Schweizer Literatur in Kurzkritik
Es ist immer wieder zu hören, die deutschsprachige Literatur der Schweiz könne international nicht mithalten, sei uninteressant und kraftlos, hätte weder Pfiff noch Esprit, sei bestenfalls gediegen, meist jedoch belangloses Mittelmass, manches zwar nett zu lesen, das meiste jedoch schnell wieder vergessen. Wir baten daher unsere Autorinnen und Autoren, in einem kurzen Text ihren Eindruck beim Lesen der Neupublikationen festzuhalten.
Es schreiben:
Rüdiger Görner über Elisabeth Binder, «Orfeo»
Gunther Nickel über Pascal Mercier, «Lea»
Thomas Sprecher über Corina Caduff, «Land in Aufruhr»
Ludger Lütkehaus über Martin Dehli, «Leben in Konflikt» und «Bloch. Eine Bildmonographie»
Gerald Funk über Charles Lewinsky, «Johannistag»
Christoph Simon über Rudolf Bussmann, «Das 25-Stundenbuch»
Rainer Diederichs über Martin Ebel (Hrsg.), «Nackt gebadet, gejauchzt bis zwölf»
Carola Jungwirth über Martin Suter, «Unter Freunden und andere Geschichten aus der Business Class»
Jens Nicklas über «CINEMA, unabhängige Schweizer Filmzeitschrift»
Dietrich Seybold über Aurel Schmidt, «Gehen. Der glücklichste Mensch auf Erden»
Hartmut Vollmer über Pierre Chiquet, «Kleopatrafalter»
Beat Mazenauer über Sandra Hughes, «Lee Gustavo»
Georg Deggerich über Ralph Dutli, «Nichts als Wunder»
Klaus Hübner über Gianni Kuhn, «Amor als Sieger»
Sabine Kuhlenkampff über Urs Mannhart, «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola»
Markus Bundi über Daniel Goetsch, «Ben Kader»
Jeroen Dewulf über Yusuf Yesilöz, «Lied aus der Ferne»
Joachim Feldmann über Ernst Solèr, «Staub im Wasser»
Christof Wamister über Richard Reich, «Codewort Laudinella. Ein Hotelroman»
Irene Ferchl über Gabrielle Alioth, «Der prüfende Blick. Roman über Angelica Kauffmann»
Stefana Sabin über Wilfried Meichtry, «Verliebte Feinde. Iris und Peter von Roten»
Patricia Klobusiczky über Friederike Kretzen, «Weisses Album»
Marcus Jensen über Peter von Matt, «Der Entflammte. Über Elias Canetti»
Christine Holliger über Jürg Schubiger (Text) und Eva Muggenthaler (Illustration), «Der weisse Bär und der schwarze Bär»
Duke Seidmann über Karl Lüönd, «Verleger sein»
Anett Lütteken über Charles Linsmayer, «Schlaglichter. 200 weltliterarische Kürzestporträts»
Friedbert Stohner über Jürg Federspiel, Petra Rappo, «Mike O’Hara und die Alligatoren von New York»
Michael Braun über Hans Thill (Hrsg.), «Das verborgene Licht der Jahreszeiten. Gedichte aus der Schweiz»
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Weitere Kurzkritiken folgen in den kommenden Ausgaben.
Geständnis eines vom Liebespfeil getroffenen Rezensenten
Dass einem das widerfahren kann: sich in ein Buch, seinen Rhythmus, seine zarte Sprache regelrecht zu verlieben. Ungehörig für jemanden, der sich anschickte, ein kritisches Wort über diese «Orfeo» betitelte Prosakomposition zu schreiben, die klingt, als handle es sich um ein in Prosa aufgelöstes Libretto für leise, gedämpfte Stimmen.
Entweder lieben oder kritisieren oder aus Liebe kritisieren oder durch Kritik einen Liebesbeweis leisten: Wo käme man denn dahin, wenn ein Kunstrichter damals, als Tracey Emin in der Londoner Tate ein ungemachtes Bett ausstellte, sich einfach in dasselbe gelegt und sich darin wohl gefühlt hätte, wohlig darin eingeschlafen wäre und einen erotischen Traum geträumt hätte? Nicht auszudenken, wenn sich ein Musikkritiker bei einem neuen Stück von, sagen wir, Arvo Pärt, John Tavener oder Philip Glass wie in Trance wiegte und gleichsam in Klanghypnose verfiele.
Da bespricht man über ein Vierteljahrhundert Bücher, hält seinen kritischen Blick für recht geübt und dann greift man nach einem Buch, Orfeo betitelt, mit einem Schutzumschlag, der Venedig in Grau zeigt; die Laternen zartrosa; der Einband blütenweiss, Unbeflecktheit vortäuschend, gewiss, da kann schon so manches geschehen, aber dann das, dass man geständig wird. Der erste Satz dieser Prosa hatte ja noch nichts Spektakuläres an sich: «Nun lag auch Mailand schon hinter ihm.» Auf der Zugfahrt von Zürich nach Venedig. Aber am «auch» lag es, dass ich neugierig wurde. Ich blätterte, um mir die Struktur des Textes zu vergegenwärtigen: fünf Teile, ja, ganz wie in Thomas Manns «Der Tod in Venedig». Fünf verspricht etwas Klassisches, womöglich Tragisches: ein älterer Herr auf der Suche nach seiner früheren Frau, der (noch immer) viel zu schönen Stella, die ihrerseits von einem anderen Angebeteten träumt; irgendwo im slowenischen Karst vermutet sie ihn. Der vermögende ältere Herr aus Zürich namens Hans Bauer findet seine Schöne von einst in Venedig; sie laufen nebeneinander her, machen sich auf nach Triest; auch Gustav Aschenbach wollte ja damals nach Abbazia bei Triest, konnte sich aber von Venedig nicht mehr befreien. Er war Venedig verfallen; Hans Bauer und die schöne Stella mit Hund sind der Erinnerung verfallen, dem Suchen, den Spuren. Sie hoffen auf ein neuerliches Zünden des Liebesfunkens. Aber die Wirklichkeit in Triest ist triste; der Karst keine Augenweide, der Weg zurück nach Venedig unumgänglich. Am Ende dieser Prosadichtung, denn um eine solche handelt es sich, nicht um einen Roman, leidet zwar niemand an Cholera und jedem steht der Weg offen, zurück nach Zürich oder irgendwohin, aber es bleibt bei einem letzten Blick auf das Meer, ohne Tadzio, aber auf eine Fähre, eine griechische dazu noch: «Sie fuhr sehr langsam, so dass man sie lange noch sah. Und als man sie nicht mehr sah, konnte man sich doch vorstellen, in welches Abendlicht sie hinausfuhr, in welche Bläue.» Ja, das ist ganz einfach schön. Und «Orfeo» heisst diese Prosadichtung nicht nur wegen des Mottos aus Monteverdis Oper («Was bleibt mir denn noch,/wenn du mich verlässt, süsseste Hoffnung?»), sondern weil Hans Bauers Blick in Stellas Zimmer auf eine Karte mit Coneglianos «Orpheus»-Zeichnung fällt, weil er selbst ein Orpheus sein will, der seine für ihn verlorene Eurydike sucht, aber selbst nicht wirklich zum Sänger wird.
Ja, man kann sich in diese zarte Prosa verlieben, in dieses Gewebe aus Vertrautem und Ungeahntem, aus leisester Tod-in-Venedig-Parodie und genuiner Darstellung einer späten, aber nie zu späten Sehnsucht. Oder wie es das Liebesgedicht Heines nahelegt («Im wunderschönen Monat Mai»): es kommt darauf an, sich und dem anderen seine Sehnsucht und sein Verlangen einzugestehen, sich zu seinen Gefühlen zu bekennen und die poetischen Bilder fliessen zu lassen. Die Prosa dieser Autorin ist selbst wie eine Gondel, in der wir auf dem Canal Grande wahrer Empfindungen gleiten können.
besprochen von Rüdiger Görner, London
Elisabeth Binder: «Orfeo». Stuttgart: Klett-Cotta, 2007.
Ungezügelte Sentimentalität – Schade!
Was ist literarischer Kitsch? Man bezeichne damit Texte, so erklärte es der Germanist Helmut Kreuzer, die von den «dominierenden Geschmacksträgern» einer Zeit «ästhetisch diskriminiert werden». Folgen wir dieser Bestimmung, dann ist «Lea», das neue Buch von Pascal Mercier, zweifellos kitschig. Denn führende Geschmacksträger der Gegenwart haben vor ihm bereits gewarnt. Sogar Elke Heidenreich, die sonst immer nur Empfehlungen abgibt, riet von einer Lektüre ab.
Solche Reaktionen waren vorauszusehen. Warum? Weil Pascal Mercier getan hat, was man als Autor, der literarisch ernstgenommen werden will, einfach nicht tun darf: er hat mit «Perlmanns Schweigen», «Der Klavierstimmer» und «Nachtzug nach Lissabon» gleich drei Romane geschrieben, die von der Literaturkritik wenig beachtet und trotzdem alle sehr erfolgreich wurden. «Nachtzug nach Lissabon» verkaufte sich innerhalb von drei Jahren über 1,5 millionenmal, viel häufiger als Daniel Kehlmanns Bestseller «Die Vermessung der Welt». Nichts kränkt professionelle «Anwälte der Literatur» mehr, als wenn so etwas ganz ohne ihr Zutun geschieht. Deshalb erklären sie in diesem Fall nicht, warum diese Bücher soviel Zuspruch finden konnten. Sie geisseln vielmehr den Erfolg als Geschmacksverirrung des Publikums. Aber ist es wirklich eine?
