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Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVIII

13 Bücher, vorgestellt in der achtundzwanzigsten Folge der «Schweizer Autoren
in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

1 Francesco reist nach Brig

Ich bin ein blinder Passagier. Nicht, weil ich keine Fahrkarte hätte. Ich bin ein blinder Passagier, weil ich mich in den Zug gesetzt habe, der meinen Sohn auf seine erste grosse Reise bringt. Ich kann noch nicht loslassen und verstecke mich in einem anderen Wagen. In meine Laptoptragtasche habe ich ein schönes, grosses Buch gesteckt; es ist auch eine Art blinder Passagier. Öffnet man das Buch, macht es einen sehend. Die Photographien von Giorgio von Arb lassen mich in eine Welt einsteigen, die schwarzweiss meinen Puls verlangsamt, die mich dazu bringt, nicht mit dem Schulwissen auf die Bilder zu schauen.

Ich suche diese Punkte, von denen Roland Barthes sprach, die Punkte, die uns ins Stocken bringen. Sind es die «Basler Läckerli» auf dem Tisch von Pater Theo Theiler auf Photo 21, das gähnende Mädchen auf Photo 104 oder der hinter einem T-Shirt mit Totenköpfen verschwindende Lateinlehrer auf Photo 76? Die Photographien eröffnen eine Welt in der Welt, sie sprechen vom Bleiben und Vergehen. Ähnlich verhalten sich die Texte des Autors Erwin Koch. Sie lassen den Befragten Raum, und dieser Raum lässt sie erzählen. Werde Wort!

«Benediktiner ist man nicht global», sagt der Abt Daniel Schönbächler, «wir sind autonom.» Da denke ich an die Autonomie meines Sohnes. In Brig steige ich aus und reiche das Buch dem Kondukteur mit der Bitte, er solle es dem Jungen mit den dunkelblonden Locken im nächsten Wagen weitergeben. Er sei mein Sohn.

Tage später erhalte ich einen Anruf von Fabio und Maria, den Freunden, die meinen Sohn in Italien beherbergen, sie bedanken sich für das wunderbare Buch. Es sei wie eine Meditation.

vorgestellt von Francesco Micieli, Schriftsteller und Dozent, Bern

«Ein Buch über die Welt. Das Kloster Disentis». Mit Fotografien von Giorgio von Arb und Texten von Erwin Koch. Bern: Benteli, 2010

2 Gedehnte Gegenwart, globalisierte Kunst

«Gesichertes Wissen», wie es die Becksche Reihe darbieten will, ist im volatilen Bereich der Gegenwartskunst nicht zu haben. Der in Zürich lehrende Kunsthistoriker Philip Ursprung hat sich deshalb für einen Zugang entschieden, den er performativ nennt. Der Umstand, dass jede Geschichte der Kunst abhängig von einem subjektiven Standpunkt erzählt werden muss, soll zum Prinzip der Darstellung gemacht werden. Folgerichtig beginnt das Buch mit der Erinnerung des Autors an einen Abend in den 1970er Jahren, als sein Vater das Buch «Die Grenzen des Wachstums» nach Hause brachte, oder es werden Künstler ins Spiel gebracht, die Ursprung persönlich kennt, etwa Jeff Wall, Dan Graham, Ingrid Wildi oder Pipilotti Rist.

Das schmale, aber konzentrierte und anregende Bändchen ist damit weder eine Darstellung in der Art von «Die 50 bedeutendsten Künstler», die ein berechtigtes Bedürfnis nach Orientierungswissen auf oberflächliche Weise zu stillen versuchen würde. Noch ist es eine Überblicksdarstellung über Kunstrichtungen, die das Schwergewicht auf innerästhetische Probleme legen würde. Diese Aspekte werden zwar auch berührt – etwa wenn die Kunst der 1960er und 1970er Jahre unter dem Titel «Vom Objekt zum Prozess» dargestellt wird oder wenn für die 1980er Jahre von einem «Hunger nach Bildern» gesprochen wird. Die eigentliche Absicht geht tiefer. Es soll die seltsame Dehnung der Gegenwartskunst, die nun schon ein halbes Jahrhundert andauert, ihre longue durée, verständlich gemacht werden, und zwar jenseits ungenauer Begriffe wie Neo-Avantgarde oder Postmoderne.

