteiligt
zu erkennen, die «Ich» sagt. Bemerkenswert die Haltung, in
der jene sich den mit dem Th ema verbundenen Schrecken
aussetzt. Sie scheuert sich nicht wund an Fragen ohne Antwort,
sondern begnügt sich mit dem Einverständnis in das
unabänderlich «Unheimliche» und nennt dies im ausserreligiösen
Sinne «Gnade». Gleichwohl ist Klara Obermüllers
Standort jenseits der Resignation. Sie wütet nicht, hadert
nicht und tröstet nicht. Vielmehr bleibt sie gefasst, hellwach,
präzise und diskret zugleich, teilweise ganz pragmatisch.
«Wenn es denn überhaupt so etwas wie eine Ars moriendi,
eine Kunst zu sterben gibt», heisst es unter Anspielung
auf eine alte Kulturtechnik, die wir erfolgreich hinter uns
gelassen haben, «dann müsste es dies sein: zu lernen, wie wir
leben müssen, im Wissen, dass dieses Leben jeden Tag und jede
Minute zu Ende sein kann». Das ist der nicht hintergehbare
Anspruch der Existenz. Und deshalb kann, ja muss dieses
Buch gelobt werden, mag es auch nicht behagen, dass es uns
so eindringlich mit der letzten Grenze konfrontiert.
besprochen von Hans-Rüdiger Schwab, Münster
Klara Obermüller: «Weder Tag noch Stunde. Nachdenken über Sterben
und Tod». Frauenfeld: Huber, 2007.
Verdrängtes aus dem Stausee
Vor Jahrzehnten habe ich einmal ein Lager beim Marmorera-
Stausee verbracht, und seither kann ich nicht über den
Julier fahren, ohne an diese Woche zu denken und an die
Faszination, die diese gestaute Wucht anhaltend ausübt. Am
17. Oktober 1948 verkauften die Einwohner Marmoreras
der Stadt Zürich ihr Dorf. Es wurde überfl utet, ging unter,
doch es verschwand nicht ganz. Immer noch, so heisst es,
sei bei tiefem Wasserstand die mahnende Spitze des alten
Kirchturms zu sehen. Der Stausee, der dazu dient, die Stadt
Zürich mit Strom zu versorgen, ist eine grossartige psychoanalytische
Metapher. Auf dem Grund dieses Kunstsees
geht das Leben und Treiben weiter. Das Verdrängte stirbt
ja nicht besonders nachhaltig und hält sich nicht zuverlässig
im Spielfeld des Toten. So hat dieses technische Menschenund
Meisterwerk die Rechnung ohne die seelische Natur
und ihre Nixen gemacht. Über das versinkende Dorf ergoss
sich hektoliterweise ein kollektiver Fluch, die Last der ewigen
Wiederkehr verjährter Schuld. Dass die Einwohner ihre Geschichte
verscherbelt haben, zahlen sie länger als ein Leben.
Dominik Bernet hat diesen Zaubersee zum Titel und
Schauplatz eines Romans gewählt. Mehrere Menschen,
man zählt wohl ein halbes Dutzend Leichen, treten in
ihm auf bizarr-komische Weise ab. Deshalb gilt das Buch
als Kriminalroman. Aber es wird nicht nur gestorben, es
kommt auch zu Wassergeburten. Dabei ist nichts lästiger
als geheimnisvolle Tote, die ungefragt aus dem Dunkel des
vermeintlich Vergangenen auftauchen. Hauptfi gur ist ein
Zürcher Psychiater mit Bündner Namen, eine off enbar gespaltene
Figur. In Marmorera fi ndet er eine Tote, die misslicherweise
zu leben beginnt und seine Patientin wird. Sie
spricht nicht und geistert als Unbekannte, als eine weibliche
Kaspar-Hauser-Figur, durch die Geschichte. Der Psychiater
hat besonderen Grund, langsam den Verstand zu verlieren.
Die Erzählung, die mit langen Dialogen arbeitet, unterhält
mit literarischen Anspielungen, der Verulkung medizinischer
und psychiatrischer Sitten und schwarzhumoriger
Situationskomik. Gesetzt, es gebe eine Grenze zwischen
Realistik und Phantastik, so wird sie da und dort überspielt.
Dass sich das Buch auch als Mystery-Th riller lesen lässt, hat
seine Film-Adaption gezeigt.
besprochen von Thomas Sprecher, Zürich
Dominik Bernet: «Marmorera». Muri: Cosmos, 2006.
Geburt als Verhör
Am Anfang steht ein starkes Bild: die Autorin Linda Stibler
sieht vor ihrem inneren Auge «das schweissgebadete Gesicht
einer jungen Frau in den tiefen Kissenbergen einer hölzernen
Bettstatt». Diese junge Frau, Anna Weibel von Nusshof im
Baselbiet, ist unverheiratet schwanger geworden und wird
während der Geburt ihres Kindes im April 1827 einem
«Geburtsverhör» unterzogen. Die Obrigkeit hat zwei Bannbrüder
der Kirchgemeinde als Verhörrichter eingesetzt. Sie
haben den Auftrag, die Vaterschaft zu ermitteln, damit das
uneheliche Kind nicht der Armenpfl ege und somit dem
Gemeinwesen zur Last fällt. Zugleich ist das sogenannte
Genisstverhör eine folterähnliche Bestrafung der jungen
Mutter. Die anwesende Hebamme ist angewiesen, vorerst
nicht tätig zu werden und abzuwarten, bis die Verhörrichter
zufriedengestellt sind. Das kann lange dauern – oft zu lange
für die Mutter oder das Kind. Vielerorts in der Schweiz und
in anderen europäischen Ländern galt diese Gerichtspraxis
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Linda Stibler erfuhr zufällig davon; und sie wurde – wie
sie sagt – im Innersten angerührt und begann zu recherchieren.
