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Schweizer Literatur in Kurzkritik, Folge III

«Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat», so lautet der Titel des soeben auf deutsch erschienenen Buches des französischen Literaturprofessors und Psychoanalytikers Pierre Bayard. In Frankreich war das Buch ein Bestseller, nun erscheint es gleich in 13 weiteren Ländern – eine willkommene Apologie für alle Nichtleser, die dennoch die gepflegte Konversation über Bücher lieben. (Auch Bayards Buch selbst muss ja nicht aufgeschlagen werden, ist doch der Titel schon vielsagend genug.) All denen, die weiterhin und dennoch Bücher lesen wollen, sei die Folge III wie auch alle weiteren Fortsetzungen unserer «Schweizer Literatur in Kurzkritik» gewidmet. Doch auch den passionierten Nichtlesern, die nun, dank Bayard, von den letzten Resten schlechten Gewissen befreit, über Welt- und nicht ganz so grosse Literatur kennerhaft reden können, seien die Besprechungen ans Herz gelegt. Sie geben mit maximal 4’000 Anschlägen Inspirationen über den Titel hinaus, so dass das Nichtlesen des Buches möglicherweise noch inspirierender werden mag.

Es schreiben:

Hans-Rüdiger Schwab über Jean Starobinski: «Die Zauberinnen. Macht und Verführung in der Oper». München: Hanser, 2007

Marcus Jensen über Peter Weber: «Die melodielosen Jahre». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007.

Andreas Heckmann über Lukas Hartmann: «Die letzte Nacht der alten Zeit». München: Nagel & Kimche, 2007.

Michael Braun über Annette Mingels: «Romantiker. Geschichten von der Liebe». Köln: Dumont 2007.

Anett Lütteken über Regina Dieterle: «Lydia Escher. Theodor Fontane und die Zürcher Tragödie». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2006.

Christoph Simon über Tanja Wirz: «Gipfelstürmerinnen». Baden: hier + jetzt, 2007.

Ute Kröger über Karin Andert (Hrsg.): «Monika Mann. Das fahrende Haus» Reinbek: Rowohlt 2007.

Beat Mazenauer über Hanna Johansen: «Der schwarze Schirm». München: Hanser 2007.

Patricia Klobusiczky über Petra Ivanov: «Kalte Schüsse». Herisau: Appenzeller Verlag, 2007.

Joachim Feldmann über Hanjörg Schneider: «Hunkeler und der Fall Livius«. Zürich: Ammann, 2007.

Christine E. Kohli über Heinz Bütler & Wolfgang Frei (Hrsg.): «Die Nacht ist heller als der Tag. Das kurze Leben des Malers Andreas Walser.» Bern: Benteli, 2007.

Beat Mazenauer über Perikles Monioudis: «Im Äther / In the Ether». Aachen: Rimbaud Verlag, 2007.

Duke Seidmann über Hansjörg Roth: «Barthel und sein Most. Rotwelsch für Anfänger». Frauenfeld: Huber, 2007.

Markus Bundi über Adrian Naef: «Die Rechenmachers». Eggingen: Edition Isele, 2006.

Klaus Hübner über Jochen Kelter: «Ein Vorort zur Welt. Leben mit Grenzen». Frauenfeld: Waldgut, 2007.

Jesko Reiling über Erich Sutter: «Irminger, Chirurgus. Roman einer Ärztefamilie (1769–99)». Zürich: Zytglogge 2007.

Marco Baschera über Felix Philipp Ingold: «Tagesform. Gedichte auf Zeit». Graz: Droschl, 2007.

Gérald Froidevaux über Service de Presse Suisse (Hrsg). «Viceversa Literatur 1. Jahrbuch der Literaturen der Schweiz». Zürich: Limmat Verlag, 2007. (Die französische bzw. italienische Ausgabe erscheint bei Editions d’En bas, Lausanne, bzw. Edizioni Casagrande, Bellinzona.)

Magie und Macht

Souveränität – worin sie besteht, ist rein abstrakt schwer zu definieren. Besser man hat ein anschauliches Beispiel vor Augen, auf das sich verweisen lässt. Eines wie das aktuelle Buch von Jean Starobinski etwa. Derlei nämlich kann nur geschrieben werden, wenn stupende Vielseitigkeit sich mit intimster Kennerschaft und der Lust paart, die eigene Faszination an einer Fragestellung auch anderen mitzuteilen. Dabei gelingt dem Autor ein doppeltes Kunststück. Rückzüge hinter die Palisaden irgendwelcher scientific communities finden nicht statt, von modischem Gerede und verschwurbelten Theoriebildungen hält er sich fern. Ebensowenig jedoch begibt er sich auf das Niveau des blossen Sachbuchs. Sein dichter, rasanter und zuweilen sprunghafter Erzählton nimmt dem Gegenstand nichts von dessen Anspruch. Entstanden ist so ein Text, der uns, gespickt mit Details und durchsetzt von zahlreichen Exkursen, nicht nur seines Reichtums an Aspekten wegen fordert. Leser, die sich darauf einlassen, tun dies allemal mit Gewinn – und (in Zeiten wie diesen nicht ganz nebensächlich!) sie mögen nebenbei lernen, welche Weltzugänge historische Bildung zu erschliessen vermag.

Der 1920 geborene Genfer Gelehrte ist einer der letzten universal ausgerichteten Denker, die dem Spezialistentum (das immer auch geistige Verzwergung bedeutet) selbstbewusst eine Nase drehen dürfen. Von Haus aus Mediziner, mit starken Affinitäten zur Psychoanalyse, könnte, ja sollte man ihn insbesondere als führenden Ideengeschichtler des französischen Geistes zwischen Montaigne und Baudelaire kennen. Dass keine Vernunft ohne Verführung besteht, weiss er natürlich, und diese hat stets mit dem Überschreiten einer Grenze zu tun. Eben darum geht es im neuen Buch Starobinskis. Ort der Handlung ist vor allem die Oper, mit Mozart als Zentralgestirn, um den er von Monteverdi bis Richard Strauss andere Respektabilitäten kreisen lässt. Was sie in ihrer darstellerisch grandios gemeisterten äusseren Vielfalt und inneren Vielschichtigkeit verbindet, steckt ein Grundlagenteil zu Beginn ab.

Hier wird deutlich, dass des Verfassers Augenmerk den Wandlungen «mythischer Einbildungskraft» in einer sich ent-zaubernden Welt gilt. In diesem Prozess besteht der besondere Erkenntniswert der Oper darin, dass die lebensgefährliche «Unterscheidung … zwischen dem richtigen Weg und der Verirrung» buchstäblich Gestalt angenommen hat – in jenen «Verführerinnen», den «Zauberinnen» zumal, welchen das Buch seinen Titel verdankt. Sie sind Trägerinnen von Magie und Macht, deren Herkunft sich ins Archaische verliert. Um sie spielt sich das Psycho-Drama zwischen «Erzeugnissen der Begierde» und der «Furcht vor Strafe» ab. Oft ist die Sinnlichkeit unter ihren Verheissungen das eigentlich Wunderbare.

Im Laufe der historischen Entwicklung geht nun der «Zauber im wörtlichen Sinn», die von Personen ausgeübte Gewalt, in den «Zauber im übertragenen Sinn» über, «die Ekstase, den Enthusiasmus und den Rausch der Gefühle»,

deren Träger eine Musik ist, die das dichterische Wort überhöhen soll. Starobinskis Beschreibung der Kontinuität «eines Bildersystems in der europäischen Kultur» nimmt die fortschreitende «Ästhetisierung des Religiösen» in den Blick, einen Transformationsprozess, in dem Kunst schliesslich das Erbe vormaliger theologischer Autoritäten antritt. An dessen Ende ist «die Bezauberung recht eigentlich zur Angelegenheit des Künstlers geworden … zur Macht, die er sich aneignet, und zum Bild, das er von sich zeichnet.» Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zur politischen Ästhetik der Verführung, in die das «Gefälle einer Epoche» tatsächlich ausläuft. Starobinski gelingt es, solche Zusammenhänge allein durch Konzentration auf den «Statuswandel der Kunst» nachvollziehbar zu machen.

vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Münster

Jean Starobinski: «Die Zauberinnen. Macht und Verführung in der Oper». München: Hanser, 2007.

Kraut und Rüben kreuz und quer

Auf dem Cover prangt das Wort «Roman» genauso gross wie der Autorenname, der Titel und der Verlagsname, also ganz und gar unverschämt. Im Hause Suhrkamp steht man der totalen Entwertung der Gattungs­bezeichnung «Roman» offenbar gleichgültig gegenüber; denn was dieses Buch des Autors Peter Weber ist, bleibt rätselhaft. Vielleicht erkennen Anhänger des Free Jazz darin eine Form oder sogar – wie der Titel «Die melodielosen Jahre» es andeutet – etwas Musikalisches. Zwar sind die «melodielosen Jahre» ohne Zweifel melodielos, aber Peter Weber erweist sich hier eher als Maler, Photograph oder Abfilmer; denn das Buch lebt von kurzen optischen Eindrücken.