Die «Kunst der Gegenwart», das ist die Kunst der Industrienationen zwischen 1960 und heute, und damit ist sie untrennbar mit der Globalisierung verbunden. Nicht, dass sie diese «ausdrücken» oder «abbilden» würde. Sie macht Veränderungen, die uns alle betreffen, spürbar, lange bevor sie begrifflich fassbar sind. So zeigen die seriellen Strukturen der Minimal Art ebenso neue Raum-Zeit-Erfahrungen wie die allgegenwärtige Figur des Loop. Oder es bringen Warhols Selbstporträts eine Entsubjektivierung zu einem Zeitpunkt zur Sprache, da noch die Emanzipation des Subjekts propagiert wird.

Der (etwas knapp abgesteckte) theoretische Rahmen, in dem Globalisierung gefasst werden soll – vor allem für die Zeit des langen Endes des Kalten Krieges –, ist «Empire» von Hardt und Negri (1993). Entsprechend interessiert sich Ursprung im letzten Kapitel auch für Kunstwerke, die am Rand des Empires sich diesem zu entziehen versuchen, etwa die chilenische Künstlergruppe CADA, oder Ai Weiwei.

Zentral sind die Überlegungen zum «Triumph des Museums». Mit der Documenta 5 unter der Leitung von Harald Szeemann (1972), so die These, entschied der Kurator den Kampf um die Deutungshoheit und Führerschaft auf dem Feld der Gegenwartskunst für sich. Fortan sollte endgültig nicht mehr der Kritiker beurteilen, was er ausgestellt findet, um auf diese Weise die Arbeit der Galerien zu bestimmen. Vielmehr legt der Kurator nun fest, was überhaupt ausgestellt wird, und beeinflusst so die (Preis-)Politik der Galerien. Damit hängt der von Ursprung diagnostizierte Niedergang der Kunstkritik ebenso zusammen wie die von der universitären Beschäftigung mit der Gegenwartskunst an den Tag gelegte Mühe, Distanz zum kulturindustriellen Betrieb zu finden.

Ursprungs Konzept einer performativen Kunstgeschichte stellt den Versuch dar, aus dieser Not eine Tugend zu machen. In der Offenlegung persönlicher und institutioneller Verflechtungen soll die Herrschaftsweise des Empire wenigstens transparent gemacht werden. Hier liegt der heimliche Sinn, warum uns der Autor selbst aus einer der Abbildungen schelmisch entgegenlächelt und dabei das Nationalstadion in Peking von Herzog & de Meuron, das zu sehen sein müsste, ostentativ verdeckt. Das Performative öffnet durch das offene Verstellen den Blick.

vorgestellt von Jürg Berthold, Privatdozent für Philosophie, Zürich

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVIII

Philip Ursprung:

«Die Kunst der Gegenwart. 1960 bis heute». München: Beck, 2010

3 Zombies in den Bäumen

Die eigene Vergänglichkeit hat die Menschen seit je beschäftigt. Im Motiv des Totentanzes findet dies seinen Ausdruck. Die beiden Bieler Künstler M.S. Bastian und Isabelle L. erneuern diese alte Tradition mit modernen Ausdrucksmitteln. Auf einem 64-teiligen Leporello entfaltet sich vor uns eine grausliche schwarz-weisse Apokalypse. Zombies hängen in den Bäumen, Totenschädel schwirren am Himmel, Krakenköpfe geifern. Es regnet Verderben. Hochhäuser stürzen zusammen, die Endzeit ist nah: memento mori.

Die beiden Künstler illustrieren den Weltuntergang in zeitgemässer Bildsprache, schwankend zwischen Horror und Lächerlichkeit. Im Gewimmel bleiben alle Figuren anonym, einzig ein Hitler-Popanz zeigt sich erkennbar. Indem sich Anfang und Ende nahtlos zueinanderfügen, bildet die «Bastokalypse» ein auswegloses Rund-Panorama, das im Original die stattliche Länge von 52 Metern aufweist. Die Zukunft ist die Vergangenheit. Walter Benjamins «Engel der Geschichte» vervielfältigt sich hier zum Schwarm, der von den Stürmen des Fortschritts richtungslos umhergewirbelt wird.