Dutzende von Fällen fand sie in Gerichtsakten aufgezeichnet,
unter anderen jenen Anna Weibels. Die Autorin
erzählt uns nun eine mögliche Geschichte dieses jungen
Mädchens, das sich in einen Burschen aus wohlhabender
Familie verliebt, ihm Vertrauen schenkt und schwanger
wird. Eine tragische Liebesgeschichte – und mehr als das:
die Gespräche am Familien- oder Wirtshaustisch vermitteln
vielfältige Einblicke in das dörfl iche und familiäre Leben
der damaligen Zeit. Wir erfahren etwa, welch tiefgreifende
Folgen die Industrialisierung und die Entwicklungen in der
Landwirtschaft für die Menschen in der Region hatten.
Deutlich (auch typographisch) abgetrennt von dieser Erzählung
gibt es Kapitel mit Informationen zur Politik, zur
Wirtschafts- und Alltagsgeschichte der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. In diesen Passagen teilt uns die Autorin, eine
engagierte Journalistin und Redaktorin, ihre Vermutungen
mit, bezieht Stellung zum geschilderten Geschehen, setzt
sich für Frauen- und Menschenrechte ein. Es sei in diesen
Verhören um Moral – besser gesagt um Doppelmoral – gegangen.
«In den Abgründen des Unrechts fi ndest du immer die
grösste Sorgfalt für den Schein des Rechts», meinte der Pädagoge
und Sozialreformer Heinrich Pestalozzi, ein Zeitgenosse
Annas, zu diesem Th ema.
besprochen von Regula Wyss, Basel
Linda Stibler: «Das Geburtsverhör». Bern: eFeF-Verlag, 2007.
Genauerer Leser, reichere Lektüre
Peter von Matt ist ein genauer und leidenschaftlicher Leser
(«Ich bin ein Literaturwissenschafter, der vom einzelnen Satz
oft mehr fasziniert ist als vom ganzen Werk»), und er will
seine Leser zu ebensolchen machen (oder er erwartet, dass
sie solche sind). «Das Wilde und die Ordnung» – der Titel
der Aufsatzsammlung ist verlockend, klingt er doch nach
Entdeckungen (und ein bisschen nach Levi-Strauss). Und
der Leser wird nicht enttäuscht, wenngleich «das Wilde»
vielleicht doch eine Übertreibung ist. Denn es geht dem
genauen und neugierigen Philologen von Matt nicht um
die völlige Aufl ösung von Ordnung oder des Bekannten,
sondern um die Wahrnehmung dessen, was es dazu und
daneben auch noch zu entdecken gibt. Die genauere Beschreibung
seiner Vorgehensweise hat von Matt seinem
Aufsatz «Freud und das Lesen» (2001) als Untertitel beigegeben:
«Die Entdeckung der Gegenwahrheiten im Text».
Die Arbeiten von Matts sind von der tiefen Überzeugung
durchdrungen, dass auf den genauen Betrachter der Literatur
(und ihrer Sprache) neben dem allzu Bekannten immer
Beobachtungen und Entdeckungen warten, die plötzlich
auch das Gegenteil von dem überlegenswert machen, was
man schon sicher zu wissen glaubte. Alles allzu Monumentale,
Geschlossene, «die Ordnung» eben, ist Peter von Matt
verdächtig. Er versucht den unverstellten Blick auf das zu
richten, was wirklich vorhanden ist, und zwar in seiner ganzen
Fülle. Und das ist immer mehr, als die Wissenschaft
bisher als Bedeutungshorizont anzubieten hatte.
Es geht in diesem Buch also um das Zweideutige, um die
vielfältigen Möglichkeiten, die jedes Leseerlebnis – wenn
es denn eines ist – anbietet. Es kann deshalb nicht überraschen,
dass es in von Matts Buch hauptsächlich um Autoren
und Th emen geht, die man im weitesten Sinne «romantisch»
nennen könnte. Zentrale Begriff e sind dabei «Parodie»,
«Ironie», «Witz», «Vorausweisung», der «Riss im Text» und
«in der Welt» und die «Grenze» («Tod», «Niemandszeit»).
Dabei arbeitet von Matt immer philologisch; er will erst
genau lesen und dann zu verstehen versuchen. Für Nichtleser
sind die Aufsätze kaum geeignet, denn den Hinweis
auf das Doppelbödige kann nur geniessen, wer den Boden
kennt (oder kennenlernen will), der hier brüchig und ein
wenig durchlässiger wird. Um bei von Matt zu lernen, ist
es aber nicht nötig, jeden Text genau zu kennen, der hier
besprochen wird. Denn jedem, der schon genau zu lesen
versucht hat, liefert von Matt anschauliche kleine Lehrstükke,
was mit einem Text passieren kann, wenn versucht wird,
seinen Wortlaut wirklich wahrzunehmen.
Gibt es denn gar nichts zu kritisieren? Doch. Einige der
literaturhistorischen Texte sind eher journalistischer Natur
oder aber Gelegenheitsarbeiten für Jubiläumsbände und
ähnliches. Sie schlagen interessante Lesarten vor, aber der
von den stärker ausgearbeiteten Artikeln verwöhnte Leser
wartet vergebens darauf, vom Autor mehr über deren Konsequenzen
zu erfahren. Immerhin leisten aber auch diese
Aufsätze das, was dem Autor wohl am meisten Freude machen
würde: dass sein Leser erwägt, einmal wieder (oder
erstmals) zu Hauff , Mörike oder Nestroy zu greifen oder er
sich erkundigt, wo denn eine Aufnahme von Schumanns
«Genoveva« zu bekommen sei. Das einzige (kleinere) Ärgernis
des Buches hat der Verlag zu verantworten: alle Texte
dieses Bandes können gewinnbringend gelesen werden,
ohne die Anmerkungen zur Kenntnis zu nehmen. Da bei
einigen von ihnen aber nun einmal solche vorhanden sind,
muss gefragt werden, weshalb der Verlag zu der Unsitte
der Endnoten gegriff en hat. Wer nur den Haupttext lesen
will, schaff t dies auch, wenn auf den entsprechenden Seiten
unter dem Strich weiterer Text steht. Deswegen sollte der
interessierte Leser nicht zu der Fingerakrobatik gezwungen
werden, die die angefügten (lesenswerten) Anmerkungen
am Ende des Textes zwangsläufi g mit sich bringen. Doch
dies ändert nichts an der erfreulichen Botschaft dieses Buches:
genaue Leser erzeugen reichere Texte.
besprochen von Michael Mühlenhort, Freiburg
Peter von Matt: «Das Wilde und die Ordnung». München: Hanser, 2007.