Sinnbildlich hat es die Un-Form eines Haufens nach dem Auskippen mehrerer Schubladen. Dieses Chaos soll vermutlich als Gerümpel-Installation durchgehen, damit Leser denken, der Autor wisse, was er da tut. (Hartnäckige Free-Jazzer sagen jetzt: Ordnung und Gradlinigkeit sind falsch, fast so schlimm wie Melodik.)

Dieses Snapshot-Album mit seinen wenigen Handlungs­partikeln ist nur durch ein simples Prinzip überhaupt lesbar: ein junger Mann fährt kreuz und quer durch Europa und teilt seine Reflexionen mit. Er heisst entweder «ich» oder «O» oder «Oliver» und reist meist per Bahn (sein «Generalabonnement» erinnert an Sten Nadolnys Netzkarte) oder auch per Flugzeug zwischen Frankfurt, Berlin, Warschau, Istanbul, Görlitz, Italien, Prag, Leipzig, Zürich und London herum, auch New York wird gestreift. Mal liefert er Einträge wie aus einem risikoscheuen Tagebuch, mal teilt er aneinandergereihte Beobachtungen mit wie in einem unpersönlichen Internet-Blog, er streut Gedanken zur Musikgeschichte hinein, und dann wiederum präsentiert er gestochen scharfe, ja hochschreckende Bilder.

Allerdings nützen die Reisen höchstens mittelbar, denn die stärksten und überzeugendsten Episoden bestehen aus Schweizer Kindheitsszenen und Betrachtungen zum Tourismus in der Schweiz. Zwischendurch tauchen Szenen mit einem gewissen «Mr. Please» auf, warum auch nicht, da hat sich das Verstehen eh längst verabschiedet. Sogar eine sprechende Katze läuft einmal durchs Bild, heisst allerdings «Chopin» und grinst nicht. (Wieder raunt es aus der Free-Jazz-Ecke: Man darf spielen und anspielen, was man will, beliebig.)

Da der junge Müssiggänger nahezu kontur-, willen- und sorgenlos bleibt, müssen die Kulissen alles tragen. So entsteht das, was man früher einmal einen Reigen von Capriccios nannte. Andeutungen von grösseren Projektideen scheinen durch – das wirkt, als hätte der Autor sich nicht aufraffen mögen, eine Sache zu verfolgen, sondern lieber die Schnipsel irgendwie kollagiert, um sie noch zu verwenden.

Dieses stellenweise schöne Flaneur-Buch könnte ebenso gut 50 oder 500 Seiten lang sein. Formal überzeugt es keinesfalls. Sprachlich gibt es ein paar tolle Wortschöpfungen zu entdecken: «Urbrumm», «mischwirklich», «Flitzlicht», «Welpenenglisch», auch hochpoetische Sätze: «Unter der Brücke werden flossenreich Blickzucker und Augentrost angerührt, Entenarbeit, Tauchvogelarbeit, von der herrschenden Schwanpolizei beaufsichtigt.»

vorgestellt von Marcus Jensen, Berlin

Peter Weber: «Die melodielosen Jahre». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007.

Altmeisterliches Seestück

Ein vor Stunden noch mächtiger Mann von siebzig Jahren auf nächtlicher Flucht; ein zu seinem Schutz abgestellter Soldat mittleren Alters; eine junge Magd, die in Notwehr einen Soldaten erschlagen hat und nun in das Dorf eines Mannes reist, in den sie sich bei einer flüchtigen Begegnung verliebte – diese drei Menschen, die einander sonst sicher nicht begegnet wären, führt Lukas Hartmann in seinem Roman «Die letzte Nacht der alten Zeit» auf einem Kahn zusammen, der in der Nacht der Einnahme Berns durch napoleonische Truppen und der Absetzung der patrizischen Stadtregierung über den Thunersee fährt. Es ist eine Novellensituation im klassischen Sinn: das unerhörte Ereignis des Einmarsches der französischen Truppen lässt drei Menschen für eine Nacht auf engstem Raum ein gemeinsames Abenteuer erleben, bis sich am nächsten Morgen ihre Wege trennen.

Drei Lebensalter, drei soziale Schichten, drei psychische Verfassungen auf einem Boot. Da ist der bitter bilanzierende Alte, der sich eingestehen muss, dass die Republik, der er sein Leben lang gedient hat, untergegangen ist – dies wird zum Ausgangspunkt einer Reflexion über sein Leben, die in der Erkenntnis endet, nicht nur als Vater versagt, sondern auch seine Ideale wenn schon nicht verraten, dann aus Opportunität so lange verwässert zu haben, bis seinem Leben im Rückblick jede Würde fehlt. Daneben der Soldat, längst nicht mehr jung und viele Jahre als Schweizer Söldner in den Generalstaaten der Niederlande stationiert, bis ihm, der sich schon als Hagestolz mit karger Pension enden sah, ein spätes Liebes- und Familienglück zuteil wurde, das ihn nach Bern hat zurückkehren lassen, wo er nunmehr – reputierlich und in kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit – seiner Soldatenpflicht genügt. Schliesslich die junge Magd, eine mittellose Vollwaise, die aus dem katholischen Freiburg geflohen und bei protestantischer Herrschaft im Kanton Bern untergekommen ist, nun aber in Notwehr einen zudringlichen Soldaten getötet hat. Hartmann erzählt von modernen Bewusstseinslagen in einer altmeisterlichen Sprache, unter Zuhilfenahme einer altertümlichen Novellenkonstruktion und im Rückgriff auf ein gut zweihundert Jahre zurückliegendes Ereignis, das zur Epochenwende stilisiert wird, obwohl es mit der Stunde Null bekanntlich nie allzu weit her ist.

Es ist wie mit der Nacht, mit dem Fackelschein und mit dem Wind, der nur gelegentlich über den kalten See streicht: wir haben es hier mit einem Gemälde zu tun, das sich einer hohen, nicht recht diesseitigen Sprache bedient und seinen Gegenstand mit einer wunderbar funkelnden Patina überzieht. Das ist nicht das billige Schillern eines historischen Romans, der trivialen Mythen der Gegenwart ein Kostüm umhängt, und auch nicht der Versuch, sich in ein vergangenes Ereignis einzufühlen. Hier wird vielmehr über die Bitterkeit des Alters, den Realismus und Verantwortungssinn des mittleren Lebensabschnitts und die Sehnsucht der Jugend in geradezu idealtypischer Weise gehandelt und werden doch lebendige Figuren geschaffen. Zugleich aber ist es, als blickte man auf ein Gemälde des 19. Jahrhunderts, ein symbolistisches gar. Als führe man auf Böcklins Toteninsel zu. Und das ist allerhand. Ein in seinen ästhetischen Mitteln sehr konservatives, in deren Handhabung beeindruckend vollkommenes, aus der Zeit gefallenes und darum wunderbar erholsames, auch rührendes Buch für einen langen Winterleseabend mit gutem Wein am warmen Ofen.

vorgestellt von Andreas Heckmann, München

Lukas Hartmann: «Die letzte Nacht der alten Zeit». München: Nagel & Kimche, 2007.