Man muss, um diese Frage gerecht zu beantworten, ein bisschen ausholen. Pascal Mercier heisst im bürgerlichen Leben Peter Bieri. Er ist Professor für Philosophie in Berlin und hat ein philosophisches Sachbuch über «Das Handwerk der Freiheit» geschrieben, das im Gegensatz zu den Büchern der meisten seiner Fachkollegen ein Kassenschlager war. Darin widerspricht er vieldiskutierten Thesen von Hirnforschern wie Wolf Singer und Gerhard Roth, die meinen, alle menschlichen Willensakte seien vollständig neuronal determiniert. Bieri hält dagegen daran fest: «Was wir tatsächlich tun, ist nicht das einzige, was wir tun können. Es liegt an uns, welche der verschiedenen Möglichkeiten wir verwirklichen, und das heisst: Es liegt daran, was wir wollen.» Was der Philosoph Bieri theoretisch entwickelt und anschaulich begründet, zeigt der Romancier Mercier an Fallbeispielen. In «Perlmanns Schweigen», seinem besten Roman, demonstriert er, mit welcher nahezu unausweichlich erscheinenden Folgerichtigkeit ein Gelehrter zu einem Mörder an einem Kollegen werden kann, es aber doch nicht zwangsläufig werden muss. Angereichert mit Reflexionen über den Zusammenhang von Sprache, Gedächtnis und Erinnerung, erschöpft sich dieses Buch also nicht darin, ein atemraubend spannender Thriller zu sein. Und auch die beiden Romane, die auf «Perlmanns Schweigen» folgten, kombinieren eine spannende Geschichte mit nicht minder spannenden philosophischen Fragen. Was hat Mercier vor diesem Hintergrund mit seinem neuen Buch im Sinn gehabt?
Protagonist ist der Wissenschafter Martijn van Vliet. Er hat seine Frau bei einem Unfall verloren und lebt seitdem mit seiner Tochter Lea allein. Lea hat den Verlust ihrer Mutter nicht verkraftet und erwacht erst zu neuem Leben, als sie eine Strassenmusikerin Bachs Partita in E-Dur spielen hört. Sie will daraufhin selbst das Geigenspiel erlernen, zeigt sich ungewöhnlich begabt und wird schliesslich ein Star. Den Verlust der Mutter vergisst sie darüber zeitweise, kann ihn aber nie restlos kompensieren. Die gewonnene und mühsam behauptete Identität bleibt fragil. Ihr hebräischer Name, der soviel bedeutet wie «die sich vergeblich Bemühende», ist daher sprechend gewählt. Am Ende landet Lea in der Psychiatrie.
Gelangt Lea jemals an einen Punkt, an dem sie verantwortlich für ihr Leben eine Entscheidung hätte treffen können? Und ist nicht auch ihr Vater ein von den Umständen Getriebener? Mit den Fragen, die diese Novelle aufwirft, wirkt sie beinahe wie ein Dementi der vom Philosophen Peter Bieri vehement verteidigten Willensfreiheit. Aber sie ist kein Dementi. Denn bei näherem Hinsehen zeigt es sich, dass es einen schmalen Grat gibt, der Lea und ihren Vater trennt. Wie schon der Titelheld in «Perlmanns Schweigen», muss Martijn van Vliet nicht handeln, wie er handelt. Bei seiner Tochter fragt man sich dagegen unablässig, ob es für sie überhaupt Alternativen geben könnte. Diesen Unterschied sinnfällig zu machen, ist offensichtlich die Idee, die der Novelle zugrunde liegt. Wie hat Mercier sie ausgeführt?
Er scheut diesmal, anders als in seinen bisherigen Romanen, weder Pathos noch Empfindsamkeit und geht dabei sehr weit. Dann zum Beispiel, wenn von einer «kochenden Lava der Gefühle» die Rede ist oder wenn Leas Geigenspiel eine «heilige Messe der gestrichnen Töne» genannt wird. Diese plakative Bildlichkeit paart sich noch dazu mit abgegriffenen Metaphern, etwa jener von der allseits bekannten Faust, die aufs Auge passt. Das häufige Weinen und Schluchzen kombiniert mit dem Sujet des tragisch scheiternden musikalischen Genies erinnert schliesslich sehr an triviale Genres. Und Mercier gelingt es leider nicht, den unter anderem dadurch geweckten Eindruck einer ungebändigten Rührseligkeit wieder zu relativieren. So hadert man am Ende mit einer durchaus komplexen Geschichte, bei der es der Autor nicht vermochte, eine deutliche Tendenz zur Sentimentalität besser zu zügeln.
besprochen von Gunter Nickel, Darmstadt
Pascal Mercier: «Lea». München: Hanser, 2007.
Lesen oder Sex?: das Büchlein fürs Bett
Am besten liest man dieses Büchlein im Bett. Es lastet nicht auf den Rippen und verschlägt nicht den Atem vor revolutionärer Inbrunst. Der Titel, der nach politischer Gärung und Krawall tönt, ist einem der versammelten Texte entnommen, liegt dem Buch aber so eng an wie «Velofahren in China». Hingegen sitzt der Untertitel «Die Künste und ihre Schauplätze». Siebzehn kurze Essays handeln von Ästhetischem, Alltagspragmatischem und Lebensphilosophischem, von Sprache, Musik, Literatur, Kunst, Zeit und Raum. Es geht ? eben gerade auch ? um das Lesen im Bett, um neugierig-gewagte Gänge in die Welt der Naturwissenschaft, des Urknalls und der Bankschalterhallen, um Spiegel, den autobiographischen Pakt oder die iPods. Es ist das Privileg von Essays, sich über alles und jedes zu äussern. Sie dürfen das Grosse und das Kleine zusammenbringen, das Naheliegende und das Entlegene; und gut gemacht wie hier, stellt sich dieses Zusammenbringen nicht nur als vollkommen natürlich dar, es verändert auch den Blick, und was nun nah ist und was entlegen, steht nach der Lektüre stark in Frage.
Ein Teil der Texte ging schon ein in Zeitungskolumnen. Kolumnen gehören je nachdem, das heisst je nach Autorin und Autor, zu den erfreulichsten oder den überflüssigsten und ärgerlichsten Spalten. Diese hätte ich mir gefallen lassen. Sie bedienen sich eines angenehm jargonlosen, manchmal umgangssprachlichen Stils und bieten ihre Substanz fast unauffällig in musikalisch-einfachen Sätzen. Nicht immer scheuen sie das Triviale ? aber warum sollten sie auch? Freundlich nickt man den Heiligen Freud, Foucault und Lacan zu, deren Säulen das Flanieren von Versuch zu Versuch da und dort beleben und erheitern.
Der Essay über das Lesen im Bett empfiehlt, vor dem Einschlafen zwischen Lesen oder Sex zu entscheiden. Das ist gefahrlos getan, denn zwischendurch wird wohl in allen Schlafzimmern ganz ohne Aufruhr die Wahl auf den Griff zu Büchern fallen; dann aber, wie gesagt, liest man am besten dieses.
besprochen von Thomas Sprecher, Zürich
Corina Caduff: «Land in Aufruhr». Basel: Lenos, 2007.
«Die alte Schweiz, mit Respekt zu nennen«
Wer emigriert schon gerne? Deswegen ist die Beziehung von Emigranten zum Land ihres Exils meistens ambivalent.
Ohnehin tut es niemand freiwillig. Drastische Beispiele haben untern anderem die beiden Häupter der «Kritischen Theorie», Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, geliefert. Noch während sie mit dem emigrierten «Institut für Sozialforschung» in den Vereinigten Staaten generöse Aufnahme finden, notieren sie ihre «Minima Moralia», die nur wenig Gutes an ihrem Exilland finden. Es gibt eine Exilanten-Tradition der Undankbarkeit.
Auch die Schweiz als Exilland ist davon betroffen. Da mag es dem verwundeten patriotischen Gemüt etwas Linderung verschaffen, wenn es in zwei gerade erschienenen Publikationen just von Autoren aus dem Umkreis der exilkritischen Theorie auf eine Tradition der Dankbarkeit stösst: in Martin Dehlis Biographie Alexander Mitscherlichs, des Neubegründers der Nachkriegspsychoanalyse in Deutschland, und in der grossen Bildmonographie Ernst Blochs.
Mitscherlichs Erfahrung war die eines zeitlich begrenzten, eher zufälligen Exils. Im März 1937 befand er sich gerade in Zürich, als in seiner Wohnung in Freiburg im Breisgau, seinem Studienort, die Gestapo erschien, um Mitscherlich als Mitglied des Kreises um die Zeitschrift «Widerstand» und ihren Spiritus rector, den Nationalrevolutionär Ernst Niekisch, zu verhaften. Mitscherlich entging vorerst der Verhaftung. Er schrieb sich an der Zürcher Universität ein, nahm für eine Psychoanalyse Kontakt zu dem angesehenen Zürcher Daseinsanalytiker Gustav Bally auf, der 1934 in der «Neuen Zürcher Zeitung» die «Deutschstämmige Psychotherapie» C.G. Jungs scharf attackiert hatte, und fand Eingang in Zürcher Gesellschaftskreise um Emil Oprecht, den Verleger des Europa-Verlags, und den Neurologen Erich Katzenstein-Sutro. Im Rückblick sprach Mitscherlich von seinem «sanften» Zürcher Emigrantenschicksal. Die Dankbarkeitsadresse in seiner Autobiographie «Ein Leben für die Psychoanalyse» lautete: «Die Atmosphäre war dort viel friedlicher und freier als in Deutschland. Man hatte Luft zum Atmen.» Ja, man war durchaus «fröhlich» – bis Mitscherlich im Dezember 1937 den Fehler machte, heim ins Reich zu wollen. Nun wurde er tatsächlich von der Gestapo verhaftet.