Mit diesem beeindruckenden Szenario setzen M.S. Bastian und Isabelle L. ihre früheren Projekte fort. Sie zeichnen mit den Mitteln einer populären Zeichensprache – Comic, Heavymetal-Trash – eine Vision der Gegenwart und variieren darin spielerisch bekannte Motive aus der Kunstgeschichte. Mit diesem Mix demonstrieren sie die Ambivalenz der Todessymbolik zwischen Hochkultur und Trivialität.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Literaturnetzwerker, Luzern

M.S. Bastian,

Isabelle L.: «Bastokalypse». Zürich:

Scheidegger & Spiess, 2010

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVIII

4 Gewöhnliche Menschen

Sie kann es einfach nicht lassen: elf Geschichten, elfmal die Chance, etwas Neues zu probieren; doch sie bleibt bei ihrem Thema, und so finden sich überwiegend biographische Skizzen in Alexandra Lavizzaris aktuellem Erzählband. Gott sei Dank. Dieses Metier beherrscht sie im grossen und ganzen souverän. Geschult an Künstlerbiographien über die unterdrückte Malerin Gwen John (2001), die Brieffreundinnen Carson McCullers und Annemarie Schwarzenbach (2008) oder die literarischen Nachbarskinder Harper Lee und Truman Capote (2009), wagt Lavizzari sich in «Flucht aus dem Irisgarten» nun an Durchschnittsmenschen – eine weit schwierigere, weil gewöhnliche Spezies. Doch auch die Lebensläufe dieser «Gewöhnlichen» bieten vielfach lesenswerte, teilweise betrübliche, teilweise spannende Schicksale, wobei die aus Basel stammende Autorin nie vergisst, dass sie eben von diesen «Gewöhnlichen» schreibt. In den Geschichten werden Chancen vertan, gewichtige Momente übersehen, bleiben Bedürfnisse unerfüllt, ohne dass die Welt, die Heimatstadt, die Nachbarschaft oder die Familie den Atem anhält.

Lavizzari versteht es zumeist, einen exakt beschreibenden Ton zu treffen, den schlichten Figuren und ihren einsamen Nöten gerechtzuwerden, ohne in platte Phrasendrescherei auf der einen oder weihevolle Ergriffenheit auf der andern Seite abzugleiten. Wenn sie abgleitet, dann in kindlich-versponnene Naturmagie. So enden die drei schwächsten Geschichten in nichtssagender Phantasterei, als wären ehemals gestrichene Episoden aus Michael Endes «Unendlicher Geschichte» zweitverwertet worden. Trotzdem gedeihen im «Irisgarten» weitgehend gelungene Geschichten über die «Gewöhnlichen», von denen so manche dann doch auch Künstler sind… – sie kann es einfach nicht lassen.

vorgestellt von Michael Harde, Lehrer & Eifelbauer, Schalkenbach

Alexandra Lavizzari: «Flucht aus dem Irisgarten». Oberhofen: Zytglogge, 2010

5 Coming-out, postum

«Mein Vater starb nur wenige Wochen nach meiner Geburt. Mir blieb nichts als ein Foto.» Alain Claude Sulzers Roman beginnt wie ein kriminalistisches Rätsel. Jahrelang ist der siebzehnjährige Erzähler achtlos am Porträt des ihm unbekannten Mannes vorbeigegangen, bis er plötzlich geheimnisvolle Hinweise darauf zu entdecken glaubt, die seine Neugierde wecken. Die Tatsache, dass der Vater freiwillig aus dem Leben schied, die Mutter aber jede Auskunft über die Umstände seines Todes verweigert, macht das Geheimnis nur noch grösser. Eine Adresse auf der Rückseite des Fotos führt den Erzähler nach Paris. Hier begegnet er André, einem ehemaligen Schulfreund des Vaters in den Nachkriegsjahren, der in Paris ein zwielichtiges Fotoatelier betreibt und sich mit jungen Männern umgibt. Seine Auskünfte, der Vater sei ein Opfer der Umstände der damaligen Zeit geworden und habe sich auf Drängen der Eltern in eine Nervenklinik einweisen lassen, «bis er sich in ihren Augen wieder normalisiert hatte», weiss der naive Erzähler nicht zu deuten.

Das folgende Kapitel, aus der Perspektive des Vaters – Emil – erzählt, lässt das feinfühlige Charakterbild eines jungen Mannes entstehen, der sein Anderssein in der spiessbürgerlichen Enge der fünfziger Jahre als Unheil, Krankheit und persönliches Versagen empfindet und sich verstört in sich selbst zurückzieht. Erst André ermutigt ihn dazu, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen, doch besitzt Emil nicht dessen Selbstbewusstsein, sich konsequent über die Erwartungen und Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft hinwegzusetzen. Stattdessen übernimmt er die ebenso verquaste wie hilflose Sichtweise der Nachkriegsmedizin, die ihm eine «latent perverse, infantile Persönlichkeit» attestiert und allein darauf hofft, der Defekt werde sich schon irgendwie auswachsen. Emil flüchtet sich in die Beziehung zu einer jungen Frau und kurz darauf in die Respektabilität der Ehe. Schon bald aber muss er erkennen, dass die selbstverordnete Heirat «schwache Medizin» und ohne nennenswerte Wirkung ist.