Ars Amandi

«Liebe», so seufzte ein verzweifelter deutscher Romancier vor dreissig Jahren, «war ein grauenvolles Wort, das mich sofort an rosige Schleimhäute denken liess, an lebenslängliche sumpfige Gefühle, … an einen ebenso heimlichen wie lähmenden Frieden zu Hause.» Entsprechend erbarmungslos wurden Liebesversuche in den Romanen des späten 20. Jahrhunderts seziert. Liebende waren reine Körperfreunde, unnahbar in ihrem schillernden Narzissmus, allenfalls temporär zu Exerzitien des Begehrens verbündet. Die Partner blieben austauschbar, zufällig aufgelesen auf dem Markt der erotischen Affekte. Die ars amandi schrumpfte zur joy of sex. Nun aber unternimmt die in Zürich lebende Schriftstellerin Annette Mingels einen Rettungsversuch. Sie rehabilitiert – unter dem tollkühnen, weil sentimentalitätsverdächtigen Titel «Romantiker» – in sechzehn hochkonzentrierten Erzählungen die Kunst des Liebens als eine mächtige Passion, die alles in ihren Bann zieht. Wenn ihre Figuren einmal einem Menschen erotisch und emotional verfallen sind, dann kommen sie nicht mehr von ihm los. Es ist das Konzept einer absoluten Liebe, die jede pragmatische Vernunft in den Wind schlägt, um das unerreichbar scheinende Glücksversprechen doch noch zu realisieren. Auch wenn das Begehren illegitim scheint – etwa im Fall der lange getrennten Zwillinge Simon und Simone – verschafft es sich Geltung, und der Riss, der durch das bis dahin geordnete Leben der Figuren geht, ist nicht mehr zu kitten. Mingels zeigt in ihren «Geschichten von der Liebe» auch die Extremismen des Liebestraums. In der Erzählung «Liebeswahn» verfällt die unglückliche Helena einem attraktiven, aber leider verheirateten Internisten und entwickelt sich zur Stalkerin. In aggressiver Hassliebe, die in Abgründe von Alkohol und Suizid führt, ringt der russische Poet Sergej Jessenin um die Eroberung der Tänzerin Isadora Duncan. Der Liebesverrat wird ebenso präzis ausgelotet («Entscheidungen») wie die aussichtslose Renovierungsarbeit in zerstörten Beziehungen («Ben Hur»). Liebe, das ist hier auch die Abwehr von Zudringlichkeiten eines sexuellen Abenteurers: «Er muss sich nicht sorgen, dass sie aufhören könne, ihn zu mögen; sie hat ihn nie gemocht.» Am ergreifendsten ist die Erzählung eines schrecklichen Verlusts: ein Mädchen erlebt die zarten Momente einer ersten Berührung. Die kurzen Träumereien von einer ersten Liebe rächen sich furchtbar. In einem unbewachten Moment ertrinkt die kleine Schwester des Mädchens im häuslichen Gartenteich. Das grausame Verhängnis von Liebe und Tod – so intensiv und verstörend ist es kaum je beschrieben worden.

vorgestellt von Michael Braun, Heidelberg

Annette Mingels: «Romantiker. Geschichten von der Liebe». Köln: Dumont 2007.

Liebe, Leidenschaft, dann das Verderben

Literarische Essayistik hat es heutzutage nicht leicht, kann es nicht leicht haben in einer Zeit, in der das zugehörige Lesepublikum, dessen sich ein Grossmeister des Genres wie Thomas Mann absolut sicher sein konnte, gewissermassen abhanden gekommen ist. In der Gegenwart, in der Eliten aller Art in globalökologischen Kassandra-Rufen politisierender Pop-Kleinmeister intellektuelle Offenbarungen wähnen sehen zu müssen, scheint kaum mehr Platz zu sein für im guten Sinne populärwissenschaftliche literarhistorische Abhandlungen. Guter Rat ist also teuer, wenn man bei einer dem Geist abgeneigten Öffentlichkeit Interesse für ein buchstäblich aus dem vorletzten Jahrhundert stammendes Thema wecken möchte. Dass dies dennoch gelingen kann, beweist die Fontane-Forscherin Regine Dieterle. Ihr reich illustriertes, innerhalb kurzer Zeit vergriffenes Essay-Bändchen wird in diesen Tagen bereits zum zweitenmal aufgelegt. Wie ihr das gelingt, ahnt man schon beim Blick auf den Umschlag; denn wer würde sich nicht für eine skandalumwitterte «Tragödie» in den Reihen der Reichen und Schönen interessieren?

Der etwas reisserische Titel bedient die omnipräsente Neigung zum Voyeurismus hier, offen gesagt, ein wenig unangemessen. Schade, denn drinnen wird eine grundsolide recherchierte komplexe Argumentation sinnfällig präsentiert. Die von Otto Brahm in Berlin publik gemachte unglückliche Liebe der steinreichen Zürcherin Lydia Escher zum Schweizer Maler Karl Stauffer-Bern sollte künftig – so lautet im Kern der Ansatz – zu den zentralen Quellen von Fontanes Roman «Effi Briest» gerechnet werden. Ein lohnendes Gedankenspiel in der Tat. Ein plausibles dazu, wenn bedacht wird, wie sehr Fontane zum eklektizistischen Zusammentragen passender Gesellschaftsnachrichten neigte, um für seine sublimierenden Fiktionen aus dem prallen Leben zu schöpfen. Die Autorin vollbringt daher ein kleines Kunststück, indem sie ausgesprochen disparate Handlungsstränge und Materialien zu einem dichten, tragfähigen Gewebe verknüpft. Die Forschung wird ihr diese akribische Studie zur grossbürgerlichen Mentalitätsgeschichte zu danken wissen. Dennoch hat es den Anschein, als traue sie selbst der Evidenz des eigenen Textes nicht so recht. Sie legt nach, wo doch alles deutlich zutage tritt.

Als die tieferen Ursachen für das private Unglück werden so von ihr etwa vermeintlich defizitäre gesellschaftliche Zustände bewertet: Männer und Männerbünde seien es, die Frauen die Freiheit zu denken und zu lieben beschnitten hätten. Derlei Projektionen sind ein Ärgernis. Umso schlimmer also, wenn das Schwarz-Weiss-Denken hier zudem noch personalisiert wird: der bedeutende Schweizer Literaturhistoriker Jacob Baechtold wird dabei auf kaum haltbare Weise zum willfährigen Handlanger des Bundesrats deklariert, der Emanzen wie Lydia Escher angeblich systematisch «an den Rand» trieb, sie «zum Verstummen» brachte. Wie gut, dass es da wenigstens im fernen Berlin einen Nothelfer gab: Otto Brahm, der durch seine beiden Nachrufe Licht in die Affäre zu bringen suchte. Solche Rollenzuweisungen sind heikel, da das vielfältig Verstrickte allzu sehr vereinfacht wird, und weil der Versuch, mit Fontane auf dessen ureigenstem Terrain, der Schilderung gesellschaftlicher Verhältnisse, in eine Art Konkurrenz zu treten, unweigerlich an den Wettkampf von Hase und Igel erinnert. Bedauerlich ist überdies, dass ausgerechnet Otto Brahm, der doch im Zentrum des Interesses stehen müsste, so merkwürdig blass bleibt. Ausführlicher von ihm zu handeln, hätte gleichsam eine historische Verpflichtung dargestellt, gehört doch gerade er zu denen, deren Verdienste im Dritten Reich mit Bedacht marginalisiert worden sind. Unpassend wirkt schliesslich noch die nicht zu rechtfertigende Stilisierung Lydia Eschers zu «einer der grossen Frauen Zürichs». Sollte eine «kluge, visionäre» Frau tatsächlich daran erkennbar sein, dass sie in einer verzweifelten Situation die Chance zur Publikation dessen wahrnahm, was sie und Stauffer-Bern rehabilitieren konnte? Hier ist Skepsis angebracht. Sicher: das ist alles gut gemeint, als eine historische Wiedergutmachung eben. Nur: davon wird die Frau nicht automatisch auch bedeutender. Mit Fontane möchte man daher sagen, dass mit dieser «auf den letzten i Punkt gehenden Gründlichkeit … in ihrem eignen Interesse, wie in dem der Leser und der Literatur» tatsächlich «nur die ganz Grossen behandelt werden» sollten, zu denen Lydia Escher, ihrem bedauerlichen Schicksal zum Trotz, wohl doch eher nicht gehört.

vorgestellt von Anett Lütteken, Bern

Regina Dieterle: «Lydia Escher. Theodor Fontane und die Zürcher Tragödie». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2006.

Woman’s place is on the top!

Es war nie leicht, auf einen Berg zu steigen. Noch schwieriger aber war es, als Alpinistin anerkannt oder gar gefördert zu werden. Die Ausübung der «Männertätigkeit» Bergsteigen bescherte nicht selten gewichtige Identitätsprobleme, und ständig drohte das Urteil, keine richtige Frau zu sein. Tanja Wirz beschreibt in ihrem wunderbar illustrierten und bereichernden Buch «Gipfelstürmerinnen», wie der Alpinismus Ende des 19. Jahrhunderts zur Männersache gemacht wurde, gleichzeitig aber immer auch Betätigungsfeld zahlreicher Frauen blieb. Sie untersucht, was die Vorstellung eines hochalpinen Männerraums für Bergsteigerinnen wie Henriette d’Angeville, Dora d’Istra oder Loulou Boulaz bedeutete und wie sie ihren Platz auf den Gipfeln «zurückzuerobern» suchten.

Im September 1838 bestieg die 44jährige Aristokratin Henriette d’Angeville als zweite Frau den Montblanc und schrieb noch an Ort und Stelle erste Brief an Freunde und Verwandte, um sie mit einer eigens mitgebrachten Brieftaube ins Tal zu schicken. Bevor sie den Gipfel verliess, kratzte sie ihr Motto in den Schnee: «Vouloir c’est pouvoir.» Während manche sie als Wegbereiterin des Frauenalpinismus priesen, wie 1894 etwa die französische Bergsteigerin Mary Paillon, machten vor allem Männer sie zum blossen Kuriosum. So schrieb der österreichische Alpinist Karl Ziak: «Der Auszug des vierundvierzigjährigen kühnen Jüngferleins erregte natürlich in Chamonix beträchtliches Aufsehen. Das Fräulein stak in einer bis auf die Knöchel reichenden Pumphose, die aber bis zu den Knien durch eine Bluse schamhaft verdeckt war.» Henriette d’Angeville hatte den Fehler gemacht, den Montblanc in einer eigens für die Expedition geschneiderten Mischung aus Damen- und Herrenbekleidung zu besteigen.