Biblische Gesichte
Menschen, die Visionen haben, gehören in eine Anstalt für
betreutes Wohnen oder in ein Kloster. Möglicherweise haben
manche Schweizer Bergtäler einen ähnlichen Charakter
und fördern das Entstehen dessen, was man einst Gesichte
nannte. Schon Reisende früherer Jahrhunderte auf ihrem
Weg nach Italien – wie etwa der Maler und Baumeister
Schinkel – wunderten sich über die verhältnismässig hohe
Zahl an verhaltensauff älligen Persönlichkeiten, wie es heute
wohl politisch korrekt heissen würde, in diesen Regionen
der Alpen. Möglicherweise lag das am Jodmangel, wie man
später meinte herausgefunden zu haben, möglicherweise
aber auch nicht. Wer weiss das schon.
Maurice Chappaz, 1916 in Lausanne geboren, lebt im
Wallis, und er hat Visionen. Statt in den Bergen zu wandern
und der Natur bei ihrem erhabenen Sein über die Schulter zu
schauen, verfasst er mitunter Gedichte, Essays und übersetzt
aus dem Lateinischen. Zuletzt schrieb er ein Büchlein, das
sich Erzählung nennt und das «Evangelium nach Judas» zum
Inhalt haben soll. Wir erinnern uns: Judas war der Jünger,
der Jesus für die berühmten 30 Silberlinge verriet und sich
kurz darauf erhängte. Er ist tatsächlich eine der interessantesten
Figuren des Neuen Testaments. Aus welchem Grund
verkaufte er sein Wissen? Warum erhängte er sich kurz darauf?
Was hatte es mit dem berühmten Judaskuss auf sich?
Der düstere Jünger galt lange Zeit und gilt wohl auch
heute noch als Prototyp des Verräters, der seinen Meister
aus Habsucht den Schergen ausliefert. Es gibt indes auch
andere Deutungen, die ihn einer der patriotischen jüdischen
Befreiungssekten zuordnen, die ein politisches Ziel
hatten und Jesus als Führer im Aufstand gegen die Römer
vereinnahmen wollten. Wieder andere erkannten das Dilemma,
dass dieser Verräter der notwendige Partner Christi
im heilsgeschichtlichen Plan war. Ohne Judas kein Kreuzestod,
ohne diesen keine Erlösung.
Alles recht brisante Fragen und Überlegungen, für die
sich Chappaz aber nicht wirklich interessiert. Für ihn ist
Judas der unbewusste Gegenspieler Christi, ein Mystiker
des Diesseits gewissermassen, der Jesus zum Handeln im
Hier und Jetzt zwingen will, damit aber sein göttliches Sein
verrät. Dieser Verrat macht ihn letztlich auch zum Vorläufer
der Kirche, die in einem immer weiter um sich greifenden
Prozess der Verweltlichung kaum etwas anderes tut. So etwa,
jedenfalls.
Schon der erste Satz macht deutlich, wie Chappaz dabei
vorgeht: «Judas und Jesus steigen in mir auf.» Was will man
darauf erwidern? Hier werden ganz off ensichtlich Grenzen
der Zeit und des Raumes aufgehoben. Das Ich des Erzählers
entgrenzt sich in die biblischen Geschichten, mischt sich
unter die Apostel. So sollen wir die Präsenz der Geschichten
spüren und gleichsam miterleben, wie der Autor sie sieht.
Vom bethlehemitischen Kindermord über die Speisung der
Viertausend, die Berufung der Jünger und den Einzug in
Jerusalem bis zum Passahfest, der Auferweckung des Lazarus
und letzten Abendmahl fl irren Teile der Evangelien in
dünnen, durchsichtigen und verwehenden Bildern am Leser
vorbei, vermutlich weil der Autor mehr an sich selbst als
an diesen Geschichten interessiert ist. Sein Interesse ist im
wesentlichen auf das eigene epiphanische Erleben, auf die
innere Wahrheit des Geschauten gerichtet. Etwas handfeste
Wirklichkeit schiene hier eher störend zu sein.
So räsoniert er über dieses und jenes und gelangt zu seltsamen
Wahrheiten und Beobachtungen: «Unter dem Himmel
gehen die Berge, wie Wasser, von einem Licht ins andere.»
– «Denn die Welt ist ein geheimnisvoller Liebesakt, der sich
deckt mit einer Ewigkeit des Unsichtbaren.» – «Das Universum
ist in unseren Eingeweiden. Es bewegt sich.» Und so fort.
Nun hat die profane Epiphanie selbst in der Literatur der
Moderne ihren Platz – man denke an Hofmannsthals «Augenblicke
in Griechenland», an Joyces «Ulysses» und Prousts
«Recherche» –, und es gibt literarische Traditionen, in denen
das freie und ungebundene Spiel der Einbildungskraft viel
Raum hat, etwa den Surrealismus, den Symbolismus. Beiden
fühlt sich der Autor Chappaz möglicherweise verpfl ichtet,
doch gehört er wohl eher in die Tradition der Mystiker, deren
literarischen Äusserungen wir säkularisierten Ungläubigen
nur noch schwer oder nicht mehr zu folgen vermögen.
besprochen von Gerald Funk, Marburg
Maurice Chappaz: «Evangelium nach Judas». Frauenfeld: Waldgut, 2006.