Alain Claude Sulzer erzählt die Geschichte wie gewohnt mit äusserster Zurückhaltung und unter Verzicht auf plakative Effekte. Die Distanz, die der Autor zu seinen Figuren wahrt, unterstreicht die Glaubwürdigkeit der Erzählung, geht es doch um eine Zeit, in der das Eingeständnis geheimer Wünsche und erst recht das öffentliche Reden darüber nahezu undenkbar waren. Als wenig glücklich erweist sich hingegen der Einfall, das in den fünfziger und frühen siebziger Jahren spielende Geschehen in einigen kurzen Erzählpassagen bis in die Gegenwart zu verlängern. So bekennt der Ich-Erzähler, inzwischen selbst Vater eines erwachsenen Sohnes, dass er seinem Sohn nie etwas von den Geschehnissen um seinen Vater erzählt habe, weil er ihn damit «vielleicht belastet hätte».

Diese Haltung entspricht in fataler Weise dem einstigen Verschweigen der Mutter und setzt den Vater ein weiteres Mal ins Unrecht. Damit unterläuft Alain Claude Sulzer jenes Plädoyer für mehr Toleranz und Menschlichkeit, als das sich sein Roman über weite Strecken liest. Der letzte Satz der Geschichte, «später vielleicht», ist da nur ein schwacher Trost.

vorgestellt von Georg Deggerich, Übersetzer, Krefeld

Alain Claude Sulzer: «Zur falschen Zeit». Berlin: Galiani, 2010

6 Die Rösti als Erinnerungsort

Die Idee ist nicht neu. Vor über zehn Jahren erschien in Frankreich, herausgegeben vom Historiker Pierre Nora, ein umfangreiches Werk in drei Bänden, unter dem Titel «Les lieux de mémoire». Unterstützt von zahlreichen wissenschaftlichen Mitarbeitern, unternahm es Nora, gewisse «Erinnerungsorte» der französischen Geschichte in kurzen Aufsätzen vorzustellen. Unter «Erinnerungsorten» verstand er bestimmte historische Tatbestände, Personen und Mythen, die er als zum Fundus des kollektiven Bewusstseins seiner Nation gehörig betrachtete. Vollständigkeit war nicht angestrebt; aber ein gewisser Ehrgeiz war unverkennbar, all das zu erfassen, was die geschichtlich gewachsene nationale Identität ausmacht. Dem erfolgreichen französischen Vorbild folgten 2001 drei von den Historikern Etienne François und Hagen Schulze herausgegebene Bände über «Deutsche Erinnerungsorte». Das deutsche Werk war weniger ambitiös als das französische, basierte aber auch auf der Mitarbeit namhafter Historiker.

Nun hat der Basler Historiker Georg Kreis, diesmal im Alleingang, ein Buch über «Schweizer Erinnerungsorte» geschrieben. Der wissenschaftliche Leistungsausweis dieses Historikers ist so unbestritten, seine Kenntnis schweizerischer Geschichte und Zeitgeschichte ist so imponierend, dass Georg Kreis es sich leisten kann, das Thema locker anzugehen, mit dem spürbaren Bedürfnis, sich selbst und seinen Lesern ein Vergnügen zu machen. Er hat insgesamt 26 schweizerische «Erinnerungsorte» ausgewählt, unter anderem «Rütli», «Heidi», «Solddienste», «Bernhardiner», «Grand Hôtel», «Rösti», «Soldatenmesser», «Swissair», «Bankgeheimnis». Diesen und andern «Erinnerungsorten» widmet er Essays, die unterschiedlich lang und verschiedenartig strukturiert sind. Einmal fasst er sein Thema weit – so, wenn er unter dem Stichwort «Solddienst» auch die Fremdenlegion und das Heimweh ins Auge fasst; dann wählt er ein bestimmtes Beispiel, etwa wenn er sich unter dem Stichwort «Grand Hôtel» auf das Grand Hôtel von Locarno beschränkt. Einmal betont er die Gegenwart, etwa wenn er beim Stichwort «Rösti» die Diskussion über den «Röstigraben» ins Zentrum rückt; oder er schaut in die Vergangenheit, etwa wenn er der Herkunft der Bernhardinerhunde nachspürt.

