Schweizer Haushalte aus dem Lot
Der Paradigmenwechsel darf nicht verpasst werden.
Der Politikbetrieb läuft unverdrossen weiter – man ist versucht zu sagen, wie geschmiert. Der Nationalrat hat in seiner Sondersession im Mai Beschlüsse gefasst, die allen Warnungen trotzen: Mehrausgaben für Bildung und Forschung, die weit über die immerhin schon grosszügige Vorgabe des Bundesrates hinausgingen, Abschaffung des Eigenmietwerts im Rahmen eines stark verwässerten Systemwechsels, Subventionierung des notleidenden Tourismus, Erleichterung der Frühpensionierung, Moratorium für Gentechversuche in der Landwirtschaft. In unterschiedlichen Koalitionen, die alle bürgerlichen Parteien einbezogen, hat sich die Linke weitgehend durchgesetzt. Im Wahljahr erscheint es nicht ratsam, wichtige Interessengruppen zu brüskieren, und letztlich sind alle Parteien mit Interessengruppen verfilzt.
Gleichzeitig schlagen die Regierungen auf eidgenössischer und kantonaler Ebene Alarm. Die Haushalte geraten unter den gegenwärtig bitteren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aus dem Lot. Um wenigstens das Wachstum der Staatsausgaben etwas zu bremsen, werden Kostensenkungsprogramme vorgelegt, die zu Unrecht als Sparübungen bezeichnet werden. Doch das grosse Jammern hat schon begonnen, und man kann sich ausmalen, was schliesslich übrig bleibt. Aber je schwieriger die Lage, desto mehr fühlen sich Politiker berufen, sich als Retter in der Not aufzuspielen – zu Lasten der Steuerzahler, nicht der heutigen zwar, welchen man nur zu gerne noch Entlastungen verspricht, aber zweifellos jener von morgen. Die entstehenden Lücken lassen sich auch mit dem irgendwann erhofften Konjunkturaufschwung nicht wieder füllen, denn allzu viele Defizite sind struktureller Art.
Noch läuft der Betrieb, und daran sind ja nicht allein die Politiker schuld, sondern das Bürgerpublikum, das – mit abnehmender Tendenz – noch wählt und selektiv abstimmt, und das vor allem über die öffentliche Meinung kundtut, was es will und was nicht. Wie die Stimmen in der veröffentlichten Meinung gewichtet werden, ist ein Kapitel für sich. Auch hier sind jedenfalls die organisierten Interessen mächtiger als diejenigen, die ohnmächtig die Faust im Sack ballen.
Wenn die Anzeichen nicht täuschen, könnte dies bald einmal ändern. Die Verunsicherung, die mit der wieder zunehmenden Arbeitslosigkeit, den weiter eskalierenden Gesundheitskosten und vor allem den sich plötzlich offenbarenden Deckungslücken in der Altersvorsorge um sich greift, hat sich zunächst in schriller Kritik an der Wirtschaft und ihren Exponenten Luft gemacht. Früher oder später werden jedoch die politisch gezimmerten Systeme der sozialen Sicherheit den Stresstest überstehen müssen, und es ist unschwer zu erkennen, dass die Ansprüche der Generationen hart aufeinanderprallen werden. Wenn die Gesellschaft altert, verschlechtert sich jedoch nicht nur die Rechnung, es verschiebt sich auch die politische Gewichtsverteilung. Die Frage liegt nahe, wie lange es noch dauert, bis die jüngere Generation die Lasten und Gefahren, die auf sie und ihre Nachfolger zukommen, erkennen und sich politisch gegen das Machtkartell der Besitzstanderhaltung zu organisieren beginnen. Publizistisch ist das in Ansätzen bereits zu erkennen. Auch in den Parteien könnte es bald einmal rumoren. Das Klischee von den fortschrittlichen Jungen stimmt schon heute nicht mehr, es sei denn, fortschrittlich hiesse wieder vermehrt staatskritisch und eigenverantwortlich. Den Parteien, vorab den bürgerlichen, ist zu wünschen, dass sie den Paradigmenwechsel nicht verpassen.