Textfrüchte der Malerei
«Die Musen sprechen nicht miteinander, aber manchmal beginnen
sie zu tanzen.» Das Degas-Zitat lässt anklingen, worauf
das Buch aus ist: das Wort soll von der Malerei ergriffen
werden, und zwar im doppelten Sinn. Ein Schriftsteller
lässt sich vom Bild, das er betrachtet, so ergreifen, dass er
am Ende selbst, mit seinen Worten, neue Bilder schaff t;
und indirekt hat damit auch die Malerei das Wort ergriff en.
Zehn Schriftsteller wählten sich je ein Werk aus der Sammlung
Oskar Reinhart «Am Römerholz» in Winterthur und
verfassten einen Prosatext, den sie vor dem Werk und vor
Publikum lasen. Für den Leser des Buches sind nun nicht
nur die Texte versammelt, sondern per Falttechnik ist auch
das farbige Bild so herauszuklappen, dass es rechts neben
den zwei Buchseiten während des Lesens gegenwärtig ist.
Öfter kommt es vor, dass am Anfang das Auswählen selbst
Th ema ist, die Schwierigkeit, sich aus der grossen Sammlung
französischer Kunst des 19. Jahrhunderts zwischen Courbet,
Delacroix, Manet oder Van Goghs «Krankensaal des Hospitals
von Arles» – dieser Titel fi el mehrmals – für ein Bild
zu entscheiden. Doch bemerkenswerter als die Selbstbeobachtung
des Schreibenden sind die Stellen, wo es zur Sache
geht. Etwa bei Peter Stamm, der aus der Perspektive Corots
von einem kleinen Bauernjungen erzählt, wie dieser ihn beim
Malen der Landschaft fragt: «Warum tun sie das Monsieur?
– Die schrecklichste aller Fragen». Lohnend auch der Nachweis
der illusionslosen Aktualität Goyas: Fabio Pusterla liest
das Stilleben mit drei (blutigen) Lachsscheiben als ausgestelltes
nacktes Fleisch, das von dem zeugt, was von der letzten
Wahrheit eines Daseins bleibt, das von der Gewalttätigkeit
der Geschichte beherrscht wird. Friederike Kretzen nähert
sich, etwas verrätselt, über einen Filmemacher dem Maler:
«Van Gogh geht zur Arbeit und triff t Godard: Das Bild wird
kommen in Zeiten der Auferstehung». Nicht allen Autoren gelingen
eine eigenständige Lautmalerei und echte Wortbilder;
trotzdem, die Annäherung an die Werke geht unbeschwert
vor sich – unbeschwert in dem Sinn, dass die Freiheit, ohne
kunsthistorische Diskursregeln sprechen zu können, appetitanregende
Früchte trägt. Textfrüchte, die die Farben der Malerei
nicht ersetzen, sondern deren Leuchten intensivieren.
besprochen von Anne Tilkorn, Wolfenbüttel
Mariantonia Reinhard-Felice (Hrsg.): «Lautmalerei und Wortbilder».
Zürich: Limmat Verlag, 2006.
Formfehler
Selbst wenn man bei früheren Büchern von Agota Kristof
gelegentlich vergass, worum es ging, so behielt man doch die
Art im Kopf – die Art, nicht unbedingt den Stil, denn es war
ein Lese-Empfi nden, als sei jeglicher Stil eingedampft auf
schmucklose Drehbuchanweisungen. Müsste dieser berühmte
Lakonismus nicht ideal sein für die Kurzgeschichtenform, wo
Ökonomie und Konzentration wesentlich sind? Weit gefehlt.
Der schmale Band «Irgendwo» versammelt zwei Dutzend
Prosastücke, Erzählungen und Splitter in einer verwirrenden
und auch wirren Vielfalt. Es gibt wenige runde Stories, dafür
viele blasse Skizzen, kleine Fantasy-Szenarien, die gern als
Märchen getarnt werden, und einige möglicherweise aufgegebene
Anfänge, die wohlwollend als «off ene Formen» verstanden
werden könnten. Dieses Sammelsurium bietet dabei
inhaltlich nichts Neues. Agota Kristof beschreibt beschädigte
Menschen mit traurigen oder diff usen Schicksalen, die sich
im Leben nicht mehr zurechtfi nden; thematisch bleibt sie bei
ihrem Umkreis von Einsamkeit, Verrücktsein, Alter, Krankheit,
Apathie. Allerdings schlägt sie hier manchmal einen
beklagenden Ton an, und der ist – leider – neu.
Wenn die sprachliche Form schmucklos ist, kommt es
um so mehr auf andere Aspekte an, um einen ästhetischen
Mehrwert zu erzielen. Agota Kristofs Einzigartigkeit bestand
bisher darin, in dieser sich klein gebenden, ja schalltoten
Weise von unerhörten Dingen zu erzählen oder sehr
geheimnisvoll zu sein, und in ihrem berühmtesten Buch,
«Das Große Heft», schaff te sie beides. In «Irgendwo» jedoch
ist fast nichts davon zu fi nden.
Die Einstiegsgeschichte erreicht höchstens das Niveau
eines harmlosen Kurzkrimis. Eine Frau erzählt einem Arzt,
wie sie ihren Ehemann tot aufgefunden habe; anscheinend
sei er in seine Axt gefallen. Sofort ist klar, dass sie ihn er-
mordet hat – und man wartet auf eine nächste Ebene, damit
die Geschichte sich von einer Schreibkursus-Fingerübung
unterscheide. Aber da passiert nichts weiter. Der Arzt ruft
den Irrenarzt.
«Irgendwo» kommt um Jahrzehnte zu spät. Die Stories
können nicht erschrecken, sie sind vorhersehbar, handwerklich
bestenfalls ansprechend gemacht, und die vielen
Skizzen oder Anfänge verstören in ihrer Formlosigkeit anno
2007 niemanden. Kunstcharakter besitzt kaum einer dieser
Texte. Da nützt es wenig, sie mit dem schicken Gattungswort
«Nouvelles» zu versehen, als repräsentierten sie wesentlich
Grösseres.