Natürlich weiss Kreis, dass der Begriff «Erinnerungsort» wissenschaftlich unscharf ist und dass jede Nation, jeder Kanton, jedes Individuum sich eigene «Erinnerungsorte» schaffen kann. So wird denn keine These und keine abschliessende Erkenntnis formuliert; aber wir erfahren aus Kreis’ Buch viel Interessantes und Vergnügliches zur Schweizer Geschichte, und wir lernen begreifen, dass Geschichte kein abgeschlossener, objektiv feststellbarer Tatbestand ist, sondern das wandelbare Bild, das unsere Erinnerung sich von einem vermeintlich solchen macht.

vorgestellt von Urs Bitterli, Prof.em. für Geschichte, Gränichen

Georg Kreis: «Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness». Zürich: NZZ Libro, 2010

7 Alpen. Geht es auch ohne?

Dieses Buch erinnerte mich anfangs an eine Freundin, die zwei Jahre in Shanghai leben musste und dort unter der Überbevölkerung litt. Nirgendwo sei Platz, meinte sie, selbst im Park sehen man vor lauter Chi-Gong übender Menschen kein Grün mehr. Sie machte sich mit ihrer Kamera auf und fotografierte freie Plätze, waren sie auch noch so klein, eine Art künstlerische Überlebensstrategie. So entstanden Fotos von einem Stück Rasen ohne Menschen, von einem gepflasterten Platz ohne Leute, von einem Stück Strasse ohne Autos… alles mühevoll und mit Geduld gesucht. Aber ach, diese Rasenstücke, Plätze, Strassen hätten ebensogut in Bruck bei Erlangen, Dayton/Ohio oder in Sydney aufgenommen worden sein können, es war einfach nur Rasen, Pflaster… Und, ehrlich gesagt, die Chi-Gong übenden Massen hätten mich viel mehr interessiert.

Die Alpen, möchte ich fast mit modischem Wort anzumerken wagen, sind ein Alleinstellungsmerkmal der Schweiz (Österreicher bitte weggucken), ähnlich wie Uhren, Schokolade, Schweizermesser. Dennoch war ich voller Interesse und Verständnis, als ich die Verlagsankündigung und später die Einleitung der vorliegenden Publikation las. Die Schweizer Identität sei aufs engste mit den Alpen verbunden, ein sich verselbständigendes Klischee sei das, und erstmals «thematisiert das vorliegende Buch die künstlerische Darstellung alpenloser Schweizer Landschaften und vermittelt ein neues, ungewohntes Bild der Schweiz».

Ein wenig irritierte mich dann schon, wie umständlich erklärt werden musste, dass auch «ein kurzer Text ebenso ein Bild sein kann wie ein gemaltes». Was dann aber an Exponaten und Kommentaren aneinandergereiht wurde, wirkte wie unfreiwillige Komik, gepaart mit viel gutem Willen. Ich wäre die letzte, die Zersiedelung und Verstädterung als ein unwichtiges Thema betrachten würde; doch die Präsentation der Thematik innerhalb dieses Bandes, der eine Ausstellung im Museum zu Allerheiligen (bis zum 26. September 2010) in Schaffhausen begleitete, ist in ihrer Banalität und Austauschbarkeit verblüffend.

Ein Kapitel ist der Frage gewidmet: «Wie KünstlerInnen langweilige Landstriche wahrnehmen» – nun möchte ich rufen: «Hallo, Schweiz war das Thema! Vergessen?». Dann folgt das Kapitel «Magische Orte», dessen Text mich an den Komiker Loriot erinnert – hier: Loriot macht eine Bildbesprechung, ähnlich der «Lektüre des Fahrplans». Die natürlich immer interessante Frage «Was ist ein Bild in der Lage zu zeigen und was nicht?» wird durch die absolut schräge Interpretation des Bildes «Wasserfallfinsternis» von Valentin Hauri, eines der interessantesten Exponate vielleicht, als Beispiel für «ausserirdisches Schauspiel» angeführt, danach folgt ein Beispiel für die «Rückkehr des Magischen» in der Malerei, gar die «Landschaft als Bühne für die Niederkunft des Magischen», die an Komik nur übertroffen wird durch ein Gedicht über Schafe, Thema: «Landwirtschaftliche Landschaften». Immerhin taucht auf den folgenden Seiten ab und zu das Wort «Schweiz» auf, die Zwischenüberschrift «Die verschwundene Schweiz» wirkt nun bereits wie Selbstparodie.