Max Senger meinte 1945 in seinem Buch «Wie die Schweizer Alpen erobert wurden» unter dem Titel «Weiblicher Alpinismus», bis 1854 sei keine Bergtour von Frauen als «hochtouristisch oder alpinistisch anzusprechen». Sämtliche bis dahin vorkommenden Bergesteigerinnen gehören für ihn ins Kapitel der «ergötzlichen Anekdote». Tanja Wirz lässt einigen dieser nicht ernstgenommenen Bergsteigerinnen Gerechtigkeit widerfahren. Zudem zeigt sie am Beispiel des Schweizer Frauen-Alpenclubs SFAC, wie Bergsteigerinnen im Männergebiet Alpinismus Fuss zu fassen versuchten. 1907 wurde der Schweizer Alpenclub SAC offiziell zum reinen Männerclub. Als Reaktion darauf gründeten 1918 die Hotelière Aline Margot-Colas und Madame Furer aus Montreux den Schweizer Frauen-Alpenclub. Viele Aussenstehende freute die Gründung des SFAC, weil damit die Diskussion über die SAC-Frauenmitgliedschaft ein Ende fand. Der SAC reagierte mit einer winzigen Gratulation in der Vereinszeitschrift.

Wie wenig Freude manche Alpinisten an den Leistungen von Alpinistinnen hatten, zeigt Tanja Wirz eindrücklich am Beispiel eines Tourenberichts, der 1918 im SAC-Jahrbuch erschien. Der Autor beschrieb, wie er den Grosslitzner in Tirol bestieg: «Offen gestanden, bedauere ich es, dass ein weiblicher Fuss den stolzen Nacken dieses männlichsten aller Berge betreten hat … Kann es wirklich nicht einmal in der toten Natur Gestalten geben, die der Macht des Weibes widerstehen?»

Bis heute werden Leistungen von Alpinistinnen abgewertet oder ignoriert. «Worauf Unentwegte meist flugs zu einer noch grösseren Tour ansetzten, um irgendwann endgültig zu beweisen, was sich die erste österreichische Frauenexpedition ins Himalayagebiet, die 1994 den Shisha Panga erstieg, als Motto aufs Banner schrieb: ‹Woman’s place is on the top!›» «Gipfelstürmerinnen« ist nicht nur für alle, die das Bergsteigen lieben, ein nicht zu verpassendes Ereignis. Tanja Wirz’ eindrückliches Wissen, das grossartige Bildmaterial und die berauschende alpine Atmosphäre machen ein unbeteiligtes Lesen unmöglich.

vorgestellt von Christoph Simon, Bern

Tanja Wirz: «Gipfelstürmerinnen». Baden: hier + jetzt, 2007.

Monika Mann Scrittrice

Monika Mann? – Schriftstellerin? Alle Kinder der Familie Mann sind bestens bekannt, bis auf Monika Mann. Leser kennen sie, wenn überhaupt, nur aus zweiter Hand, beispielsweise aus Tagebucheintragungen ihres Vaters, wie dieser: «Nach dem Abendessen Einreden Bibi’s [Michael Mann] auf Moni. Sprach mit Erika, dann auch mit K. [Katia] über diese und liess meiner Erbitterung über ihre Existenz die Zügel schiessen. Drang auf ihre Entfernung.» Fernsehzuschauer sahen sie – weit im Hintergrund des Familienpanoramas – in dem Mammutfilm über die Familie Mann, mit den Augen ihrer Schwester Elisabeth Mann Borgese: «Monika – die hat halt nicht so viel hergegeben.»

Monika Mann steht zeitlebens im Schatten ihrer berühmten Familienangehörigen – von ihnen gelegentlich mit abfälligen Bemerkungen bedacht, bleibt sie eigentümlich konturlos. Sie ist der ungeliebte Sonderling – träge, stumm, nichtsnutzig, bockig, manchmal hysterisch. Aus dieser Familienperspektive wurde sie bisher – flüchtig nur – auch durch die Rezeptionsgeschichte betrachtet. Dass auch sie schrieb, belächelte man in der Familie. Als aber ihr Schreiben als Konkurrenz gefährlich wurde, versuchte Erika Mann, sie zum Schweigen zu bringen. Ihr Erinnerungsbuch «Vergangenes und Gegenwärtiges» aber konnte sie nicht verhindern; es ist wohl selbst für versierte Leser das einzige bekannte Zeugnis der Schriftstellerin Monika Mann.

Die Literaturwissenschafterin Karin Andert hat sich auf Spurensuche gemacht und verblüffende und verblüffend viele Dokumente zutage gefördert, die Monika Manns eigene Handschrift tragen, und eine Auswahl thematisch klug zusammengestellt in ihrem Band «Monika Mann. Das fahrende Haus. Aus dem Leben einer Weltbürgerin». Briefe sind darunter, an Familienmitglieder, Freunde und Bekannte. Sie zeigen eine sensible, selbstzweiflerische, eine ebenso gebildete wie gescheite Frau. Es überwiegen jedoch Gedichte, Aphorismen, Märchen, Porträts, Reflexionen, Rezensionen von Büchern und Filmen – literarische, feuilletonistische Arbeiten aus drei Jahrzehnten, mit leichter Feder geschrieben und veröffentlicht in renommierten Periodika, darunter «Die Tat», «NZZ», «Der Bund», «Neue Deutsche Hefte», «Der Aufbau», «Konkret», «du», «Welt am Sonntag», «ZEITmagazin», «Wegwarten», «Münchner Merkur, «Frankfurter Rundschau», «St. Galler Tagblatt» und auch die «Schweizer Monatshefte». Natürlich, wen wundert›s, finden sich auch einige Erinnerungsbilder und (Auto-)Biographisches. Nie aber hat sie – im Gegensatz zu ihrer Schwester Erika – über die Familie, insbesondere den Vater, als «Jubelhexe» geschrieben, sondern – gewissermassen aus der Distanz – feingezeichnete Porträts skizziert.

Literarische Miniaturen sind es. Berührend ist die Schilderung ihrer letzten Begegnung mit dem greisen Onkel: «Der Einsame. Erinnerungen an Heinrich Mann» oder das literarische Bildnis ihres Bruders Michael: «Brudergespräche».

In ihrem Nachwort nähert sich Karin Andert ebenso behutsam und einfühlsam wie sachlich der schwierigen Persönlichkeit Monika Manns, beschreibt ihre Versuche, endlich und endgültig aus dem langen Familienschatten zu treten, um den eigenen Weg zu finden; sie zeichnet ihren Berufs- und Lebensweg durch die Welt nach: München, Lausanne, Paris, Frankfurt, Berlin, Sanary-sur-Mer, Florenz, Wien, Zürich, London, Princeton, Kalifornien, New York … schliesslich Capri, und immer wieder die Schweiz, Zürich, und später, nach dem Tod Thomas Manns, Kilchberg.

Andert schildert das Nomadisieren Monika Manns als Suche nach Schutz, Geborgenheit und Ruhe für sich selbst und zum Schreiben, und erklärt ihre Entscheidung für das Refugium Capri. Sie hatte die Intellektuellen und die grossen Städte satt; ein Einheimischer, der Maurerpolier Antonio Spadaro, wurde ihr Lebenspartner, neben dem sie die wohl beste und produktivste Zeit ihres Lebens verbrachte.

Der Band präsentiert die unbekannte Monika Mann. Versehen mit sorgfältig recherchierten und ausführlichen Anmerkungen, einer erläuternden biographischen Zeittafel sowie einem umfangreichen Personenregister, dürfte er auch der Mann-Forschung Impulse geben. Eines der Bilder zeigt das Türschild, das Antonio Spadaro an der Villa Monacone, anbrachte: MONIKA MANN / SCRITTRICE. Eine Schriftstellerin ist zu entdecken.

vorgestellt von Ute Kröger, Kilchberg

Karin Andert (Hrsg.): «Monika Mann. Das fahrende Haus» Reinbek: Rowohlt 2007.