Ausgerechnet die oft gepriesene ökonomische Erzählweise
erzeugt hier in der Kurzprosa ein Formproblem. Die
wenigen gelungenen Ausnahmen, etwa die surreale Skizze
«Die Lehrer» oder die beiden konventionellen Stories «Der
Briefkasten» und «Die falsche Nummer» können nicht die
Stärken der Autorin ausfahren und sind zu durchschnittlich.
Um jemandem Agota Kristofs Werk zu eröff nen, ist dieser
Band eher schädlich. Ihre Stärke bleibt off ensichtlich der
Roman, die grosse Form, dort hat sie das Überraschungsmoment
auf ihrer Seite.
besprochen von Marcus Jensen, Berlin
Agota Kristof: «Irgendwo». München: Piper 2007.
Erfolg durch Schokolade, Waff en, Hustensaft…
Jeder Erfolgsgeschichte wohnt ein Moment des Scheiterns
inne. Diesen Eindruck gewinnt man zumindest bei der
Lektüre von Alex Capus’ ebenso lehrreichem wie unterhaltsamen
Buch «Patriarchen». Es versammelt zehn Portraits
legendärer Firmengründer, vor allem des 19. und frühen
20. Jahrhunderts, vom Schokoladefabrikanten Rudolf Lindt
über den Brühwürfel-Erfi nder Julius Maggi bis zum Waffenproduzenten
Emil Bührle. Denn wenn diese durchaus
unterschiedlichen Herren etwas gemeinsam hatten, dann
war es die Fähigkeit, mit Misserfolgen umzugehen. Schliesslich
war die Schokolade der Firma «Rodolphe Lindt fi ls»,
wie der 24jährige Süsswarenaspirant sein Unternehmen
hochtrabend getauft hatte, zunächst keineswegs jenem Produkt
vergleichbar, das seinen Namen weltberühmt werden
lassen sollte. Auch Julius Maggis Fertigsuppen auf Gemüsebasis
war – trotz der Werbelyrik des jungen Frank Wedekind
– kein grosser Verkaufserfolg beschieden. Erst als
es ihm gelang, auf chemischem Wege ein Würzmittel mit
Fleischgeschmack zu entwickeln, griff en die Konsumenten
massenhaft zu. Die «Maggi-Würze» war geboren. Eine gewisse
Hartnäckigkeit ist also notwendig, wenn man Erfolg
haben will.
Gelegentlich erweist sich jedoch auch ein grosses elterliches
Vermögen als hilfreich. Fritz Hoff manns Karriere
als Hersteller von Arzneimitteln wäre bereits nach kurzer
Zeit an ein unrühmliches Ende gelangt, hätte ihm nicht
seine Familie mehrmals fi nanziell kräftig unter die Arme
gegriff en. Doch ohne eine zündende Geschäftsidee nützt
auch das grösste Kapital nichts. Dass Hoff mann-La Roche
zum weltweit operierenden Pharmaunternehmen aufsteigen
konnte, verdankt sich vor allem einem zwar unwirksamen,
aber wohlschmeckenden Hustenpräparat. Off enbar war die
Begeisterung über einen süssen Saft, der zudem noch heilende
Kräfte besitzen sollte, so gross, dass «Sirolin-Sirup» zum
Verkaufsschlager wurde, ein Eff ekt, den Hoff mann durch
europaweite Werbung massiv verstärkte.
Doch nicht immer sind die Produkte, auf denen unternehmerischer
Erfolg gründet, wirkungs- und dabei harmlos.
Was Emil Bührle in der vormaligen Werkzeugmaschinenfabrik
Oerlikon produzierte, waren Geräte, deren einziger
Zweck darin bestand, möglichst wirksam Menschen vom
Leben zum Tode zu bringen. Keine sechs Jahre waren seit
dem Ende des 1. Weltkriegs vergangen, da begann Bührle
mit der Produktion von Kanonen und Munition. Und die
lieferte er an jeden, der sie bezahlen konnte, während des 2.
Weltkriegs allerdings vor allem an Nazideutschland. Gewissensbisse
kannte der passionierte Kunstsammler nach eigener
Auskunft nicht. Schliesslich seien die Menschen schon immer
übereinander hergefallen. Das Portrait Emil Bührles ist
ein gutes Beispiel für Capus’ Erzählhaltung. Der Autor verzichtet
auf vordergründige moralische Empörung und setzt
ganz auf die Wirkung seiner Geschichte. Übrigens schliesst
sich an jeden Beitrag eine knapp gefasste Chronik des jeweiligen
Unternehmens an, die bis in die globalisierte Gegenwart
reicht. Wir lesen von Firmenkrisen grossen Ausmasses
und von gewaltigen Übernahmeschlachten. Und wünschen
uns, dass sich ein Erzähler vom Format eines Alex Capus
irgendwann auch dieser Geschichten annehmen werde.
besprochen von Joachim Feldmann, Recklinghausen
Alex Capus: «Patriarchen. Zehn Portraits». München: Albrecht Knaus, 2006.
Als das Grünen noch geholfen hat
Die Sprache ist ein Garten. Die Worte sind seine Blumen.
Sie spriessen bei Linard Bardill in grosser Üppigkeit. Er bezieht
energisch Position in jeder gesellschaftlichen Debatte
der letzten zwanzig Jahre, in Standarddeutsch, Mundart
und Rätoromanisch. Der Titel «Aufs Leben los» ist Sinnbild
dieser Sammlung und zeugt von einer überbordenden
Vielseitigkeit, Sprachvielfalt und Schaff ensenergie. Kurzweilig
satirische Kolumnen sind zu entdecken, wie etwa der
fi ktive Brief an Wilhelm Tell aus der Untersuchungshaft
oder die Refl exionen über Gott («Ob Gott Humor hat?»).