Sehenswert, das soll noch angemerkt werden, ist die Abbildung des Werkes «Cervelat» der Künstler Monica Studer und Christoph von den Berg, ein wirklich guter Beitrag zu dem im Anfang so spannungserzeugend entfalteten Thema, für dessen Vorkommen sich der Kurator des Bandes aber entschuldigen zu müssen glaubt. Dieses Bild ist unverkennbar Schweiz, mit viel Schweiz, doch ganz ohne Alpenpanorama. Und stimmt gerade deshalb traurig – hätte so schön sein können!

vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Germanistin, Erlangen

Markus Stegmann (Hrsg.): «Schweiz ohne Schweiz. Alpenlose Landschaften». Zürich: Scheidegger & Spiess, 2010

8 Alpen. Im Sammelband immer mit

Wie wirklichkeitsnah und gegenwartsrelevant sind die gängigen Bilder, die man sich von der Schweiz macht? Variation und Kritik der identitätsstiftenden Schweizer Mythen wurden insbesondere in der Literatur und der Essayistik formuliert – man erinnert sich an entsprechende Einlassungen von Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Adolf Muschg oder Hugo Loetscher. Ob die Auseinandersetzung mit der Heimat und der Kampf gegen deren Mythen auch jüngere Schriftstellergenerationen noch intensiv beschäftigt, ist allerdings nicht klar. Mit Neugier lässt man sich daher auf die Lektüre von «Schweiz schreiben» ein.

Leider handelt es sich um einen recht gewöhnlichen germanistischen Sammelband, hervorgegangen aus einer 2006 in Dublin abgehaltenen Tagung, einen Band mit fast allen lässlichen Sünden, die dieses Genre seit Jahrzehnten in Verruf bringen: nicht immer einsichtige Zusammenstellung der Beiträge, teils willkürlich erscheinende Auswahl der verhandelten Themen, und immer wieder auch sprachliche Verstiegenheiten. Die an den Anfang des Buches gestellte Rede von Adolf Muschg kann getrost überblättert werden. Nicht aber die instruktive Einleitung der Herausgeber Jürgen Barkhoff und Valerie Heffernan, und auch nicht die beiden unter das Motto «Mythos Schweizerliteratur» gestellten Beiträge von Peter von Matt und Michael Böhler. Jener stellt nüchtern fest, dass die traditionelle politische Mythologie der Schweiz für heutige Literaten wie für die heutige Germanistik «immer belangloser» werde – weshalb er sich, scharfsinnig wie immer, auch lieber mit Keller, Gotthelf, Dürrenmatt und Frisch beschäftigt. Böhler sieht auch heute gute Schriftsteller am Werke, «welche die Schweiz aufräumen oder einräumen, umräumen oder abräumen, auch gelegentlich das Feld räumen und das Weite suchen».

Dem «Mythos Alpen» widmen sich vier Aufsätze – unter anderem werden Franz Bönis mythische Bergwelten umkreist und die Spuren von Albrecht von Hallers «Alpen» (1729) in Alois Brandstetters Erzählung «Almträume» (1993) vermessen. Peter Bichsel, Peter Weber und Herbert Meier haben den «Mythos Eidgenossenschaft» literarisch variiert. Und dem «Mythos Sonderfall» sind drei erhellende Studien zugeordnet, in denen es unter anderem um Thomas Hürlimann und Otto Marchi geht. Auch ein «Mythos Multikulturalität» wird postuliert, in diesem Abschnitt gehe es wild durcheinander zwischen dem «Röschtigraben»-Mythos, Literarischem von Yusuf Yesilöz und Dragica Rajčić sowie Beat Sterchis Roman «Blösch» (1983). Germanistisches zu Ruth Schweikert, Peter Stamm, Zoë Jenny und Jürg Laederach kann man auch noch lesen, und weil die Tagung in Irland stattfand, steht ein Vortrag über das «keltisch-helvetische Netz» in Gabrielle Alioths Kinderromanen am Ende eines im Detail sehr lehrreichen, insgesamt aber etwas langweiligen und tendenziell beliebigen Sammelbandes.