Eine – später freilich zerbrochene – Tradition der Dankbarkeit auch bei Ernst Bloch, für den die Schweiz zwei Jahre lang keineswegs der U-topos, sondern der Topos des Prinzips Hoffnung wurde. Im Frühjahr 1917 emigrierte der Weltkriegsgegner Bloch zusammen mit seiner ersten Frau Else von Stritzky wie viele andere deutsche Kriegsgegner in die Schweiz. Offizieller Anlass der Ausreise war die Studie «Über einige politische Programme und Utopien in der Schweiz». Die Domizile wechselten: das Tessin, Bern, Thun, Interlaken. Die Gümlinger Villa des zum Pazifisten mutierten vormaligen Direktors der Essener Krupp-Werke Johann Wilhelm Muehlon wurde zum Treffpunkt der deutschen Emigranten. In Interlaken kam Bloch durch seinen Freund Wiedemann, den Architekten und Bürgermeister von Interlaken, an einen Stammtisch von «Entente-Freunden». Bloch schrieb engagierte Artikel für die im April 1917 gegründete, erstaunlicherweise auflagenstarke «Freie Zeitung», ein den Ideen der französischen Revolution verpflichtetes «unabhängiges Organ für demokratische Politik». Die deutschen Kriegsgegner wurden von der deutschen Botschaft in Bern überwacht. Das Dossier «Revolutionäre Propaganda der Entente in Deutschland, Schweiz…» vermerkte: «Die feindliche Propaganda aus der Schweiz hat in der letzten Zeit einen ausserordentlich grossen Umfang angenommen.» Trotzdem konnte die «Freie Zeitung» weiter erscheinen und Bloch in ihr publizieren. Mehr als 100 seiner Artikel künden davon. In einem 1967 aufgezeichneten Gespräch mit Michael Landmann äusserte Bloch seine Dankbarkeit: «…nun das Erstaunliche, was meine Freunde in Bern nicht für möglich hielten, die die Schweizer als pharisäische und geldgierige Provinzler betrachteten: diese Stammtischrunde hat mich am Leben erhalten. … Sie liessen uns umsonst wohnen, lieferten die Wäsche und luden uns immer ein. Das war die alte Schweiz, die noch geblieben ist, mit Respekt zu nennen.»
Zum Zeitpunkt des Gesprächs hatte Bloch freilich auch schon die Exil-Erfahrung einer jüngeren Schweiz gemacht. Im März 1933, nach dem Reichstagsbrand, war er mit seiner zweiten Frau Karola ein zweites Mal in die Schweiz geflohen. Man lebte zunächst in Küsnacht, dann in Zürich. Doch nun war die regelmässige Erneuerung der Toleranzbewilligung durch die eidgenössische Fremdenpolizei das Damoklesschwert, das über den Immigranten hing. Die Blochs – Karola war KPD-Mitglied – wurden überwacht, verhaftet und schliesslich im September 1934 ausgewiesen. In einem unveröffentlichten Gespräch mit Alfred A. Häsler von der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft hat Bloch die nun «Enttäuschte Liebe zur Schweiz» bilanziert. Da sprach er von jenem eigentümlichen Land, «in dem … die politisch-moralischen Ideen aussahen wie Börsenpapiere, die je nach der Kriegslage schwanken. Und so war die Stimmung, man wollte es mit den Nazis auch nicht verderben, man konnte schliesslich nicht wissen, wer siegte.» Wohin hätte man auch als Schweizer emigrieren sollen…
besprochen von Ludger Lütkehaus, Freiburg
Martin Dehli: «Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs». Göttingen: Wallstein, 2007.
«Bloch. Eine Bildmonographie», hrsg. vom Ernst-Bloch-Zentrum,
bearbeitet von Karl-Heinz Weigand. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007.
Auch keine Currywurst
Es muss nicht immer Kaviar sein, wusste schon Johannes Mario Simmel. Manchmal tut’s auch eine Currywurst. Die ist in der Welt der Feinschmecker das, was der Kriminalroman in der Literatur ist: im besten Fall eine deftige Gaumenfreude für den ansonsten äusserst verfeinerten Geschmack, ein Kitzel der Nerven, den viele literarische Gourmets ab und an durchaus geniessen. Adorno las mit Vergnügen Leo Perutz, andere bevorzugen Wilkie Collins oder Joseph Sheridan Le Fanu. Auch Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie, um das Niveau etwas abzusenken, haben ihre Liebhaber. Ein allzu grosser, über das eigene Metier hinausreichender Anspruch schadet in solchen Fällen meist. Nicht immer, das weiss ich, aber meist.
Leider kann Charles Lewinsky diesen Anspruch nicht verleugnen. Sein Roman aus der französischen Provinz will Literatur sein und Krimi zugleich. Er erzählt die Geschichte eines älteren Lehrers, der sich nach seiner vorzeitigen Pensionierung – er hatte ein Verhältnis zu einer Schülerin –, in dem kleinen Dörfchen Courtillon vergräbt. Hier scheint die Welt noch weitgehend in Ordnung und ein bisschen langweilig zu sein. Die Dinge gehen ihren geregelten Gang. Wunderbare Figuren bevölkern die Idylle: Mademoiselle Millotte, die äusserlich vertrocknet, innerlich aber sehr lebendig in ihrem Rollstuhl sitzt und die Welt um sich herum mit klugen Augen beobachtet und meist auch durchschaut, der Handwerker Jean Perrin, Saint Jean genannt, dessen praktischer Verstand alle Widerstände der Dinge überwindet, aber an den Menschen scheitert, oder Le juge, der ehemalige Richter, der hinter der Maske des Zynikers ein Moralist ist. Sie alle werden glänzend geschildert, wie auch die kleine Welt mit ihren wenigen Strassen, ihren Gärtchen und immer gleichen Ritualen, die ihre Bewohner gefangen hält, ohne dass sie sich dessen bewusst wären.
Doch die Idylle ist brüchig. Daran lässt der Autor keinen Zweifel. Wer, wie ich, selbst aus einem Dorf kommt, weiss das. Idyllen sind immer brüchig. Für diese Erkenntnis braucht es keine Gewalttaten. Die aber tischt Lewinsky auf. Mademoiselle wird erschossen, Saint Jean der Vergewaltigung angeklagt, junge Mädchen arbeiten sich an ihrem sexuellen Trauma ab, die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs und das Gespenst der Résistance sind noch lebendig und spuken durch die Köpfe. Hier wird vom Autor auf recht plakative Weise eine nur trügerisch geordnete Welt aus den Angeln gehoben, hinter der sich bürgerliche Abgründe öffnen und verdrängte Dämonen ihr Unwesen treiben, eine Welt, die am Ende aber doch den Sieg davonträgt: ihr Name lautet Provinz. Mord und Totschlag werden benutzt, um, für jeden sichtbar, auf kurze Zeit die Statik dieser scheinbar heilen Welt zu zerstören.
Das ist ein bisschen billig. Und auch die Auflösung der Rätsel und Geheimnisse ist hier eher wenig aufregend. Ausserdem kommen die wirklich Schuldigen davon. Dies mag der Realität entsprechen, ich schätze das aber nicht, und es widerspricht der Tradition des Krimis als säkularisiertem Mysterienspiel: Simulationen einer wiederherstellbaren, intakten Ordnung der Welt. Dort hat die Erlösung vom Bösen am Ende zu stehen. Wo kämen wir sonst hin? Der aber verweigert sich Lewinsky.
«Courtillon ist nur eine Geschichte, mit der ich mir die Zeit vertreibe, bis das richtige Leben weitergeht. Eine Wartezimmer-Illustrierte, etwas zum Lachen, etwas zum Weinen, vermischte Meldungen … . Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Mann beim Pilzesammeln verprügelt, Geldkurier erschossen, was man so braucht als Gesprächsstoff.» Das steht auf Seite 93. Viel mehr passiert auf den folgenden 223 Seiten auch nicht. Es ist für einen gelungenen Krimi zu wenig, für einen guten Roman aber womöglich schon zuviel.
besprochen von Gerald Funk, Marburg
Charles Lewinsky: «Johannistag». Müchen: Nagel & Kimche, 2007.
Gänsefüsschentage
«Rückblickend stören mich nur zwei Dinge. Zuviel geredet zu haben und zu schnell gegangen zu sein. Stumm stehenzubleiben wie ein Baum! Dies nicht als Ziel; nur als ein Zielen.» Was Rudolf Bussmann im 25-Stundenbuch dem Alltag, dem Verweilen abgewinnt, ist unerschöpflich. Seine Aphorismen und Bagatellen sind um Aussagen nicht verlegen, nie aber sind sie hochfahrend oder altbacken. Sie sind nichts für Schnellversteher. In einer Art Hinterbewusstsein keimen sie und gelangen zögernd ins Gebrauchsbewusstsein. Lektüre für Doppelt- und Dreifachlesende. Man wünschte sich neue Strassenschilder – man schriebe einander Postkarten und Briefe an Adressen wie Die-Reihe-unserer-Tage-sind-die-Obertöne-zu-einem-Ton-der-ohne-sie-nie-erklänge-Strasse oder an die Am-leichtesten-löst-er-Probleme-die-ihn-nichts-angehen-Gasse.
«Am unerbittlichsten hakt Chantal an den Tagen nach, die ich die Gänsefüsschentage nenne, weil sie so ereignislos verliefen wie der Vortag. Ihre Begabung, die Nichtigkeiten, beiläufigen Gespräche, wertlosen Verrichtungen als Geschichten zu hören, macht aus meinem Alltag eine unerhörte Begebenheit, und aus ihr die Dichterin zahlloser ungeschriebener Novellen.» Wenn das Geheimnis einer dauerhaften Beziehung ist, dass man Kräche miteinander und nicht gegeneinander austrägt, so ist das Geheimnis von Bussmanns Aphorismen, dass sie zum Dialog einladen. Das 25-Stundenbuch ist eine Kerze, deren Schein das Dunkel unserer Gänsefüsschentage aufreisst.
besprochen von Christoph Simon, Bern
Rudolf Bussmann: «Das 25-Stundenbuch». Frauenfeld: Waldgut, 2006.