Wie der Zufall es will

In ihrem neuen Roman «Der schwarze Schirm» beschreibt Hanna Johansen die rätselhafte Liaison zwischen zwei ganz unterschiedlichen Frauen. Als Claire von der fremden Frau im Zug angesprochen wird, wehrt sie instinktiv ab. Die forsche Direktheit, mit der Rose ungebeten auf sie zukommt, lässt die Abwehr jedoch misslingen. Rose vergisst ihren schwarzen Schirm, und Claire fühlt sich dafür verantwortlich. So ergeben sich aus dieser ersten weitere zufällige Begegnungen, die Claire zwar unangenehm, insgeheim aber auch willkommen sind. Nicht ohne Furcht beginnt sie, sich daran zu gewöhnen. Die gegenseitige Anziehungskraft entspringt einem Makel des Nichtwissens, der unter umgekehrten Vorzeichen die beiden Frauen verbindet. Während Claire einst ihr unehelich geborenes Kind zur Adoption freigeben musste, ist Rose mutterlos aufgewachsen. Claire hofft inständig, ihre Tochter möge nicht so wie Rose geworden sein. Was aber, wenn doch? Diese nicht laut gestellte, nur unterschwellige Frage verleiht dem Roman eine knisternde, beengende Kompaktheit, die nie das Gebüsch der Andeutungen verlässt.

Die verkniffene Claire wie die schrille Rose geben nur Bruchstücke von sich selbst preis, stets in Angst davor, zuviel auszuplaudern. Fragen bringen nie Gutes hervor, weiss Claire, «während die schlimmen Folgen nicht nur unvorhersehbar, sondern auch unabsehbar zu sein pflegen». Rose bedroht die peinlich durchorganisierte Einsamkeit, mit der Claire sich panzert – und lockert sie zugleich. Hanna Johansen inszeniert ihre prekäre Beziehung mit unbehaglich anmutender Widerspenstigkeit. Nur das Ende wirkt, leider, in nicht ganz befriedigender Weise aufgesetzt. Rose muss sterben, damit für Claire alles beim alten bleibt. «Ich bin zu Hause.» Doch das anschliessende Präteritum desavouiert diesen erlösenden Satz gleich wieder: «Gut, dachte ich. Das war es.» Mehr hat Claire nicht zu hoffen, mehr will sie gar nicht mehr hoffen.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern.

Hanna Johansen: «Der schwarze Schirm». München: Hanser 2007.

Morde mit Deformationsgeschossen…

Ausgerechnet ein Besuch auf dem Zürcher Weihnachtsmarkt stürzt Staatsanwältin Regina Flint in einen neuen Fall – auch wenn sich erst im Lauf der Ermittlungen herausstellen wird, wie komplex und bedrohlich die Geschichte ist, die geradezu harmlos beginnt: mit dem versuchten Diebstahl einer Matrioschka. Bald werden die ersten Leichen gefunden, Mordopfer, die nichts zu verbinden scheint, abgesehen davon, dass sie ohne plausiblen Grund mit einem Deformationsgeschoss getötet wurden. Dass aus den Regalen der Opfer jeweils eine Matrioschka entwendet wurde, ist für die Polizei auf den ersten Blick nicht ersichtlich…

Trotz einer heiklen Spurenlage, bewegten Nebenschauplätzen und der immer wieder aufflackernden Anziehung zwischen Staatsanwältin Flint und Kriminalpolizist Cavalli bringen die beiden allmählich Licht in ein besonders düsteres Kapitel des organisierten Verbrechens. Es geht um den globalen Drogenhandel, um Zürich als unerhört profitablen Umschlagplatz, auf dem sich alte (albanische) und neue (russisch-ukrainische) Banden die brutalsten Schlachten liefern, selbst auf Kosten von Unbeteiligten, ja sogar von Kindern. Dabei wird so realistisch und detailgetreu erzählt, von den Methoden der Kriminellen ebenso wie von den Methoden der Ermittler bei Polizei und Justiz, dass zur spannenden Fiktion auch eine spannende Dokumentation geliefert wird. Die plastische Gestaltung der Milieus und Charaktere tut ein übriges, um uns mitfiebern – und mitfühlen – zu lassen.

Dank ihrer ersten beiden Kriminalromane «Fremde Hände» und «Tote Träume» hat Petra Ivanov schon viele Freunde gewonnen, die sich nun über eine weitere Begegnung mit Flint und Cavalli freuen können. Wer die beiden noch nicht kennt, sollte den einen oder anderen langen Herbst-, beziehungsweise Winterabend nutzen, um das Versäumte nachzuholen – substantielle Unterhaltung ist garantiert.

vorgestellt von Patricia Klobusiczky, Berlin

Petra Ivanov: «Kalte Schüsse». Herisau: Appenzeller Verlag, 2007.

…eine Leiche mit Kopfschuss

Versehen mit den besten Referenzen kommt Hansjörg Schneiders sechster Roman um den Basler Kriminalisten Peter Hunkeler ins Haus. Sogar im fernen Berlin ist man der Ansicht, es handle sich «um die besten deutschsprachigen Kriminalromane, die derzeit geschrieben werden». Und wie selten im Krimigenre scheinen sich Kritiker und Leser einig zu sein: «Hunkeler und der Fall Livius» befindet sich, wenige Monate nach Erscheinen, schon in der dritten Auflage.

Ein grausiger Mordfall ist es, der Hunkeler zwingt, seinen Neujahrsurlaub im Elsass abzubrechen. In einer Kleingartenkolonie am Stadtrand von Basel wird die Leiche eines alten Mannes gefunden. Anton Flückinger, der eigentlich Anton Livius heissen und aus Ostpreussen stammen soll, hängt wie ein Stück Schlachtvieh an einem Fleischerhaken. Gestorben ist er an einem Kopfschuss. Pikanterweise befinden sich die Schrebergärten auf französischem Hoheitsgebiet, was bedeutet, dass der Kriminalkommissär darauf beschränkt ist, seinem Kollegen Bardet aus dem elsässischen Mülhausen zuzuarbeiten. Was ihn jedoch nicht davon abhält, auf eigene Faust zu ermitteln.

Selbstverständlich haben wir es hier nicht mit orthodoxer Polizeiarbeit zu tun. Hunkeler lädt niemanden zum Verhör und überlässt die Interpretation von Indizien weitgehend anderen. Zum Aktenstudium hat er wenig Lust. Er interessiert sich für Menschen und ihre Umgebung. Also führt er vor allem Gespräche, die allerdings oft ohne ein greifbares Ergebnis bleiben. Nicht nur im Emmental, wo das Mordopfer lange zuhause war, erzählt man einem Polizisten aus Basel nur das Nötigste. Erfolgreicher scheint die Boulevardpresse zu sein, denn schon bald ist in der Zeitung zu lesen, dass der wirkliche Anton Livius im 2. Weltkrieg gefallen sei. Wer also ist der Tote wirklich? Handelt es sich bei dem Mord etwa um einen späten Akt der Rache? Hunkeler erscheint diese Erklärung nicht unwahrscheinlich, zumal er von schrecklichen Ereignissen weiss, die sich in den letzten Kriegsjahren im Elsass zugetragen haben. Oder war alles ganz anders, eben doch «eine ganz normale Kriminalgeschichte», «dutzendfach abgehandelt zum Beispiel von Simenon»?

Der so daherredet, ist einer der vielen Bekannten des Kommissärs, ein abgehalfterter Schriftsteller, um dessen literarisches Potential es schlecht bestellt ist. «Was soll mir noch in den Sinn kommen? Ab und an ein Krimi, das geht noch», lässt er Hunkeler wissen, um in einer späteren Szene dann zu beweisen, dass er auch als Krimiautor nicht viel taugt.

Hansjörg Schneider ist da zum Glück von anderem Kaliber. Er kann es sich leisten, ein Handwerk zu persiflieren, das er selbst meisterlich beherrscht. Von den Landschaftsbeschreibungen über die knappen und präzisen Charakterisierungen bis hin zu den alltagsverhafteten, oft aber auch abgründigen Dialogen zeigt sich der Autor als souveräner Erzähler, dem mit Kriminalkommissär Peter Hunkeler eine Ermittlerfigur gelungen ist, die, trotz der offenkundigen Verwandtschaft mit berühmten fiktiven Kriminalisten wie Wachtmeister Studer oder Kommissär Maigret, in ihrer Individualität überzeugt.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

Hanjörg Schneider: «Hunkeler und der Fall Livius«. Zürich: Ammann, 2007.

Geschrieben, gemalt; gestorben mit 22

«Es ist finster sagt ihr und ihr fürchtet die geheimnisvolle Nacht. Ich sage euch: ‹die Nacht ist heller als der Tag.›» Andreas Walser hat geschrieben, gezeichnet und gemalt in der Schlaflosigkeit der Grossstadt Paris um 1930. Zwischen Euphorie und Todessehnsucht entsteht ein umfangreiches, eigenständiges Werk. Dieser jung verstorbene Mensch scheint zu sensibel gewesen zu sein, um in der Welt zu bestehen. Drogenexzesse, innere Zerrissenheit und die Zwienatur der Talente waren die tödliche Mischung dieses kurzen Lebens. Einfühlsam wird in dieser Monographie nicht bloss die rasante künstlerische Entwicklung gezeigt, sondern auch die überschäumende Freude und das abgrundtiefe Unglück, die die verletzliche Seele des jungen Künstlers schüttelten. «Ich glaubte das leben zu träumen – ich verlor mich in unmöglichen träumereien» schreibt Walser angeregt von geplanten Übersetzungsarbeiten. Die Nacht, der Ort des Traumes war das Refugium, wohin er sich, überreizt von der Welt, zurückzog.