vorgestellt von Klaus Hübner, Germanist & Redaktor, München

Jürgen Barkhoff & Valerie Heffernan (Hrsg.): «Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegen-wartsliteratur». Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2010

9 «Bonstettiana», letzter Band

Forschungsförderung in den Geisteswissenschaften ist derzeit vor allem eines: exzellenzbeflissen. Und als exzellent gilt dabei meist das, was – hermetisch betitelt und jargonlastig formuliert – ohnehin nur sehr wenige Eingeweihte zu interessieren scheint. Mit anderen Worten: klassische Editionsprojekte, als die einstigen Flaggschiffe der Grundlagenforschung in den philologisch ausgerichteten Fächern, haben es unter den gegebenen Umständen schwer, sogar sehr schwer. Solche Vorhaben also, in denen das Werk einer Persönlichkeit der Geistesgeschichte textgenau erschlossen und durch, häufig mühsamste, Quellen- und Handschriftenstudien kontextualisiert wird. In den modisch aufgebrezelten Forschungsportfolios der Förderinstitutionen werden sie längst als unzeitgemässe Altlasten gebucht und wo immer möglich marginalisiert.

Umso mehr zu bewundern ist daher die Beharrlichkeit der Herausgeber der «Bonstettiana». Mit dem vorliegenden Band schliessen sie ihre seit 1996 erscheinende historisch-kritische Gesamtausgabe der Schriften des Schweizer Intellektuellen Karl Viktor von Bonstetten (1745–1832) ab. Unbeeindruckt von kurzlebigen akademischen Strömungen haben sie diese imposante Edition auf der Basis eines bereits seit 1980 aufgebauten, rein privaten Archivs erarbeitet. Unbeirrt auch von gewaltigen finanziellen Hürden, haben sie zudem immer wieder Wege gefunden, die Erträge ihrer Arbeit zu veröffentlichen. Die derart manifest werdende Wertschätzung für den hochgebildeten Schriftsteller speist sich dabei keineswegs allein aus einem rein historischen Interesse.

Der Denker Bonstetten, der seine feine Konversationskunst in zahlreichen Briefen und seinerzeit sehr verbreiteten Essays bis ins hohe Alter stetig kultiviert hat, dieser gelehrte Kopf hat uns heutigen Lesern manche nach wie vor bedenkenswerte Einsicht mitzuteilen. Hinsichtlich der nationalen Eigenheiten der Europäer etwa, die der weitgereiste Kosmopolit in der hier neu übersetzten Studie «L’homme du Midi et l’homme du Nord» vergleichend beschreibt, finden sich ebenso aktuelle wie sperrige Positionen. Was Bonstetten beispielsweise in seinem «Exkurs über die Mundarten» über den spezifisch deutschschweizerischen Umgang mit dem Deutschen zu sagen hat, würde freilich in den gegenwärtigen Diskursen nicht eben als politisch korrekt gelten: der «alemannische Teil der Schweiz» habe die «ungeschliffenste Sprache», und die «Aussprache» namentlich der Zürcher sei so «schwerfällig und unharmonisch», dass man Mühe habe «zu bemerken, dass diese Laute Gedanken ausdrücken». Eher nüchtern konstatiert er, was heute einen medialen Aufschrei erzeugen würde: «Solange den Müttern die Sprache, die ihre Kinder erlernen sollten, selber nicht geläufig ist, bleibt das Deutsche für die Schweizer eine tote Sprache.» Jenseits solcher Polemik bleibt festzuhalten: der den «esprit européen» (Sainte-Beuve) wie kaum jemand sonst in seiner Zeit repräsentierende Bonstetten verwahrte sich erkennbar gegen jegliche sprachliche, kulturelle und nationale Selbstbezüglichkeit, weil sie grenzüberschreitendes Denken und damit zivilisatorischen Fortschritt behindere.

vorgestellt von Anett Lütteken, Germanistin, Bern

Charles Victor de Bonstetten: «L’homme du Midi et l’homme du Nord. 1810–1826». 2 Bde. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von D. & P. Walser-Wilhelm. Göttingen: Wallstein, 2010

10 Die Grenzerfahrung der Kraxlerin

In den Bergen herumzuklettern ist gefährlich. Einem geborenen Flachländer wie dem Rezensenten, der sich auch in den Alpen grundsätzlich auf festen Wegen bewegt, muss das nicht erklärt werden. Was Menschen dazu bringt, sogenannte Grenzerfahrungen zu sammeln, indem sie sich mit Hilfe von Seilen, Klammern und Haken steile Felswände hochbewegen, wird ihm auf ewig ein Rätsel bleiben. Schon aus diesem Grund hat er «Finale», den dritten Kriminalroman des Zürcher Schriftstellers Emil Zopfi um die Bergführerin Andrea Stamm, mit einer Mischung aus Befremden und Faszination gelesen.