Zürich literarisch
Zürichs literarische Topographie ist in den letzten Jahren gleich zweimal in Form von Literaturführern vermessen worden. Damit wurde nachgeholt, was Kurt Guggenheim einst behauptet hat: Wenn man auf einem Stadtplan von Zürich alle literarischen Orte mit einem Punkt bezeichnet, dann entsteht dabei eine dicht gepunktete Fläche, die sich vom Zürichhorn bis zum Platzspitz und von der Sihl bis zu den Hochschulen erstreckt. In diesem Jahr ist gar ein dritter Literaturführer eigenen Zuschnitts mit 50 literarischen Porträts erschienen, die der «Tages-Anzeiger» in der Artikelserie «Geschrieben in Zürich» von 2003 bis 2007 publiziert hat.
Die zeitliche Spannweite der Autorenporträts ist gross: von Johannes Hadlaubs Minneliedern bis zu Niklaus Meienbergs polemischer Familiengeschichte des Generals Ulrich Wille – 700 Jahre also. Das Auswahlprinzip ist einfach und überzeugend zugleich, die behandelten Autoren sollten einerseits gestorben sein, anderseits in Zürich ein Werk verfasst haben. Nach dem literarischen Auftakt des Zürcher Minnesangs im Mittelalter setzt der Band erst wieder mit Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, die Zürichs Ruf als Limmatathen mitbegründet haben. Klopstock und Goethe entdeckten den Zürichsee in hymnischen Gedichten erstmals als literarische Landschaft. Die Porträts des 19. Jahrhunderts stehen im Zeichen der Emigranten aus deutschen Landen. Zu nennen sind Büchner, Herwegh, Wagner oder Mommsen. Doch auch die Zürcher Schriftsteller C.F. Meyer, Keller und Spyri haben ihren Weg in die Weltliteratur gefunden. Im 20. Jahrhundert flüchten wieder zahlreiche Emigranten in die Limmatstadt: die Dadaisten im Ersten Weltkrieg, Tucholsky, Lasker-Schüler, Brecht, Thomas Mann und viele andere zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Schweizer Literatur ist vor allem mit Robert Walser, Zollinger, Frisch und Dürrenmatt in Zürich namhaft vertreten. Der Untertitel des Literaturführers spricht etwas vollmundig von Weltliteratur in Zürich. Gottlob ist das Buch weniger ambitiös und nimmt auch Literaten niedrigeren Ranges auf, wie Felix Salten mit seinen Bambigeschichten oder den Weltverbesserer Ludwig Rubiner, der als Drahtzieher der Weltrevolution verdächtigt wurde. Der Herausgeber des Literaturführers, Martin Ebel, versteht Literatur in einem weiten Sinn. So berücksichtigt er auch Historiker vom Range Eduard Fueters und Golo Manns oder den Revolutionär Lenin mit seiner Kampfschrift «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» sowie den Psychoanalytiker C.G. Jung. Viele der porträtierten Autoren und deren Beziehung zu Zürich sind hinlänglich bekannt, trotzdem überraschen die gut recherchierten Porträts durch neue Sichtweisen und lebendige Darstellung. Der Herausgeber hat dafür schreibgewandte Beiträger gefunden. Neben Redaktoren des «Tages-Anzeigers» auch Literaturexperten, Publizisten und Schriftsteller.
Wie das Vorwort betont, strebt das Buch keine Vollständigkeit an. Sie wäre verfehlt gewesen. Dennoch ist die allzu grosse Lücke von rund 450 Jahren zwischen Hadlaub und Klopstock zu bedauern. Die literarischen Vertreter jener Zeit sind heute gewiss wenig bekannt, hätten aber zur Entdeckerfreude an grossen Geistern in Zürich beigetragen. Der Chorherr Felix Hemmerli (1388 bis ca. 1458) beispielsweise verfasste zahllose Streitschriften zu kirchlichen und politischen Fragen, der angesehene Stadtarzt und Stückeschreiber Jakob Ruf vermittelte in seinen Theaterstücken ein anschauliches Panorama der Zürcher Gesellschaft zur Reformationszeit, und Johann Wilhelm Simler, der bedeutendste Zürcher Dichter des 17. Jahrhunderts, gab das erste Zürcher Neujahrsblatt «Tischzucht» heraus. Auch bei diesen Beispielen handelt es sich nicht um Weltliteratur. Sie zeigen aber, dass Zürichs literarische Strahlkraft mit Städten wie Berlin, Wien und München gleichziehen kann.
besprochen von Rainer Diederichs, Zürich
Martin Ebel (Hrsg.): «Nackt gebadet, gejauchzt bis zwölf. Weltliteratur in Zürich – 50 Porträts.» Zürich: Nagel & Kimche, 2007.
Kennste eine, kennste alle
Die Geschichte funktioniert so: Ein Mann reflektiert selbstgefällig die eigene Wirklichkeit. Ein kurzer Zusammenstoss mit einer Gegenwirklichkeit demaskiert den Mann als Idioten. Naturgemäss ist die eine Wirklichkeit sympathisch und die andere lächerlich und kurzsichtig. Ja, das ist amüsant – solange nur eine Geschichte gelesen wird. Dann man wartet auf das Neue, wenn man die zweite liest. Und kennt die Pointe der dritten noch vor dem dritten Satz. Das ergibt zwei Fragen, eine verlagswirtschaftliche und eine persönliche.
Erstens: Taugt die Zusammenfassung wöchentlich erscheinender, thematisch ähnlicher Kolumnen für ein Buch? Oder ist bereits die literarische Form der Kolumne so fest vorgegeben (These – Gegenthese – Aha-Effekt), dass die schnelle Leseabfolge in Buchform zwangsläufig zur Ermüdung führt? Der Verlag hat entschieden, dass sie taugt. Aus Business-Gesichtspunkten sehr vernünftig, denn die Kosten für die Zweitverwertung digitalisierbarer Produkte gehen gegen Null. Der Verkauf des Büchleins muss also nur die Druck- und Vertriebskosten einspielen, und das wird mit dem Namen «Suter» schon klappen. Die Profitchancen sind damit erheblich höher als die Risiken. Das Geschäft ist im Sack.
Die zweite Frage interessiert mich mehr: Spiegelt die Quintessenz der Kolumnen das Leben in der Businessclass tatsächlich wider? Ist, wer nach oben kommt, tatsächlich besonders doof? Wer es weit bringt im Unternehmen, muss sich doch gegenüber den Besten durchgesetzt haben. Er ist ein Roger Federer in der Welt der Business-Profis. Und dies in einem Turnier, in dem die soziale Kontrolle gewaltig ist, wie die Karriereknicke der Wolfowitzens, Kleinfelds und Browns zeigen. Die Vorstellung, dass sich hier die besonders Doofen drängeln, ist für die weniger Erfolgreichen sicher angenehm. Aber ist sie nicht recht selbstgefällig?
besprochen von Carola Jungwirth, Vaduz
Martin Suter: «Unter Freunden und andere Geschichten aus der Business Class». Zürich: Diogenes, 2007.
Wenn Filme (un-)sicher machen
Man könnte sagen, Bilder durch Worte zu vermitteln, in Sprache zu übersetzen, sei müssig. Sie würden ja gerade durch ihre bildnerischen Qualitäten wie Farbe, Komposition oder Oberfläche unmittelbar, als Bilder eben, wirken. Man könnte auch sagen, Filme, also bewegte und meist vertonte Bilder, in Schrift zu übersetzen sei rundweg unmöglich. Man könnte sich dabei auf spezifische Eigenheiten des filmischen Mediums, auf die Montage, die oft intuitiv wahrgenommene Choreographie der Bewegung oder die wachtraumähnliche Rezeptionssituation berufen. Schliesslich könnte man Marshall McLuhan zitieren und verkünden: «The medium is the message.» Und hätte bei all dem nichts gewonnen und wäre nur im hohlen Gemeinplatz stecken geblieben.
Man kann jedoch auch, wie es die Schweizer Filmzeitschrift «Cinema» seit nunmehr 52 Ausgaben tut, Filme als Texte begreifen, denen man sich vermittels anderer Texte annähern kann. Vorsichtig und mit der nötigen Selbst-Reflexivität ausgestattet, aber auch listig, provokant, verspielt, insistierend. Mit Essays, Filmbriefen, Momentaufnahmen, erzählenden und wissenschaftlichen Texten, Kurzkritiken, Photostrecken. Eine solche, zudem methodisch breit gestreute Herangehensweise behauptet gar nicht, alle Facetten des Sichtbaren zu reproduzieren. Vielmehr greift sie einzelne Aspekte der visuellen Erfahrung auf, setzt sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit ihnen auseinander und widersteht so einer autoritären Präsentation von Film, von Welt, von Wahrnehmung. Nur so, mit einer eklektischen Leidenschaft, die das auf den ersten Blick Disparate zusammenführt, können kaum bemerkte Beziehungen, verborgene Verknüpfungen sichtbar werden – ohne dass das angeblich Unvereinbare etwas von seiner Eigenständigkeit verliert.
Dementsprechend herrscht auf den gut 180 Seiten der aktuellen «Cinema»-Ausgabe auf den ersten Blick ein fröhliches Durcheinander: Derangierte Versicherungsvertreter, (nicht-)schwule Cowboys, vampirische Mediziner, das Sterben im TV, Betrachtungen zum Filmemachen im «Gefängnis Schweiz», leuchtende Notausgänge und bedeutungsschwere Hüte und schwebende Schokokugeln – sie alle bekommen hier ihren Auftritt. Den roten Faden im bunten Cocktail liefert das Generalthema «Sicherheit», vielmehr sein dunkler Zwilling: jene Unsicherheit, die «auf der Suche nach dem Anderen, dem Neuen, dem Überraschenden, dem Ambivalenten» entsteht, wenn Filme die «schützenden Grenzen» der Konvention überwinden, so Veronika Grob in ihrem Editorial.