Manchmal ist ein Gedicht berührend, etwa «Liun», oder
eine Kurzgeschichte, wie etwa die Geschichte über die Frau
mit dem Benzinkanister in der Hand, und es entstehen Momente
beglückender Lektüre. Das Buch ist eine Auswahl
aus Bardills vielseitigem populär-literarischen Schaff en. Ein
Buch von einem Schweizer für Schweizer. Die ausgewählten
Beiträge sind einerseits (anti-)patriotisch und politisch polemisch,
wie in der Kolumne «Die Linken und die Netten
sind schuld», anderseits sieht sich der Leser mit dem Waldsterben
in Graubünden und der Erinnerung an vergangene
Idyllen konfrontiert. Der Untertitel lautet bezeichnenderweise
«Literarisches Allerlei». Doch, wie kann es sinnvoll
oder gar bedeutsam sein – da Bardills Schaff en zumeist
einem kurzfristigen Zeitimpuls seine Reverenz erweist –,
Jahre nach dem Verlöschen jener einstigen Aktualität eine
Sammlung zur geistigen Vergegenwärtigung vergangener
Diskussionen zu veröffentlichen?
besprochen von Christine E. Kohli, Bern
Linard Bardill: «Aufs Leben los«. Zürich: Limmat Verlag, 2007.
«Tropfen wie Honig im Ich»
Franz Felix Züsli, promovierter Rechtshistoriker und einstiger
Sekretär der Universität Zürich, veröff entlichte
mit «Hoff en in der Dämmerung» (1982) und «Dennoch»
(1990) beachtenswerte Gedichtbände. Unvergesslich ist für
den Rezensenten ein «Moskau»-Gedicht aus der Zeit vor
der Perestrojka, in dem liebevoll formulierte poetische Ahnungen
der politischen Wirklichkeit bedachtsam vorgreifen.
Der Gedichtband «ember», von Rahel Wepfer mit diskretschlichten,
lichtspielenden Tuschzeichnungen illustriert,
rechtfertigt mit «Lauschen» den abermaligen lyrischen Versuch:
«Mich rühren Gesänge an/Tropfen wie Honig im Ich/
durchfunkeln leuchtend Dunkles/bis mein Lauschendes/erduftet
Holunderblüten/ und Lied um Lied singt im Ohr.» Der Text
kennt keine Satzzeichen. Die Bild- und Klangwelt hat etwas
Psalmodierendes, das Lied vom Honig, das «singt im Ohr»,
verrät biblische und antike Anklänge. Wenn indes beim Gedicht
unter dem Titel «Inner» die «raben heimwärts/ziehen
ziehn ins dämmer» sowie schon im allerersten Text «bin»
das «nebelwollen» und die «einsamkeit» bildlich beschworen
wird, lässt trotz moderner Form das 18., 19. und frühe 20.
Jahrhundert abermals grüssen. «Über die Einsamkeit» des
poetisch inspirierten, von der Aussenwelt nicht verstandenen
Künstlers im Mief der Kleinstadt hat seinerzeit Johann
Georg Zimmermann (1728–1795) in seinem vierbändigen
Monumentalwerk fast alles gesagt, was diesem eremitischen
Zustand an schöpferischer Entfaltung abgerungen werden
kann. Bei Züsli gerinnt es zur Kurzformel: «bin werdend».
Das «nebelwollen» und die heimwärtsziehenden Raben klingen
derart stark an Hermann Hesse (das diesbezügliche Gedicht
wurde mehr als tausendmal gedruckt) und Friedrich
Nietzsche an, dass der Autor es wohl besser hätte bleibenlassen.
Auch Wintergedichte haben es heutzutage, im Zeichen
der Klimaerwärmung, schwer. Die «gefrorne eisluft» und «wo
hunger lebt im winter» sind Formulierungen, die heutzutage
eher Mühe machen. Bei Sozialkosten von 127 Milliarden
jährlich und dem Seltenheitswert der klirrenden Kälte müsste
der Poet sich da wohl etwas Neues einfallen lassen.
Eher schon bleibt die kurze Ballade über Judas Ischariot
anzuerkennen, dessen fundamentale Täuschung und Enttäuschung
wohl nicht zu Unrecht politisch verstanden wird:
«Jesus – König in Israel!». Bei der Form der Ballade, dem
dramatisch strukturierten Gedicht, geht es auch bei Züsli
nicht ohne Satzzeichen. Und im überzeugendsten Text des
Bandes, «Sage mir», einer Studie zum Th ema «Krebs», spielt
der Gedankenstrich eine konstituierende Rolle: «meinem
rücken fehlen fl ügel/die weiten der wahrheiten/zu erfl iegen
und aus dem/urgrund wachsen tollkirschen/ungefragt – /du
sage mir/woraus entspringen die quellen/von krebs –».
Gewidmet ist der schön ausgestattete Band Silvia und
Klaus Weimar. Der bekannte Th omas-Mann-Kenner hat
schon vor Jahren einen Gedichtband Franz Felix Züslis mit
einem kenntnisreichen Begleittext kommentiert. Eine verdiente
Reverenz für einen Poeten, dessen Anliegen es ist, «ohne
Pathos Ausbruchsmöglichkeiten aus der Banalität des Alltäglichen
und der abgestumpften Wahrnehmung zu vermitteln».
besprochen von Pirmin Meier, Beromünster
Franz Felix Züsli: «ember». München: Erwin Friedemann, 2006.
«die Kunst, mit den Dingen zu verschmelzen»
Wie kann Lyrik zeitgeschichtliche Diagnose sein, ohne platt
zu erscheinen? Wie kann sie als Erlebnislyrik authentisch
wirken, ohne epigonal zu klingen? Und wie kann sie ihre
Vorbilder dennoch würdigen? Dieses Kunststück, nämlich
Zeitgeistanalyse, Erinnerungsarbeit und (literarische) Traditionsaneignung
zu verschränken, gelingt dem Bieler und
Wahlberliner Armin Senser mit seinem dritten Gedichtband
«Kalte Kriege» in beeindruckender Weise. Der Band
beginnt mit einer Vermessung der Jetztzeit, setzt im ersten
Gedicht «Das 21. Jahrhundert» ein mit einer Chronik der
ersten Jahre («das ist keine Komödie, sondern ihr Anfang»)
des neuen Jahrtausends. Zusammengehalten durch Zeitangaben,
versuchen die Verse, in den Bereich des Politischen
einzudringen; etwa wenn im Gedicht «10. Dezember 2003»
die Wahl Christoph Blochers in den Bundesrat kommentiert
oder das Rütli als Tummelfeld des Patriotismus begangen
wird. Deutlich wird Sensers Bemühen, die «Krankheitsbilder
» seiner Zeit zu analysieren, ohne einfach die communis
opinio «nachzusprechen».