Die Monographie besteht einerseits aus Walsers Biographie, anderseits wird ein Überblick über sein malerisches Werk vermittelt. Die im biographischen Teil abgebildeten, quer gelegten, sich überschneidenden Fotos vermitteln den Eindruck, als seien sie mit einem Griff aus der Photokiste hervorgezogen worden. Die Bilder sind sorgfältig ausgeleuchtet, manche Photos mit Abbildungen von Walsers Handschriften unterlegt, von weiteren Photos überlagert. Walsers malerisches Werk, geprägt vom Aufenthalt in den Pariser Künstlerkreisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, spiegelt die kubistischen und surrealistischen Bildexperimente wider. Seine Bilder erinnern an Matisse, de Chirico, Braque, Léger und an Picasso, der einer seiner Förderer war. Notizen, Bilder, Photos und Skizzen sind Zeichen seiner intensiven Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Einflüssen, seiner Suche nach dem idealen Medium, nach dem eigenen Stil, der sich jedoch kaum herauskristallisiert. Diesen Mangel kompensiert Walser in einer geglückten dandyhaften Selbststilisierung im Schatten von Cocteau und den opiumgedrogten «garçons de Paris». Halb Biographie, halb Kunstbuch in opulenter Qualität mit raffiniertem Layout; informativ und schlicht ergreifend.

vorgestellt von Christine E. Kohli, Bern

Heinz Bütler & Wolfgang Frei (Hrsg.): «Die Nacht ist heller als der Tag. Das kurze Leben des Malers Andreas Walser.» Bern: Benteli, 2007.

Das einfachste ist das richtige Wort

Das Problem des Äthers ist keines unserer Gegenwart. Von den Griechen als «quintia essentia», als fünftes Element betrachtet, hat sich der Äther quer durch abendländische Geistes- und Naturgeschichte gewissermassen verflüchtigt. Über den Äther nachdenkend hat Einstein seine Relativitätstheorie gewonnen und damit exakt diesen Äther endgültig abgeschafft. In seiner Poetikvorlesung «Im Äther / In the Ether» für das Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge/Mass. zeichnet der Schriftsteller Perikles Monioudis eine kurze Geschichte des Äthers nach, an deren jüngstem Ende vielleicht so etwas wie eine Renaissance möglich wird. In der Quantenphysik taucht der Begriff neuerdings als «Leerstelle im neuen Konzept» wieder auf. «Neuer Raum, Vakuum, Leerstelle – der Äther hatte in physikalischen Zusammenhängen stets dann seinen Auftritt, wenn ein Mangel benannt und dieser damit verdeckt oder vorübergehend verdeckt werden sollte.»

Dieses Defizit rührt an eine andere Disziplin, in der es Vakuum, Leerräume gibt, ohne dass sie recht benannt werden könnten: die Poesie. Monioudis, der Autor und zugleich «Hochgeschwindigkeitstelegraphist» ist – sich also zweifach Funken sprühend im Äther bewegt –, unternimmt eine poetologische Gegenüberstellung von Poesie und Wissenschaft. Er legt es dabei nicht auf das Trennende, sondern auf das insgeheim Verbindende an. «Dichtung als Kategorie der Wissensgewinnung?» – Der Äther als Fluidum zwischen harter und weicher Empirie. Dass dies nicht nur mit Leichtigkeit von der Hand geht, versteht sich. Wissenschaft wie Poesie begegnen sich an einem komplexen dritten Ort. Die Erzählfigur eines Funkers, der Gedichte schreibt und die meiste Zeit auf hoher See verbringt, hilft den Kasus zu erahnen. Musterbeispiele aus der griechischen Lyrik veranschaulichen, worum es Monioudis geht, etwa ein Haiku von Dimitrios Antoniou: «Kam von Ferne her / Abschied genommen, nehme / ich meinen Abschied.»

Der Funker alias Monioudis horcht die Resonanzfrequenz ab, testet die feinen Isolatoren, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass Wörter wie Funksignale funktionieren. Beim Funken gelte «das Gebot der kleinsten Leistung», um Strom zu sparen – vordergründig. Ähnliches geschieht in der Poesie: «Das Wort, das alle anderen Wörter in der Zeile speiste, durfte vom Sender, den der Funker wieder als die Aussage der Gedichtzeile begriff, nur mit der nötigen Leistung versorgt werden – keinesfalls stärker.» Das einfachste ist das richtige Wort. Dahin gelangt Monioudis in seinem Gedankengang, ohne dort freilich innezuhalten. Antworten mag der Funker nicht, nur fragen, deshalb zieht er sich wieder diskret in den Äther zurück.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

Perikles Monioudis: «Im Äther / In the Ether». Aachen: Rimbaud Verlag, 2007.

fackeln, Nepp, Nutte…

Es bedarf einiger verlegerischer Hoffnungen, einem grösseren Publikum eine Veröffentlichung über ausgestorbene Gaunersprachgepflogenheiten vorzulegen. Die Gauner gibt es immer noch, das Rotwelsch, ihre bis ins 20. Jahrhundert hinein verwendete Geheimsprache, hingegen nicht mehr. Der bekannte Sprachforscher Hansjörg Roth – er ist auch Verfasser des «Jenischen Wörterbuchs» (2001) – hat in «Barthel und sein Most. Rotwelsch für Anfänger» in rund 300 Stichwortartikeln einen Überblick über die teils seltsam klingenden Begriffe gegeben, die im Rotwelschen offenbar in Gebrauch waren. Dabei sind manche Herleitungen etwas gar knapp geraten oder lassen den Leser bisweilen ratlos zurück. Was fängt man mit dem Wissen an, dass beispielsweise das schöne Wort «Manischtanne» um 1820 die Bedeutung «Vertrauter der Gauner» hatte und sich vom «ma nischtannà» (hebr. «Was unterscheidet?»), einem Ritualspruch zum Pessachfest, herleitet? Meistens bleibt auch unklar, wann genau die jeweiligen Wörter zwischen dem 14. und dem 20. Jahrhundert in Gebrauch waren. Die meisten Ausdrücke stammen ohne grosse Umwege aus dem Jiddisch/Hebräischen oder dem Deutschen. Gerne würde man dabei erfahren, auf welchen Wegen Begriffe wie «Polente» oder «fackeln» über das Rotwelsche in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen sind und gerne würde man mögliche Bedeutungswechsel oder Verwendungen von Begriffen wie «Nepp» oder «Nutte» ausführlicher dargestellt bekommen. 

Für ein etymologisches Fachwerk ist das Buch zu knapp geraten, und dem sprachinteressierten Laien bietet es zu wenig Bezug zur heutigen Sprachwelt. Was tun mit diesem durchwegs liebevoll und kenntnisreich geschriebenen 120seitigen Büchlein? Etwas gesucht glaubt der Verlag, der das Buch beim Autor in Auftrag gab, die Herausgabe zu rechtfertigen, indem er vorschlägt, nun könne man «einmal so reden, dass man nicht gleich verstanden werde». Mit Verlaub: das ist wohl kaum das Hauptproblem in unserer schnellkommunikativen Ära von Balkanslang, SMS-Codes und Babelfish. Im Nachwort, das in angenehm skeptischem Ton gehalten ist, bezweifelt der Autor denn auch selbst den Nutzwert seines Buches. Der Rezensent hat hier leider auch keinen Ausweg zu bieten.

vorgestellt von Duke Seidmann, Zumikon 

Hansjörg Roth: «Barthel und sein Most. Rotwelsch für Anfänger». Frauenfeld: Huber, 2007.

This is your Captain speaking…

Es geht um die Badersdorfer, um die Menschen wie das Dorf. Adrian Naef schafft mit dem Roman «Die Rechenmachers» das Porträt einer Zeit, die kurz nach dem Krieg einsetzt und bis in die Sechzigerjahre reicht. Badersdorf liegt zwischen den beiden grossen Schweizer Flughäfen, zwischen Dübendorf und Kloten, und ist schon bald als Wallisellen zu erkennen – nicht nur weil der 1948 geborene Autor dort aufgewachsen ist.