Diese kreative Verunsicherung sowohl thematisch als auch narrativ, licht- und tontechnisch, unter dem Aspekt Genre ebenso wie unter jenem der Geographie (der «Filmbrief» berichtet von der prekären Lage des palästinensischen Films) zu reflektieren, dies gelingt «Cinema» und seinen Autoren eindrucksvoll. Dass der Begriff «Sicherheit» dabei manchmal sehr weit gedehnt wird, ist als positiv zu werten, ertrinken monothematische Publikationen doch ebenso oft in Redundanz wie solche ohne jegliches Leitmotiv in Beliebigkeit. Bei aller analytischen Verve verwundert es dann doch, dass «Cinema» – das ausser als Filmzeitschrift auch als Jahrbuch des Schweizer Films konzipiert ist – gerade beim «kritischen Überblick» über die Schweizer Filmproduktion 2005/06 nur verhältnismässig uninspirierte, über Inhaltsangaben und Floskeln selten hinausgehende Kurzrezensionen aufzuweisen hat. Und dennoch: mehr «Cinema» bitte – vielleicht im halbjährlichen Erscheinungsrhythmus?
besprochen von Jens Nicklas, Innsbruck
«CINEMA, unabhängige Schweizer Filmzeitschrift», 52. Jahrgang. Marburg: Schüren, 2007.
Das Glück des Gehens
Der Basler Volksmund – es ist im Grimmschen Wörterbuch vermerkt – hat das Verb «spazifizozle» hervorgebracht, eine Mischung aus «spazieren» und «zotteln». Allein die Existenz dieser sanftmütig-sarkastischen Lokalform macht deutlich: unauslotbar ist die Thematik des Gehens (und suchte man sich zu retten, in die Metaphernwelt der Seefahrt zum Beispiel, es drohte immer noch der «Untergang»).
Für den Basler Publizisten Aurel Schmidt verbindet sich das Gehen schlicht und einfach mit dem Glück. Sein «Buch des Gehens» ist zwar nicht durchgehend auf einen hymnischen Ton gestimmt; aber bestimmt zeugt es von der Grösse dieses Glücks, dass es sich indirekt ausspricht: in einer Lust nämlich, nebst zu gehen auch die Kulturgeschichte des Gehens zu durchmustern. Diese handelt nun keineswegs nur vom Gehen als Glücksspender, sondern auch von Gewaltmärschen, falschen Fluchten und zwanghaften Gesundheitstrends. Schmidt hat einen dichten, fast gedrängten Buchessay geschrieben, der teils philosophisch, teils historisch gehalten ist und eine eigentliche Parteinahme darstellt für das Gehen.
Doch worin liegt es nun, das Glück des Gehens? Oder: Welches Gehen ist es, das beglückt? Für den einen mag es ein gemeinsames Gehen sein. Das Titelbild zeigt ein Gemälde von Félix Valloton, das ein ebensolches Gehen in Gemeinsamkeit abbildet. Auf einem Strandabschnitt, nicht Land, nicht Meer. Prekäres Gelände. Für den anderen dagegen mag das Glück im Aufbruch liegen, in dem Ausnahmezustand, vorübergehend (oder bloss vermeintlich) aller Bindungen enthoben zu sein.
Eine Eigentümlichkeit des Buchs liegt nun darin, dass es zwar ein Glücksversprechen enthält, dass das kulturhistorische Panorama in seiner eher verwirrenden Fülle sich aber gleichsam vor dieses Versprechen schiebt. Und doch macht es sich dann und wann wieder bemerkbar, das persönlich erfahrene, schützenswerte Glück; in einigen Schroffheiten des Tons nämlich, die etwa gegen das Phänomen der Fussgängerunterführung oder gegen die Miesepetrigkeit der Stubenhocker gerichtet sind.
Aus dieser eigentümlichen Spannung – Glücksversprechen und Kulturgeschichte sind nicht zur Deckung zu bringen – resultiert ein interessanter, überraschender und letztlich schöner Effekt. Man sorgt sich nämlich am Ende um das Glück, um dessentwillen es sich lohnt, zu gehen. Deshalb nochmals: Worin liegt es? Versuch eines Fazits, das nur persönlich sein kann, gewonnen aus Lektüre und Erfahrung. Das Gehen relativiert, setzt in Beziehung. Das tut das Sitzen/Stehen zwar auch; aber das Gehen relativiert mit jedem Schritt neu. Im schönsten Fall: die Ereignislosigkeit durch die Begegnungen des Zufalls; die Perspektivlosigkeit durch die Aussicht; die Erdenschwere durch die sich einstellende Beschwingtheit; die Ideenlosigkeit durch die Zirkulation der Gedanken; die Weglosigkeit durch die unversehens gefundene Route. In der Summe: Entfaltung einer Fülle des Lebens (oder, mit Paul Nizon: «zu Leben kommen») – als Effekt des Gehens und in ihm. In der Variante der Autors: ein Weg hat sich gefunden. Will heissen (infolge der Verwandtschaft des Schreibens mit dem Gehen): ein Buch, ein Werk hat seine Form gefunden.
besprochen von Dietrich Seybold, Bottmingen
Aurel Schmidt, «Gehen. Der glücklichste Mensch auf Erden». Frauenfeld: Huber, 2007
Verlockung des Falters
Ein Schriftsteller, der Ich-Erzähler, hat sich in einen kleinen ländlichen Ort, Feldbach, zurückgezogen, in ein Haus am Waldrand, um dort über einen Mann zu schreiben, der versucht, «einen im Mittelmeergebiet beheimateten Kleopatrafalter in die Feldbacher Gegend zu locken». Der Plan wird allerdings durchkreuzt von dem plötzlichen Erscheinen Ungerers, einer seltsamen Clochard-Figur, die den verwilderten Garten bestellt und aus deren auffälliger graurot karierter Mütze der Ich-Erzähler vergangene Feldbacher Geschichten schöpft. Märchenhaft-romantisch entfaltet der Basler Autor Pierre Chiquet einen kleinen Roman über die Magie des Erzählens. Dabei wird der titelgebende Kleopatrafalter – genadelt unter goldgerahmtem Glas der einzige Wandschmuck im kargen Schreibzimmer des Erzählers – zum Symbol sehnsüchtiger Imagination. Die überraschende Begegnung des Protagonisten mit einer geheimnisvollen jungen Frau im roten Kleid auf dem Markt in Feldbach führt die scheiternde Faltererzählung zu einer poetischen Liebesgeschichte, die der Ich-Erzähler in einer Mittsommernacht aufzeichnet.
Chiquet hat schon in seinen früheren Büchern – in der Erzählung «Blister» und den Romanen «Die Peilung» und «Königsmatt» – Grenzbereiche zwischen unerfüllter Realität und poetischer Fiktion erkundet und die Konfrontation von differenten Welten in surrealen Bildern projiziert. In «Kleopatrafalter» verwebt er verschiedene Erzählebenen zu einer Demonstration der Möglichkeiten literarischer Phantasie. Durch Perspektivwechsel, Figuren- und Motivverknüpfungen erprobt Chiquet die metamorphische Macht eines Schreibens, das um die Unerreichbarkeit des ewigen Glücks weiss, aber beschwörend und mit spielerischer Vorstellungskraft Sprachwege und Wortbrücken zu den Zielen unbeschreiblicher Wünsche legt. Der rätselhaften Frau im roten Kleid erschreibt der Ich-Erzähler eine fiktive Familiengeschichte und imaginiert in atmosphärischen Bildern erfüllte und scheiternde Liebesbegegnungen. Chiquets Versuch, das Ausserordentliche, das einmalige, unaussprechliche Erlebnis zu poetisieren, gerät bisweilen freilich zu einer arg pathetischen Diktion, unter deren Einfluss die detaillierten stimmungsvollen Beschreibungen sich in mythische Beschwörungen verlieren.
Adressiert an die unbekannte bezaubernde Frau erkennt der Protagonist am Ende allerdings illusionslos die Grenzen des Erzählens: «Auch unsere Geschichte werde ich nicht schreiben können, und sollte ich es doch versuchen, wird es nicht mehr dieselbe, nicht mehr die unsrige sein – ich würde sie auslöschen.» Und so schliesst Chiquet seinen Roman mit der Erwartung, dass die Ersehnte durch den von Ungerer hergerichteten blühenden Garten schreitet und in das (Schreib-)Zimmer des Erzählers tritt: glücklicherweise, und konsequent, verzichtet Chiquet auf die Gestaltung eines Happy-Ends und bietet dem Leser damit ein wunderbares Buch über den Zauber der Poesie und der Liebe…
besprochen von Hartmut Vollmer, Paderborn
Pierre Chiquet: «Kleopatrafalter». Zürich: Bilger, 2007.
Vom Meteoriten getroffen
Lee taugt als Vorname für Männer wie für Frauen. Daher entzieht sich Lee Gustavo, die Ich-Erzählerfigur in Sandra Hughes’ Debütroman, den geschlechtlichen Zuschreibungen. Lee arbeitet als patente Haushaltshilfe und liebt Frauen. Aber was heisst das schon. Halsbrecherisch schwankt Lee zwischen keckem Mädchen und dummem Jungen – was nicht das einzige ist, das an diesem verworrenen, ganz und gar unbürgerlichen Lebenslauf ausser Kontrolle gerät.
Sandra Hughes hat es sich in ihrem Debüt nicht leicht gemacht. Von einem verirrten Meteoriten getroffen, liegt Lee in der Klinik und irrlichtert durch die eigenen Erinnerungen. Diese folgen keiner bürgerlichen Lebensbeschreibung, sondern balancieren den sozialen Rändern entlang und fallen von einer Turbulenz in die nächste. Ein böses Komplott bringt Lee ins Gefängnis, aus dem entlassen die Rückkehr in ein anständiges Leben nur schwer gelingt. Die Lehre bei einem Tattoo-Meister und die Übernahme von dessen Laden lenkt das Leben in etwas ruhigere Bahnen, was Lee frei macht für den zufällig aufgefundenen Abschiedsbrief des Vaters, der seinem Leben vor Jahren ein trauriges Ende gesetzt hatte. Die gesamte Familiengeschichte greift dadurch weit ins Brasilianische aus und erhält so eine beschämende Dimension, die obendrein teuflisch verseucht ist. Lee erhört die Anklage des Vaters und rächt dessen traurigen Selbstmord – auch wenn die Autorin zu dem Zweck die eine oder andere Hilfe herbeierzählen muss.