Wird die Gegenwart zeitlich über Ereignisse gefasst, so
wird die Vergangenheit des lyrischen Ichs auff allend oft
räumlich ausgemessen. Dies kann sowohl als Erinnerungs-
arbeit gegenüber Verwandten («Deutschland: meiner Mutter
») als auch als Liebeserklärung an Städte wie Biel («rot tikkende
Stadt»), Bern («deine auf Eis gelegte Stadt») oder Berlin
erfolgen. In Sensers Gedichten geht es um Erinnerung. Aber
immer nur indirekt über den Weg der Distanzierung, die
eine Ordnung der Dinge erst möglich macht («Das Leben,
dem man rückwärts nachgeht, liegt grob / gesagt nicht hinter
einem, sondern schiebt / sich genau vor das Objekt, das man
liebt»). Damit wird aber die aporetische Struktur des Erinnerns
selbst off en gelegt («In der Vergangenheit, da endet die
Chance, / das Schicksal») – übrig bleibt vom Vergangenen
bloss ein «Echo», die Dichtung.
Die literarische Topologie bildet das dritte Netz von
Verweisen, das Senser um sich ausbreitet. Ihr kommt die
Funktion zu, Zeiten und Räume zu überbrücken, den
Kosmos der Erinnerung und die Welt der Politik kurzzuschliessen.
Sie reicht von einer Hommage an Dürrenmatt,
die Verehrung und Ablösung zugleich markiert, zu Ernst
Jandl und führt zurück zu Robert Walsers Biel. Nur die
Liebesgedichte (oder besser: Abschiedsgedichte?) – die
wie Intermezzi die Erkundungen des Zeitgeists und des
Orts des lyrischen Ichs im Raum unterbrechen – scheinen
zeit- und ortlos. In ihnen fallen individuelle Vergangenheit
und geschichtliche Zukunft für einen Augenblick zusammen.
Den Band beschliesst ein brillanter, längerer Gedichtzyklus,
der – kühn als «Ars Poetica» betitelt – Horaz direkt um
Stimme und Stoff anfl eht. In stupender Weise verdichten
sich hier die Refl exion persönlicher Krisensituationen, der
Angst vor dem literarischen Versagen und der Kontingenz
der Welt zu den allgemeinen (Sinn-)Fragen, was Lyrik für
ein denkendes Ich und was der Lyriker für eine unzugängliche
Welt auszurichten vermag («Denn das Leben wie das
Schreiben sind nur ein Beweis / der Leere, eine auf der Oberfl
äche aufgespülte Realität»). Zugleich off enbart der Zyklus
auch Sensers Poetologie, die für die Dichter vorsieht, «nur
Seismographen» zu sein, und in der Maxime gipfelt, «die
Kunst mit den Dingen zu verschmelzen».
Es sind vor allem die variierenden Wiederholungen einzelner
Versteile, durch die Senser die Bedeutungen der Worte
performativ erschliesst. So ernst die Th emen sind, denen
sich die Gedichte widmen, so wird dieser Ernst doch immer
wieder durchbrochen durch eine formale Verknappung zur
Lakonie und durch (Sprach-)Witz, erreicht mittels Verstössen
gegen Reim- und Versschemata . Ebenso unvergesslich
wie Sensers «Kanut» prägen sich Verse ein wie: «Aber bevor
die Stille wirklich schlapp / macht, bricht der Absatz ab.»
besprochen von Lucas Marco Gisi, Zürich
Armin Senser: «Kalte Kriege. Gedichte». München: Hanser, 2007.
Zum vielschichtigen Sinn des Originals
Peter Utz ist Professor für neuere deutsche Literatur an der
Universität Lausanne, wo es auch ein international angesehenes
«Centre de traduction littéraire» gibt. Er wird in
der Fachwelt als hochgelehrter Philologe geschätzt und ist
einem breiteren Leserpublikum vor allem als bekennender
Liebhaber und origineller Deuter des Werks Robert Walsers
bekannt. Sein jüngstes Buch beschäftigt sich mit Übersetzungen
deutschsprachiger Weltliteratur ins Französische
und Englische, und dazu hat Utz eine zwar nicht ganz originelle
– aber mit souveränem Überblick über die jüngsten
Entwicklungen seiner Wissenschaft neu verpackte – Th ese,
die er bei den Solothurner Literaturtagen und auf diversen
anderen Podien schon mehrfach erläutert hat: da das
Übersetzen eines literarischen Textes auch als eine Art Interpretation
verstanden werden kann, erschliessen sich auch
dem muttersprachlichen Leser des Originaltexts durch das
Studium der Übersetzungen oft neue Bedeutungsnuancen
und verborgene Sinnpotentiale. Während ein Literaturwissenschafter,
nach dem Sinn eines dichterischen Werks
tauchend, seine Interpretation wortreich und ausführlich
hin und her wenden kann, muss sich der zwischen AusgangsVERLEGER
und Zielsprache surfende Übersetzer für eine einzige, ihm
passend erscheinende Formulierung entscheiden – auch
dort, wo das nicht immer eindeutige Original bewusst oder
unbewusst etwas off en lässt. Und genau diese Festlegungen
können ausserordentlich lehrreich sein.
Das klingt plausibel und ist es auch, und die zur Erläuterung
dieser Th ese gewählten Beispiele überzeugen nicht
nur, sondern entfalten in ihrer Darlegung durch den Autor
auch einigen interkulturellen und kulturgeschichtlichen
Reiz. Sie könnten ihn allerdings noch viel intensiver entfalten.