«Mein Grossvater war ein strenger, zu Jähzorn neigender Viehzüchter, Bauer und Rechenmacher.» Mit diesem Satz beginnt nicht nur der Roman und erklärt schon zu Anfang den Titel, auch setzt Naef – neben dem Ich-Erzähler – gleich die wichtigste Figur in Szene. Ein Patriarch und Familienoberhaupt von altem Schrot und Korn, oder mit anderen Worten: «Wenn in einer Generation eine Gabel auf einen Rechen folgt, wie man bei uns sagt, dann war Grossvater ein Rechen, das heisst, einer der zusammenträgt und aufbaut und das Übernommene nicht verzettet.» Der Leser wird in einen kleinbäuerlichen Familienbetrieb eingeführt, in dem jeder arbeitet, was er kann; für Gross und Klein gilt gleichermassen: «Früe uf und schpat nider, friss gschwind und schpring wider.» Zu den Höhepunkten des Jahres gehörte nebst Weihnachten vor allem die Fasnacht – «schlicht der Ausdruck für den Sinn des Lebens».

Adrian Naef gelingt es mit stupender Leichtigkeit, eine Zeit wiederaufleben zu lassen, die zumindest in Teilen schon dem Vergessen anheim gefallen ist, die aber so lange noch nicht zurückliegt. Eine Epoche, in der Englisch «so unverständlich wie das Evangelium» war, die Jugend jedoch – und mit ihr der Ich-Erzähler – noch unterwegs war in eine «noch intakte» Zukunft. Es gab Bauern und Arbeiter, die dazugehörigen Parteien, dazwischen nichts. Mit einer Ausnahme: «Denn es war die Epoche der Lehrer. Die Schriftsteller waren Lehrer, die Kabarettisten und Filmemacher waren Lehrer, Liedermacher waren Lehrer, die neuen Strassenzirkusse der Stadt wurden von Lehrern betrieben, die im Clownkurs in Paris oder im Tessin gerade Jonglieren gelernt hatten.» Die Konsequenz: «Schuld hatte stets das Kind, nicht der Lehrer, man sah es noch nicht umgekehrt.»

Dem Autor allerdings geht es nicht nur um die Beschreibung dieser «heilen Welt» von damals, es geht ihm insbesondere auch um den Übergang, den wirtschaftlichen Aufschwung, als die Bauern Land und Kühe zu verkaufen begannen, das erste Freibad in Badersdorf eröffnet wurde und jedes Mädchen Hostesse und jeder Junge Pilot bei der Swissair werden wollte: «This is your Captain speaking, sprachen wir zur Welt. Und Badersdorf lag gleich nebenan.» Geschickt spiegelt Naef die übersichtliche Welt des Grossvaters an jenem sich öffnenden Kosmos des erzählenden Enkels, der die Stadt Zürich für sich entdeckt, die wichtigsten Gitarrengriffe erlernt und erst der «Lustseuche» Rock and Roll, dann Jack Kerouac und Boris Vian verfällt.

So sehr «Die Rechenmachers» ein Buch der Erinnerungen ist, die Anekdoten und Geschichten des Romans weisen doch immer in unsere Gegenwart. Oder anders gesagt: Naef erhellt diese unsere Gegenwart auf unerhört präzise Weise, auch weil er sich nicht scheut, die Verluste beim Namen zu nennen, sei es der Tod des Sechstagerennens, oder sei es allgemeiner das Wegfallen von Verbindlichkeiten – zum Beispiel der unentbehrliche Schwatz beim Dorfcoiffeur. Zusammengefasst: «Mit dem Verlust, zur richtigen Zeit nicht das Richtige bekommen zu haben, geht man durchs Leben.» Gleichwohl ist Naef weit davon entfernt, eine Moral der Geschichte zu suchen, vielmehr zeichnet sich dieser Roman durch feinste Zwischentöne aus, Ernsthaftigkeit und Heiterkeit gehen Hand in Hand, und so paart sich beim Leser Nachdenken und Schmunzeln auf wunderbare Weise.

vorgestellt von Markus Bundi, Baden

Adrian Naef: «Die Rechenmachers». Eggingen: Edition Isele, 2006.

Aus Liebe zum Thurgau

Der 61jährige Lyriker und Prosaschriftsteller Jochen Kelter, in Köln geboren, lebt schon seit 1969 auf der Schweizer Seite des Bodensees. In seinem schönen Essay-Bändchen «Ein Vorort zur Welt» hat er nun dreizehn aus ganz unterschiedlichen Anlässen entstandene «Texte» aus über 25 Jahren zusammengestellt. Derartigen Textsammlungen darf durchaus mit einer gewissen Skepsis begegnet werden, mit einem gewissen Anfangsverdacht – zu oft schon hat man sogenannte «Buchbindersynthesen» zur Kenntnis nehmen müssen, mit wenig Liebe oder Sorgfalt aneinandergereihte Gelegenheitsarbeiten ohne erkennbare Struktur und von meist nur geringem Nutzen. Das ist hier gottlob nicht der Fall.

Mit dem Thema «Heimat» hat sich Jochen Kelter beschäftigt, seit der deutsche Staat seine Universitätslaufbahn unter Hinweis auf die nicht ausreichende Verfassungstreue des Konstanzer Dozenten beendet hat. Als schreibender Bewohner einer Grenzregion sieht er «Heimat» als eine fiktive, von keiner Staatlichkeit erreichbare Zone an, als etwas, das sich jeder je nach seinen Bedürfnissen selber schafft. Seine Reflexionen über das Leben im thurgauischen Tägerwilen, in Konstanz und am Bodensee, ja im gesamten alemannischen Raum scheinen aus der Sicht eines liebenden Exilierten geschrieben zu sein. «Und so lebe ich, ohne es mir am Anfang eingestanden haben zu wollen, im Exil. In der Diaspora. In der Provinz. Diesseits und jenseits der Grenze», heisst es in der schönen, traurigen und bisweilen ein wenig larmoyanten Reflexion «Vom allmählichen Verschwinden der Gegend», die die globalisierte Gegenwart als eine «Wanderung der Seelen ins Nichts» begreift. Doch da ist das Dorf, in dem man daheim ist, auch wenn die Autobahnen und Gewerbegebiete immer mehr Land fressen – ein Ort, an dem das «Gerede von der Welt als globalem Dorf» definitiv zu dem wird, was es ist: pseudomoderner Unsinn nämlich. Und es ist auch der Ort der Kunst und der Literatur, die «allein», wie der reflektierte, politisch hellwache Neoromantiker Kelter emphatisch betont, «die Utopie einer lebenswerten, menschlichen Instinkten und Atavismen überlegenen Welt» aufrechtzuerhalten vermögen.

Wie das gehen kann, beweist der Autor gleich selbst, insbesondere in «Wiesen und Wasser, Wolken und Wind», einer zärtlichen Liebeserklärung an den Thurgau, und in «Von draussen und von drinnen», einer auch der sprachlichen Geborgenheit oder Fremdheit zwischen Schweizer- und Deutschdeutsch nachgehenden Liebeserklärung an die Schweiz – seine ganz eigene, selbstgeschaffene Schweiz wohlgemerkt: «Wer fragte da noch nach Pässen». Einige der hier versammelten Essays widmen sich intensiv dem Selbstverständnis und den politischen heiligen Kühen der Schweiz, und sie kommen alle zu dem Ergebnis, dass die mit der «Fichen-Affäre» einsetzende Modernisierung der Gesellschaft das Klima im Lande eindeutig zum besseren verändert habe. Kaum etwas sei übrig von der «Feudaldemokratie» oder der «Modergesellschaft» von einst: «Es atmet sich freier und leichter im Land», heisst es in einem Essay mit dem sprechenden Titel «Die bleiernen Jahre sind verflogen». Ein ganz normales mitteleuropäisches Land sei die Schweiz, «mit ausgeprägten Eigenheiten, … die sie hoffentlich behalten wird». Selbst die Literaten müssten sich nicht mehr dauernd mit ihrem Land beschäftigen, und so scheine die heutige Schweizer Literatur zwischen «Weltläufigkeit und überschaubarem Ort» beständig zu schwanken. Das scheint auch für Kelters «Ein Vorort zur Welt» zu gelten. Auch deshalb ist der Autor, dieser fremde und zugleich regional gebundene, durch und durch eigensinnige poetische Grenzgänger zwischen Ländern und Sprachen, am Ende doch ein Schweizer Dichter. Oder besser gesagt: in gewissem Sinne auch ein Schweizer Dichter.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Jochen Kelter: «Ein Vorort zur Welt. Leben mit Grenzen». Frauenfeld: Waldgut, 2007.

Ärztealltag, Mühsal, Leid

Erich Sutters Roman «Irminger, Chirurgus» ist in zweifacher Hinsicht ein Erstling. Er ist das erste literarische Werk des in Fällanden wohnenden Autors und er ist der erste im Zytglogge-Verlag erschienene Ärzteroman. Wer nun bei der Bezeichnung «Ärzteroman» an romantische Liebesgeschichten voller Herzschmerz denkt, hat nur einen kleinen Teil des Buches erfasst. Denn Sutters historischer Roman führt in 20 Kapiteln das Leben von sieben Personen der Pfaffhausener Ärztefamilie Irminger vor, die im 18. Jahrhundert gelebt und ihr Geld hauptsächlich als Veterinär- oder Humanmediziner verdient haben. In ihrem Alltag findet sich wenig Romantisches, dafür um so mehr Mühsal und Leid.