Mit Lee Gustavo betritt eine schillernde Figur die literarische Bühne, wie sie in der neueren Schweizer Literatur eher selten zu Hause ist. Sehr zum Vergnügen der Leser spiegelt sich Lees abenteuerliche Unerschrockenheit auch stilistisch wider. Sandra Hughes hat für ihr literarisches Schelmenstück einen leichtfüssigen Erzählton gefunden, der Lees widerspenstiges Lebensgefühl mit Witz aus der Eigenperspektive beschreibt und die chaotischen Begebenheiten zum Schluss in eine Ordnung fügt, die keine losen Enden lässt, die der Meteor verfehlen könnte.
besprochen von Beat Mazenauer, Luzern
Sandra Hughes: «Lee Gustavo». Zürich: Limmat, 2006.
Olive auf der Zunge
In der akademischen Auseinandersetzung mit Lyrik geht es meistens darum, Zugänge zu finden, Inhalte zu erschliessen oder tiefere Bedeutungsschichten freizulegen. Beschäftigungen also, die wenig mit sinnlichem Genuss, aber viel mit interpretatorischer Schwerstarbeit zu tun haben. Nicht so bei Ralph Dutli. Der Lyriker, Essayist und Übersetzer ist zwar ein genauer, um nicht zu sagen akribischer Leser, aber eben nicht mit dem Ziel, das Gedicht sauber in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen, sondern es vielmehr in seiner sinnlichen Präsenz erfahrbar zu machen. Das erfordert zuweilen neue, ungewohnte Wege. So wird der Leser dazu aufgefordert, eine feste, fleischige Olive in den Mund zu nehmen und sie mit Zunge, Zähnen und Gaumen zu erschmecken und zu ertasten. Die überraschende Pointe dieses kulinarischen Selbstversuchs: «Ob Sie es glauben oder nicht: Sie waren eben mit Ihrer Olive in der Hauptstadt der Poesie. Denn Poesie findet im Mund statt, zwischen Kehlkopf, Gaumen, Zunge, Zähnen und Lippen.» Treffender lässt sich die sinnliche Dimension von Poesie nicht beschreiben, und man ahnt bereits, dass bei Dutli Poesie und Erotik nahe beieinander liegen.
Beispiele für einen lustvollen Umgang mit Lyrik finden sich bei Dutli zuhauf. Ob nun in Kaiser Hadrians Sterbegedicht, den Kuss-Sonetten der Louise Labé oder George Herberts kannibalischem Liebespoem, stets geht es dem «Ohrenmenschen» Dutli darum, den Leser etwas von der Magie des klingenden, gesprochenen Wortes spüren zu lassen. Zugleich macht der Autor uns Mut, uns ohne theoretische Scheuklappen dem Gedicht auszusetzen, Laut und Sprache zu folgen und das gedruckte Wort als Partitur zu verstehen, die nicht gelesen, sondern gespielt werden will.
Der Gewinn eines solchen Ansatzes ist reich. Er lässt die Sprache zu sich selbst kommen und reduziert das Gedicht nicht auf eine blosse Folie, hinter der sich ein wie auch immer verschlüsselter Sinngehalt versteckt. «Allegorien haben etwas Albernes», erklärt Dutli kategorisch. Wer Gedichte lediglich in logisch widerspruchsfreie Aussagen übersetzen will, ist nicht nur taub für die Magie des Wortes, sondern er verkennt auch, dass ein Gedicht seine eigene poetische Logik besitzt, die sich spielerisch und spielend über die Gesetze unseres Alltags hinwegsetzt. Der Logik des Gedichts zu folgen, so Dutli, heisst «auf dem Wasser zu gehen», vertraute Gewohnheiten und Automatismen hinter sich zu lassen und die Welt wie sich selbst aus einer neuen Perspektive zu sehen. Zuletzt ist es diese befreiende Kraft der Poesie, die Ralph Dutli in seinen Essays immer wieder beschwört, und die im Leser Mut und Lust weckt, selbst den Schritt hinaus aufs Wasser zu wagen.
besprochen von Georg Deggerich, Krefeld
Ralph Dutli: «Nichts als Wunder. Essays über Poesie». Zürich: Ammann, 2007.
Nicht alles besiegt die Liebe
«Amor als Sieger» oder «Omnia vincit amor» heisst ein 1601 oder 1602 von Caravaggio geschaffenes Bild, das heute in der Berliner Gemäldegalerie hängt. Und «Amor als Sieger» heisst auch die titelgebende Erzählung des neuen Buches von Gianni Kuhn, des 1955 in Niederbüren geborenen, in Frauenfeld lebenden Künstlers, dessen Gedichte und Prosasplitter in den «Schweizer Monatsheften» ebenso vorgestellt wurden wie sein erster Roman (August/September 2003, Mai 2005). Da wird ein nicht unnötig ausführlich charakterisierter Geschäftsmann namens Klaus Malinke mit Caravaggios Gemälde konfrontiert und verliert sich darin. «Bilder sind nicht wie ein Flirt oder eine Liebschaft, die nach ein paar Tagen vorbei ist», erklärt er der Frau an der Museumskasse, «Das hält länger an.» Und so kommt Malinke mehrere Wochen lang täglich zu exakt diesem Gemälde, in dem sich unendlich viele weitere Bilder zu verbergen scheinen. Das hatten die Angestellten noch nie erlebt: einen Mann, der keine Minute der Öffnungszeiten versäumt und sich immer nur ein- und dasselbe Werk anschaut, der süchtig ist nach diesem einen Bild und bald alles andere, vor allem sein eigenes Äusseres, vollkommen vernachlässigt. «Amor als Sieger» ist daran schuld, dass Malinke Arbeit und Wohnung verliert und sich am Ende in eine «wüste Keilerei» mit dem Museumsdirektor und dem Aufsichtspersonal verstrickt. «Und als sie einer nach dem anderen abgeführt wurden, war es der siegreiche Amor, der ihnen verführerisch nachlächelte.»
Die eindrucksvolle Titelgeschichte führt exemplarisch vor, was für alle Erzählungen dieses Bandes gilt: ein Mensch wirft einen vollkommen neuen Blick auf seine Existenz und wagt den Ausbruch aus seinem bisherigen Leben. Mit ungewissem Ausgang. Ob die scheinbar ganz locker erzählten, oft ironisch mit Krimi-Elementen spielenden, von Filmen oder Werken der bildenden Kunst beeinflussten, manchmal geradezu existentialistisch angehauchten Geschichten in London, Wien, Paris, Berlin oder in den Schweizer Bergen spielen: immer steht jemand an einem Wendepunkt seines Lebens. «Ein kurzer Besuch», «Zug nach Pankow» und «Das Ende der Reise» heissen die Geschichten, die neben der Titelerzählung den stärksten Eindruck hinterlassen. Doch nicht in jedem der leider ein wenig ungeschickt angeordneten Texte, bei denen es qualitativ eine ungewöhnlich grosse Bandbreite zwischen begeisternd und belanglos gibt, siegt die Liebe. Nehmen wir die anspielungsreiche Geschichte «Das Fenster zum Hof» – der letzte Satz dieser mit einer Erinnerung an Alfred Hitchcocks Film «Rear Window» beginnenden Erzählung lautet: «Sie kam sich vor wie eine ausgehöhlte und auf den Kompost geworfene Frucht.» Nach «Amor als Sieger» klingt das nicht. Aber es ergreift.
besprochen von Klaus Hübner, München
Gianni Kuhn: «Amor als Sieger». Eggingen: Edition Isele, 2006.
Magnetfeld des kleinen Glücks
Die schwerfällige Bewegung einer Rangierlok und das Zittern des «Weltstaubfusselteilchens» im imaginären Diaprojektor des Bewusstseins, mit dem das Leben wahrgenommen werden kann: das sind die Amplituden-Enden, zwischen denen der Roman Mannharts schwingt. Er tut es bildreich und durchkomponiert. Die Handlung des zweiten Prosawerks des Autors ist sekundär und schnell erzählt: der Protagonist – vom Erzähler durchgehend empathisch mit «Du» angeredet – pendelt zwischen seinem Wohnort Basel und dem römischen Stadtteil seiner Geliebten, mit der ihn vor allem Sex verbindet. Diesmal aber, an seinem Geburtstag, bleibt der Zug in Domodossola stecken. Nicht etwa wegen der Naturgewalt der dortigen Erdmagnetfeldanomalie – schlicht wegen eines Streiks.
Pendeln ist das Thema, Zittern, sich mühevoll Bewegen, aber auch Fliessen, Strömen. Handeln wollen/können/nicht können. Sich trennen, aber auch immer zusammensein wollen. Hin und her. Geringe/gewisse Optionen der Einwirkung auf den Fluss des eigenen Lebens. Inversionsmöglichkeit, Umpolung der Magnetströme. Herantasten an Lebensplanideen, als sei das etwas Unmögliches. Plötzliches Sterben als Beiläufigkeit, das weniger wichtig ist als Aussagesätze, Feststellungen des überlebenden Erzählers: «Dass sie nach Hefe riecht und dass Du ihr dies gleich gesagt hast.»
Mannharts Roman ist voller sprachlicher Geschenke an den Leser, Kleinodien der Assoziation und des ehrlichen Denkens: keine Extreme, keine Problematisierungen, weder Heldentum noch Verzweiflung sind dem Subjekt nahe, das spät im Text als eine Gestalt aus Mannharts Erstling «Der Luchs» identifiziert wird. Ganz alltäglich und normal ist es, keine objektiven Schwerpunkte vorzufinden. Diese wandern über die Erde, unbeständig wie der magnetische Nordpol. Das Alphabet lautet bei jedem Menschen anders, der Name mutiert von Elisa zu Luise und zurück.