Denn leider wird er oft gleich wieder zugeschüttet,
weil sich die erstaunliche sprachliche Umständlichkeit des
Verfassers über die Massen in den Vordergrund drängt. Es
ist, als habe Peter Utz, der durchaus anders kann, sich und
seiner Zunft beweisen müssen, dass auch er das – nicht immer
und unbedingt zu Recht – weithin verpönte Germanistenkauderwelsch
perfekt beherrscht. Selbst wenn man
das erste, die Hauptthese des Verfassers entfaltende Kapitel
über das «Gewinnversprechen des literarischen Übersetzens»
noch mit Bewunderung und Zustimmung liest – bald schon
strapaziert dieses Buch die Geduld des Lesers. Dieser wird
übrigens ganz grundsätzlich als mehrsprachig gebildeter Europäer
und damit auch Hoff mann-, Fontane-, Kafka- und
Musilkenner – im Klartext: als Germanistenkollege – angesprochen.
Warum hat Utz seine einleuchtenden Th esen
zum Mehrwert des Übersetzens nicht zu einem schwungvollen
Essay mit ein paar wenigen Beispielen verdichtet?
Sein im falschen Verlag erschienenes literatur- und translationswissenschaftliches
Fachbuch mit fast 300 Seiten Text
und fast 40 Seiten Anmerkungsteil werden Germanisten,
Kulturwissenschafter und Übersetzungsspezialisten sicherlich
mit Gewinn lesen. Das grosse Publikum aber dürfte es
recht bald schon gähnend zuklappen – ermüdet von einem
Kulturwissenschaftler-Slang, der sich über viel zu viele Seiten
und nicht ohne akademische Selbstverliebtheit mit den
«Fremdstellungen des Eigenen», dem «verbalen Rhythmus im
Zeichen der Gewalt am Körper» oder der «doppelten Referenzialisierbarkeit
jedes Ausdrucks» abmüht. Schade.
besprochen von Klaus Hübner, München
Peter Utz: «Anders gesagt – autrement dit – in other words». München:
Hanser, 2007.
Die Utopie des alten Kindes
«Am Tag, an dem ich das alte Kind kennenlernte, versuchte
ich mir eine Geschichte auszudenken. Es fi el mir nur keine
ein.» So kann es Schriftstellern gehen, so ging es dem Autor
dieses Buches, und da war es natürlich ein Glück, dass
ihm das alte Kind in die Schreibstube platzte und eine Geschichte
auf dem Tablett servierte. Er hätte nur mit dem
Kind nicht so reden dürfen, denn es kannte sich mit der
Erdenmenschensprache noch nicht aus und hätte garantiert
ein paar heikle Fragen gestellt, weil ja hier recht eigentlich
nichts platzt und auch nichts wirklich auf einem Tablett
hergetragen wird. Ein bisschen oberschlau und altklug ist
nämlich dieses Kind, und das verwundert nicht, wird man
auf seinem Planeten doch als grosser, dummer Erwachsener
geboren und erst in etlichen hundert Jahren klein und gescheit.
499 Jahre ist das Kind selber alt, 77 davon, vielleicht
auch ein paar weniger, ist es zur Schule gegangen, und nun,
im Abschlussjahr vor seinem fünfhundertsten Geburtstag,
soll es eine Hausarbeit in Völkerkunde schreiben; das ist
vorgeschrieben auf seinem Planeten. Darum ist es auf die
Erde gekommen, zu dem primitiven Volksstamm, der wir,
Eidgenossen oder nicht, alle miteinander sind, Wesen, die
behaupten, sie hätten sich verschluckt, wenn sie doch off ensichtlich
noch am Schreibtisch sitzen.
Das ist die Ausgangssituation, und wären wir Erwachsenen
unter uns, dann käme uns jetzt die lange Tradition
einer Gattung Literatur, von den «Lettres persanes» bis
zum unseligen «Papalagi», in den Sinn, der wir so recht
nichts mehr abzugewinnen vermögen, weil es schon zu lange
her ist, dass ihr etwas überraschend Neues eingefallen
wäre. Doch wir Erwachsene sollen die Geschichte vom alten
Kind ja auch nur vorlesen, und wer das tut, der wird in
lachende Aha-Gesichter schauen, so gewiss fi nden Kinder
es spannend und komisch, wenn den Erwachsenen – uns!
– der Widersinn ihres Schaff ens und Rennens um Geld und
Ruhm vor Augen geführt wird. «Alle vernünftigen Leute sind
sich darüber einig, dass eine Sache immer dem gehören soll, der
sie am nötigsten braucht.» So steht es im Alltags-Lehrbuch
für die 34. Klasse auf dem Planeten des alten Kindes. Und
auf die Idee, um die Wette zu laufen, nur damit einer gewinnt
und alle anderen verlieren, kämen dort allenfalls die
Erwachsenen, also die Doofen oder wenigstens noch nicht
Klugen. So geht’s also auch. Auf anderen Planeten. Und in
den Utopien, den Vorstellungen vom Anderen, Besseren,
die Kinder ebensosehr brauchen wie die Erfahrung mit der
richtigen Welt.
Die richtige Welt übrigens, die hätte man sich in dem
Buch ein bisschen feiner, raffi nierter, weniger holzschnittartig
gewünscht, den Stadtrat Kaltenberger etwa, dem das
alte Kind schön schlau den fi esen Plan einer Autostrasse
durch den Stadtwald durchkreuzt. Der Herr Stadtrat soll
ruhig – von den Freiübungen vorm geöff neten Fenster bis
zum Abschiedskuss von der Gemahlin – immer alles penibel
gleich und zur selben Zeit machen müssen, aber die
Morgenzigarre und das Chefgehabe von anno Tobak hätte
es nicht auch noch gebraucht. Kinder – dies auch an die
Adresse des Illustrators – brauchen’s nicht knüppeldick, bevor
sie was kapieren. Auch Erdenkinder nicht.
besprochen von Friedbert Stohner, München
Charles Lewinsky: «Einmal Erde und zurück. Der Besuch des alten
Kindes». Zürich: Atlantis im Orell Füssli, 2007.