Eindrücklich zeigt Sutter, wie die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten im Zürich des 18. Jahrhunderts das Leben der Ärztefamilie prägten. So kommen die Irmingers mehrfach mit dem Ehegericht in Konflikt, das über den moralisch korrekten Umgang zwischen den Geschlechtern wacht und für vorehelichen Beischlaf Geld- oder Gefängnisstrafen verhängt. Während Hans Heinrich die Busse für sein uneheliches Kind anstandslos bezahlt, flieht sein Vetter Rudolf wegen seiner Frauengeschichten nach Pommern, wird bei seiner Rückkehr aber dennoch für seine Vergehen inhaftiert. Und auch das Eheleben ist durch die ärmlichen Verhältnisse belastet und wird durch den Tod der eigenen Kinder auf die Probe gestellt. Als «Chirurgen» sind sie einem hartem Konkurrenzkampf ausgesetzt und werden – wie im Falle des zunächst als Wunderdoktor berühmten, dann als «Lachsner» oder Quacksalber verschrienen Heinrich– wegen obskuren (und vor allem erfolglosen) Behandlungsmethoden empfindlich gebüsst. Ist bereits in Friedenszeiten die Belastung der Landbevölkerung durch Steuern und Abgaben an die Stadt bzw. deren Vertreter hoch, so steigert sie sich noch in Kriegszeiten, wie das Ende von Sutters Familienroman verdeutlicht. Heinrich muss nicht nur fremde Soldaten beherbergen, sondern auch mit seiner Familie während des verworrenen Kriegsgeschehens in und um Zürich in den Jahren 1798/99 zunächst bei den Franzosen, dann bei deren Gegnern, den Russen und Österreichern, als Arzt dienen.

Die individuellen Schicksale der Irmingers zeichnet Sutter mit Hilfe von Zitaten aus historischen Akten und Dokumenten historisch getreu nach. Leider erscheinen die Figuren nicht als eigenständige Charaktere, da sie trotz der gewählten Ich-Form, in der sie über ihre Erlebnisse berichten, im gleichen Sprachstil reden. Die thematische Vielfalt des Romans zeugt von jahrelangen gründlichen Recherchen zum Ärztewesen und zum Lebensalltag des 18. Jahrhunderts, die der ehemalige Lehrer Sutter – bisweilen in der Absicht, heute kaum mehr verständliche Begriffe zu erklären – etwas sehr pedantisch ausbreitet. Dessenungeachtet sind es gerade die detailgenauen Schilderungen der Zustände des Ancien Régime, die das Buch so lesenswert machen.

vorgestellt von Jesko Reiling, Bern

Erich Sutter: «Irminger, Chirurgus. Roman einer Ärztefamilie (1769–99)». Zürich: Zytglogge 2007.

Aus Versehn in Versen

«Aus Versehn in Versen» verfasste Gedichte sind nie ganz aus Versehn entstanden. Soviel lässt sich mit Bestimmtheit zum neusten Gedichtband von Felix Philipp Ingold sagen. Der fast gleiche Klang von «Versehn» und den «Versen» unterbricht den geläufigen Sinn der beiden Wörter. Wenn man etwas «aus Versehn» tut, so versieht man sich, man tut etwas unabsichtlich. Die Frage ist dann, wer es tut, das heisst wer «aus Versehn in Versen» schreibt, wer sich derart in der Sprache versieht, dass er etwa die scheinbar zufällige, lautliche Nähe der beiden Wörter ernst nimmt, derart ernst, dass neue, unerwartete und unerhörte Beziehungen zwischen ihnen entstehen können. Dieses Versehn hat Methode. Es lässt Schichten der Sprache zu Worte kommen, die nicht der botmässigen Intelligenz unterstellt sind.

In einem solchen spielerischen Ernst gilt dann Sprache nur noch auf Zeit. Sie kündigt ihre Fron auf, zeitlose Bedeutungen unverändert transportieren zu müssen. «Aus Versehn» geschriebene Verse bilden «Gedichte auf Zeit» in dem Sinne, dass sie auf Zeit geschrieben sind, so wie die gedruckte Schrift auf weissem Papier erscheint. «Die Frage ist (wie jede Farbe) weiss.» Die Gedichte von Ingold erscheinen auf einem solchen stummen Hintergrund von Fragen, der weiss (ist). Wissen ist dadurch angesagt, aber keines, das begrifflich fassbar wäre. Es handelt sich eher um ein Ahnen, dessen Inhalte sich blitzartig in Anagrammen, Kalauern, Paronomasien sowie in der bildhaften Anordnung von Gedichten zeigen.

Lesen heisst dann nicht, den durch die Sprache scheinbar für immer geregelten Sinn der einzelnen Wörter nacheinander in deren chronologischen Abfolge als einen ihnen zukommenden sicheren Wert einzulösen. Es besteht vielmehr in der überraschenden Erfahrung, dass sich beim laut Lesen über den Klang eine eigene Form von Zeitlichkeit, von Beziehungen zwischen Wörtern und Klängen ausbildet, die konzentrisch, vertikal, spiralförmig sein kann. Ingolds «Gedichte auf Zeit» lassen Zeit entstehen «bis alle Zeit in Zeltform steht und gilt im Nu». Also bildet diese «Sprachzeit» kein festgefügtes Gebäude, sondern ein mobiles Zelt, in dem Klang und Sinn sich gegenseitig bedingen, wobei oft dem Klang die Rolle zukommt, den Sinn zu leiten.

So entsteht die Frage, ob dieses vorerst sinnferne «Lauschen, ein ‹wie Wissen› sei». Eine Art von Wissen bildet sich beim aufmerksamen Lauschen auf die sprachlichen Klänge der Wörter – ein Lauschen, das aber nicht zum vornherein weiss, auf was es achten soll; denn «auf Schlichen kommt / was plötzlich ähnelt und gehört». Erst wenn man – aber wer? – eine völlig neue Beziehung zwischen verschiedenen Wörtern gehört hat, geht dieses andere, nichtbegriffliche Wissen auf. Ihm auf die Schliche zu kommen, ist oft eine freudige und beglückende Erfahrung, die der Leser jeweils «aus Versehn» macht und dadurch diesen «Versen auf Zeit» zu ihrem Recht verhilft.

vorgestellt von Marco Baschera, Zürich

Felix Philipp Ingold: «Tagesform. Gedichte auf Zeit». Graz: Droschl, 2007.

Letteratura, Littérature, Literatur

Für Leser, denen die Literatur der Schweiz nahe steht, ist «Viceversa» ein Glücksfall: Chronik, Lesebuch, Porträtsammlung und Bestandesaufnahme in einem. Aus dem Westschweizer Literatur-Almanach «Feuxcroisés» hervorgegangen, erscheint das «Jahrbuch der Literaturen der Schweiz» jetzt in drei Sprachen und ebenso vielen Versionen. Es verfolgt das erklärte Ziel, den literarischen Austausch zu fördern, also deutschsprachigen Lesern die französisch-, italienisch- und romanischsprachigen Autoren näher zu bringen, parallel zu den anderen Ausgaben von «Viceversa», die dasselbe mit den jeweils anderssprachigen Schriftstellern tun. In diesen anderen Versionen– und im Internet auf www.culturactif.ch – sind die Porträts von und Interviews mit Deutschschweizer Autoren zu finden. Die Sprache Europas ist die Übersetzung: das gilt auch und seit je für die Schweiz. Darum ist in «Viceversa 1» ein Kapitel dem Übersetzen gewidmet. Hier kommt zum Beispiel Gerda Scheffel zu Wort, die Übersetzerin eines berühmten «französischen» Autors, Robert Pinget. Auch zum Thema Literaturlesungen und Hörtexte oder zu den jungen Lyrikern des Tessins enthält dieses Buch vertiefte Beiträge. Dankbar ist man für den Überblick über das literarische Leben des vergangenen Jahrs. Er beweist den Reichtum der Literaturen der Schweiz und erlaubt, mit Wehmut, das Versäumte wenigstens teilweise nachzuholen.

vorgestellt von Gérald Froidevaux, Basel

Service de Presse Suisse (Hrsg). «Viceversa Literatur 1. Jahrbuch der Literaturen der Schweiz». Zürich: Limmat Verlag, 2007. (Die französische bzw. italienische Ausgabe erscheint bei Editions d’En bas, Lausanne, bzw. Edizioni Casagrande, Bellinzona.)

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