Das Emblem des Bilgerverlages auf dem Buchdeckel – eine Hand mit 6 Fingern – fast wie ein ironisches Lächeln über so viel Kunst? Über einen Kick zu viel Sprache, zu viele Motivreihen, zu viel Zugriff – Hefepilz, Scheidenpilz, Doederleinbakterien, Strom, strömen, Stromschlag, Toilette, Lavabo, Pissen…? Keine Planeten stehen am Geburtstag zum Grusse der Sonne, es knirscht die Lok am Bahnhof von Domodossola im einmal, einmal abweichenden Magnetfeld des kleinen Glücks.
besprochen von Sabine Kulenkampff, Erlangen
Urs Mannhart: «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola». Zürich: Bilger, 2006.
Bekenntnisse des Vaters
Noch ein Roman zum 11. September 2001? Es wäre nicht falsch, «Ben Kader» dieses Etikett anzuhängen, dennoch greift die Zuordnung zu kurz. Denn an diesem Tag endet Daniel Goetschs Roman. Im Brennpunkt steht jedoch mit dem algerischen Unabhängigkeitskrieg eine andere Zeit. In acht Kriegsjahren töteten das französische Militär und die mit ihm verbündeten Milizen bis 1957 fast eine Million Algerier. Folter, Mord und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung, französische Aktionen zur «Befriedung» führten zur Vertreibung von zwei Millionen Menschen. Unzählige französische Soldaten dienten in diesem Krieg, darunter auch prominente Gestalten wie Jacques Chirac oder Jean-Marie Le Pen.
Aufgerissen wird dieses dunkle Kapitel französischer Geschichte durch Ben Kader, den Vater des Protagonisten. Nach einem Hirnschlag liegt er im Krankenhaus und bittet seinen Sohn Dan, eine Datei auszudrucken und diese einer Journalistin in Paris zu schicken. Dan, der Ich-Erzähler, hat derweil ganz andere Probleme. Freundin Miriam hat sich für drei Monate nach Hamburg verabschiedet, und sein Job bei einer Zürcher Medienagentur langweilt ihn. Mit seinem Vater, der ein seltsames Doppelleben zu führen schien, hat er längst abgeschlossen. Noch weiss er nicht, dass ausgerechnet Ben Kader, emeritierter Professor und Orientalistikexperte, seiner Freundin bei den Recherchen zu ihrem Dokumentarfilm über Isabelle Eberhardt geholfen hat. Noch weiss er nicht, dass Vaters Datei längst in Paris angekommen ist. Zunächst greifen Dans Verdrängungsmechanismen, dann aber holen ihn Erinnerungen an den letzten gemeinsamen Urlaub ein, als er und Miriam nach Marrakesch geflogen waren, wie sie von dort nach Ain Sefa aufbrachen, jene algerische Oasenstadt, in der Eberhardts Leben ein jähes Ende gefunden hatte. Dort angekommen, bestieg Miriam – gegen jeden guten Rat – eine Düne; und damals beschlich Dan «eine schlimme Vorahnung». Es kam zum Eklat, Dan rastete aus, die Beziehung der beiden ist seither getrübt.
Gedrängt von seinem Bruder, betritt Dan schliesslich die Wohnung des Vaters, druckt die Datei aus, steckt die Blätter in den vorbereiteten Umschlag und macht sich wieder auf den Weg: «Schlenderte die Langstrasse auf und ab, an Leuchtschriften, Sexkinos und schummrigen Bars vorbei. Mal war mir, als würde ich Vaters Vermächtnis mit mir herumtragen, eine erdrückende Last, dann wieder sagte ich mir, ich schulde ihm nichts, Pessoa sei Dank.» Dan sieht sich mit den Bekenntnissen seines Vaters konfrontiert, der 1957 in Algier war und im Auftrag der französischen Regierung als Dolmetscher den Folterungen beiwohnte.
Nach den Romanen «Aspartam» (1998) und «X» (2004), die sich vornehmlich um den Mikrokosmos der jeweiligen Hauptfigur drehten, ist «Ben Kader» fraglos das bisher vielschichtigste Buch von Daniel Goetsch. Virtuos hat der mittlerweile in Berlin lebende Schweizer die kleinen Geschichten mit den grossen verwoben, die einen wiederholen sich dabei wie die andern. So wird einerseits dem Sohn schonungslos der Spiegel vorgehalten, andrerseits spiegelt der 39jährige Autor auch Welt, indem er auf raffinierte Weise aufzeigt, dass die Diskussionen um den clash of cultures, um Terror und Bombenanschläge, wie sie nach dem 11. September 2001 wiederaufgeflammt sind, schon vor fünfzig Jahren in ganz ähnlicher Weise geführt wurden. «Ben Kader» ist ein packender Roman wider das Vergessen, der zugleich – wie nebenbei – die Gegenwart auf den Punkt bringt: Auch Guantánamo ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts.
besprochen von Markus Bundi, Baden
Daniel Goetsch: «Ben Kader». Zürich: Bilger, 2006.
Eine ethnologische Forschungsreise in die Schweiz
Bis vor wenigen Jahren galten Fragen der nationalen Identität noch als verstaubte, wenn nicht geradezu faschistoide Relikte. Bezeichnend, wie Pia Reinacher in «Je Suisse» (2003) die neue Generation Schweizer Autoren dadurch charakterisierte, dass für diese die Schweiz kein Thema mehr sei. So erscheint es fast als paradox, wenn es heute ausgerechnet Autoren ausländischer Herkunft sind, die sich dieses Stoffs annehmen. Es gibt tatsächlich kaum Schriftsteller, die sich stärker mit der Schweiz beschäftigen, als die, die von auswärts gekommen sind. Zu ihnen gehört auch Yusuf Yesilöz. 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien geboren, kam er 1987 als politischer Flüchtling in die Schweiz.
Mit «Lied aus der Ferne» liegt nun bereits sein sechstes Buch in der Sprache seiner Wahlheimat vor. Diesmal hat sich Yesilöz an ein neues Genre gewagt: den Kriminalroman. Krimifans seien allerdings gewarnt: wer eine spannende Geschichte erwartet, sieht sich rasch enttäuscht. Der Mordfall spielt nur nebensächlich eine Rolle; vielmehr benutzt Yesilöz die Kriminalgeschichte als Einstieg in die Welt der kurdisch-türkischen Gemeinschaft in der Schweiz. Die Ermittlungen der Polizei kommen somit fast einer ethnologischen Forschungsreise gleich. Yesilöz geht dabei auch heiklen Aspekten der Immigration nicht aus dem Weg, den dramatischen Konsequenzen der traditionellen Heiratsvermittlung etwa, oder dem Druck von Verwandten auf Familienmitglieder, die es bis nach Europa geschafft haben. Yesilöz’ Stärke liegt im Anekdotischen. Köstlich sind die Szenen, in denen etwa die türkische Polizei in der Zürcher Krankenkasse PKK eine verdeckte Unterstützung für die kurdische Arbeiterpartei vermutet, oder in denen die Türken Strategien entwerfen, um in Schweizer Krankenhäusern die fade Spital-Leichtkost durch Böreks und Baqlawa zu ersetzen. Es finden sich auch bemerkenswerte poetische Stellen, zur Entstehungsgeschichte Kurdistans etwa, als Allah beim Beten den Kopf im falschen Moment senkt, sodass den Kurden ein falscher Platz zugewiesen wird. Solche glänzenden Passagen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in stilistischer Hinsicht noch vieles hapert. Man hätte dem Buch durchaus einen strengeren Lektor gewünscht, der den Überfluss an kurdischen Sprüchen beschnitten hätte und die Figuren nicht nach jeder (vermeintlich) lustigen Aussage lachen lässt, fast als würde es sich um ein Lachband handeln. Trotz solchen Schwächen des Stils und der Konzeption ist der Roman mit Gewinn zu lesen, denn er führt in eine andere Schweiz, von der wir kaum etwas wissen. Es gibt hierzulande sicherlich Autoren, die besser schreiben als Yesilöz, nur wenige aber haben uns soviel Neues zu erzählen wie er.
besprochen von Jeroen Dewulf, Middelkerke
Yusuf Yesilöz: «Lied aus der Ferne». Zürich: Limmat, 2007.
Kopflose Leichen
Eine der beliebtesten Figuren im zeitgenössischen Kriminalroman ist jener Typ des Serienmörders, der nicht nur über eine individuelle Methode verfügt, seine Opfer vom Leben zum Tode zu bringen, sondern darüber hinaus kryptische Botschaften hinterlässt, die dem ermittelnden Kriminalisten etwas zu knobeln geben. War ein Sherlock Holmes noch darauf angewiesen, aus den unbeabsichtigten Spuren des Verbrechers Schlüsse zu ziehen, haben seine modernen Nachfolger nicht selten das Vergnügen, einem Täter mit Sendungsbewusstsein das Handwerk legen zu müssen.
So geht es auch Hauptmann Fred Staub von der Zürcher Kantonspolizei, dem drei kopflose Leichen und seltsame Graffiti-Botschaften zunehmend schlechte Laune bereiten. «Wäre ich doch Aktienspekulant geworden oder Stuntman!», seufzt der sympathische Kriminalist schon, bevor die Ermittlungen so richtig begonnen haben. Aber dann geht es zügig an die Arbeit, und nach knapp über 200 Seiten ist der Fall gelöst, wenn auch nicht zu Staubs vollkommener Zufriedenheit. Letzten Endes sind die orangefarbenen Wandbeschriftungen, die immer in der Nähe des jeweiligen Tatorts auftauchen, doch nicht so schwer zu enträtseln. Schon gar nicht für den aufmerksamen Leser, der gegenüber Hauptmann Staub den Vorteil geniesst, in kursiv gesetzten Zwischenkapiteln mit den Gedanken des Täters konfrontiert zu werden. Der übrigens, und auch dies ist mittlerweile genretypisch, kein wirklicher Bösewicht ist. Schurkenqualität haben eher seine Opfer.
«Staub im Wasser», der zweite Kriminalroman des Journalisten Ernst Solèr, ist eine durchaus vergnügliche Lektüre. Der gelegentlich etwas unwirsche Staub darf selbst erzählen, und zwar im Präsens, was der Geschichte einen angenehmen Beschleunigungseffekt verpasst. Allerdings hat ihm sein Schöpfer eine Abneigung gegen die wiederholte Verwendung des simplen Verbs «sagen» mitgegeben, so dass sich manche Dialoge wie Lehrbeispiele für einen abwechslungsreichen Stil lesen. Staubs temperamentvolle Kollegin Bea «kläfft», «tobt», und «höhnt», die Sekretärin eines zwielichtigen Finanzakrobaten «sülzt», während der Ermittler selbst gerne etwas «klarstellt». Nur einer «grummelt», und das ist der Mörder.
besprochen von Joachim Feldmann, Recklinghausen
Ernst Solèr: «Staub im Wasser». Dortmund: Grafit, 2007.
Erstaunlich altmodisch
Altmodisch – das Wort fällt im Roman selber. Lena schreibt ihrem Bruder Fred aus Wien «pünktlich im Monat einen langen, altmodischen Brief». Richard Reich entführt uns in seinem ausdrücklich als Hotelroman bezeichneten neuen Buch «Codewort Laudinella» in eine altmodische Welt, von der sich die Literatur eigentlich schon lange entfernt hat, mit Menschen, die Chorgesang-Ferienlager besuchen, in ihrer Freizeit ein Streichquartett bilden, die klassischen Opernwerke auswendig kennen, Mörikes «Mozart auf der Reise nach Prag» lesen, und so fort… Die Bildungsbürger sind in der Schweiz offenbar nicht ausgestorben, sie machen, wie es sich gehört, Ferien im Engadin. Richard Reich, der brillante Verfasser von Glossen und Satiren, hat ein in seinem Stoff erstaunlich altmodisches Buch geschrieben. Aufgewogen wird dies durch die nicht lineare Form des Erzählens. Das Leben und Treiben der Hotelgäste und des Personals wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, in Nocturnes sprechen anonyme Stimmen. Die Personen sind nicht wie in einem realistischen Roman voll ausgeführt, einige bleiben blass, werden nur skizziert. Gut gelungen ist der ehrliche Kellner, der seinen Gästen Dinge sagt, die man vom Personal eigentlich nicht erwartet. Und auch Fred bleibt in Erinnerung, der im Laufe seines verpassten Lebens im Hotel hängen bleibt und doch noch ein spätes Glück findet. Die Erklärung, wieso sich Reich an das mit grossen Vorbildern belastete Genre des Hotelromans gewagt hat, findet sich im Nachwort: «Das vorliegende Buch ist ein Auftragswerk der Genossenschaft Laudinella aus Anlass ihres Fünfzig-Jahr-Jubiläums.»
besprochen von Cristof Wamister, Basel
Richard Reich: «Codewort Laudinella. Ein Hotelroman». Zürich: Kein & Aber, 2007.
Aufgesplitterte Annäherung
Eine Biographie – und zwar die einer berühmten Künstlerin – nicht aus einer allwissenden Perspektive darzustellen, sondern sie aus verschiedenen Blickwinkeln zusammenzusetzen, ist eine raffinierte Methode; denn sie suggeriert Authentizität und die angemessenere, weil komplexere Schilderung einer Persönlichkeit. So ganz traut Gabrielle Alioth ihrem Verfahren jedoch nicht, denn sie führt einen Ich-Erzähler ein, den engen Verwandten und Mainzer Hofmaler Franz Joseph Kauffmann, der Angelica Kauffmann seit seiner Kindheit verehrt, uneingestandermassen sogar liebt.
Kauffmann begibt sich auf Spurensuche, zunächst in der Hoffnung, seine ebenfalls malende Tochter in ihre Lehre geben zu können, nach und nach stärker gebannt von der Ausstrahlung dieser Frau, die sich noch in Äusserungen und Aufzeichnungen, aus zweiter oder dritter Hand also, mitteilt. Angelica Kauffmann muss faszinierend gewesen sein: gebildet und vielsprachig, genial schon als junges Mädchen, als sie noch schwankte, ob die Malerei oder die Musik die ihr gemässe Kunst sei.
Franz Joseph Kauffmann reist nach Schwarzenberg, wo er Jahrzehnte zuvor als Lehrling ihres Vaters der sechzehnjährigen Angelica bei der Ausmalung der Kirche geholfen hat, und wo er nun den blinden, alten Pfarrer nach dessen Erinnerungen fragt; er trifft den Sänger, der ihr Gesangsunterricht gegeben und mit ihr eine Oper im Montfortschen Schloss inszeniert hat, schliesslich in Venedig ihren Schwager und Biographen Guiseppe Carlo Zucchi. Neben diesen kommt der Maler und Dichter Heinrich Füssli zu Wort, ihr Arzt John Morgan sowie ihr Freund in Rom und Vermittler vieler Kunstwerke Johann Friedrich Reiffenstein.
Aus Berichten, Briefen, Notizen, Reflexionen dieser teils historischen, teils erfundenen Zeitgenossen erfährt man von Angelica Kauffmanns Kunst und Kränklichkeit, ihrer grossen Zuneigung zu Goethe und den Begegnungen mit zahlreichen Berühmtheiten in ihrem Salon, den nicht sehr glücklichen Ehen und Gerüchten um sie, dem Ruhm und den Reisen. Das liest sich alles angenehm, sogar spannend. Am Schluss des Buches fragt man sich allerdings, ob sich aus den Urteilen der männlichen Begleiter und Beobachter wirklich ein stimmiges Bild der Künstlerin Angelica Kauffmann ergibt oder ob es nicht eigentlich vor der Lektüre einer intensiveren Beschäftigung mit der Malerin, ihrer Zeit und der Kunstgeschichte bedurft hätte, damit die Facetten bei den Lesern sich zu einem Ganzen fügen könnten. Zumal die prüfenden Blicke der sieben Männer auf die Protagonistin mehr oder weniger in dieselbe, zwar poetische, doch moderne Sprache gesetzt sind, die man der Schriftstellerin Gabrielle Alioth, nicht aber einem Hofmaler Franz Joseph Kauffmann um 1800 zutraut. So wird das methodische Raffinement ein wenig zur Falle, die vermittelte Darstellung ergibt zwar eine über Strecken genussreiche Romanlektüre, aber man hätte Franz Joseph Kauffmann – und uns Lesern – eine persönliche Begegnung mit Angelica Kauffmann gewünscht, einen direkten Augenkontakt.
besprochen von Irene Ferchl, Gerlingen
Gabrielle Alioth: «Der prüfende Blick. Roman über Angelica Kauffmann». Zürich: Nagel & Kimche, 2007.
Schlafende, zum Sprechen gebracht
Wer in Westdeutschland elf Jahre nach Kriegsende zur Welt kommt, ist nicht «geboren, sondern gestorben» – so stellt es sich zumindest für Elschen im Rückblick auf die Vergangenheit dar. Zusammen mit ihren Kindheitsfreundinnen Gitti und Hanna beschwört sie Jahrzehnte später Landschaften, Stimmungen und Ereignisse herauf, die sich in dreiunddreissig Traumbildern zu einer gemeinsamen Biographie verdichten, einer Biographie der Seele allerdings oder des Bewusstseins.
So erklärt sich auch, dass «Weisses Album», trotz einem dreistimmigen Ansatz, klingt wie ein – vielfach gebrochener, reich modulierter – Monolog. Wenn die drei Freundinnen von Geburt an ihr Leben in einer Art Dornröschenschlaf verbringen, so bedingt dieser Schlaf eine Durchlässigkeit des Bewusstseins. Und diese Durchlässigkeit für die Gedanken, Erfahrungen und Gefühle anderer erstreckt sich auf die Welt der Lebenden und der Toten, auf das – historisch – Vergangene wie auf die Gegenwart. Selten werden die Möglichkeiten des Traums in der aktuellen Literatur so schöpferisch, so bildkräftig genutzt wie im jüngsten Roman von Friederike Kretzen – einem Roman, bei dem das Bewusstsein eigentlicher Schauplatz ist und die Handlung aus einem kommunikativen Erinnerungsprozess heraus entsteht, der von Anfang bis Ende die Züge eines Traums trägt – auch wenn Hanna, von den Dreien vielleicht die Protokollantin, die das zeiten- und weltenumspannende Gespräch auf Papier bannt, an einer Stelle sagt: «Wir haben nie geträumt. Wir kamen nicht dazu. Standen nur da und nannten es Traum. Mitten am Tag und ohne Aussicht.» Diesen negativen Traumbegriff assoziiert Hanna mit einer Kindheit, in der sie und ihre Freundinnen, mehr oder weniger implizit, zur Passivität, zum Stillhalten, zum Nichtfragen angehalten werden; das führt zu diesem langen Lebensschlaf, in dem alle Zeit- und Bewusstseinsebenen ineinander übergehen, in dem Märchen, Heiligenlegenden, skurrile Anekdoten und die Schrecken des Krieges von gleichem Wirklichkeitsgehalt sind. Nicht von ungefähr verkörperten Gitti, Elschen und Hanna im Schultheater die «Drei Schwestern» von Tschechow – geradezu berüchtigte Träumerinnen, denen das ersehnte Leben versagt blieb. Wenn einem das Leben aber tatsächlich versagt bleibt, so lässt die Lektüre des «Weissen Albums» keinen Zweifel daran, dass die Gründe dafür noch vor der Geburt zu suchen sind, in einer menschen- und lebensfeindlichen Geschichte.
besprochen von Patricia Klobusiczky, Berlin
Friederike Kretzen: «Weisses Album». Zürich: Nagel & Kimche, 2007.
Entscheidung für das Wu