Eine Kletterwoche in Finale Ligure geht ihrem Ende zu. Die fünfköpfige Gruppe der erfahrenen Kraxlerin hat sich nicht als besonders pflegeleicht erwiesen. Aber das ist Routine für sie. Ein «zerstrittenes Paar, einen eingebildeten Schwätzer, eine frustrierte Single und einen melancholischen Alten» – mit einer solchen Mischung ist sie nicht zum erstenmal konfrontiert. Was sie nicht ahnt: dass sich auch jemand mit mörderischen Absichten unter ihnen befindet. Sie selbst wird zum Opfer eines Mordanschlags, der wie ein verhängnisvoller Unfall aussieht, und überlebt nur knapp.

Während unsere Heldin also schwerverletzt im Spital liegt, versucht nicht nur die Polizei, sondern auch ihr Freund Daniel herauszufinden, was wirklich passiert ist. Der Leser ahnt bald, dass des Rätsels Lösung mit jener rätselhaften Teilnehmerin zu tun hat, die nach dem Sturz spurlos verschwunden ist, und findet sich zum Ende des Romans in einem simpelgestrickten, wenig überraschenden Krimiplot wieder.

Glücklicherweise aber hat Emil Zopfi mehr zu bieten als die banale Jagd nach dem Täter. Zwar sind seine Figurenzeichnungen nicht immer frei von Klischees; doch jene Charaktere, denen er seine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lässt, überzeugen durch eine für das Genre nicht alltägliche Komplexität. In den behutsam formulierten, sensiblen Psychogrammen, die Zopfi ihnen widmet, liegt der Reiz dieses Romans.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Lehrer und Redaktor, Recklinghausen

Emil Zopfi: «Finale». Zürich: Limmat, 2010

11 Sprachehen

Schriftsteller müssen in der Sprache des Landes schreiben, in dem sie leben, nicht oder nicht nur in jener, aus der sie herkommen, wenn ihre Werke ein unübersetztes Originaldasein geniessen wollen. Deshalb bedienen sich viele mehr als einer Sprache. Oder sie schreiben in der einen und übersetzen dann selbst in die andere. Wie aber geht das genau vor sich? Besteht nicht die Gefahr, zwischen Sprache und Sprache zu fallen? Gibt es nicht eine Todeszone der Sprachlosigkeit, die sich zwischen alle Sprachen schieben kann?

Das angezeigte Buch versammelt 14 kurze, mit vielen Interviewpassagen aufgelockerte Porträts mehrsprachiger Autorinnen und Autoren – in die Schweiz verschlagener oder schon hier geborener. Nicht das Sprachliche allein wird verhandelt, auch die Migrantenexistenz, das Leben zwischen Ländern und Welten. Den Lebensbeschreibungen folgen jeweils kurze Textauszüge.

Zsuzsanna Gahse, aus Ungarn, ist wohl die bekannteste portraitierte Autorin des Bandes. Sie verlor, als sie eine neue Sprache lernte, keine Kultur, sondern gewann weitere Kulturen hinzu. 2006 erhielt sie den Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert-Bosch-Stiftung, der an Schreibende verliehen wird, «deren Muttersprache und kulturelle Herkunft nicht die deutsche ist [und] die mit ihrem Werk einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Literatur leisten». Ein anderes Porträt gilt einer Schriftstellerin aus Senta in der Wojwodina, einer autonomen ungarischen Provinz Serbiens. Nach dem Ungarischen wurden Hochdeutsch und Schweizerdeutsch ihre zweite Heimat: Melinda Nadj Abonji. Seit ihrem Buch «Tauben fliegen auf» der Deutsche Buchpreis zugesprochen wurde, ist sie präsent in allen Feuilletons, und die Schweizer feiern sie als eine der Ihren, obwohl sie nach der Preisverleihung sagte: «Ich bin eine ungarische Serbin, die in der Schweiz lebt.»

Die Porträts verschaffen Einblick, aber sie führen nicht immer in die Tiefe. Was ist die besondere Qualität von Werken mehrsprachiger Autoren? Gibt es Unterschiede, ob man vom Ungarischen zum Deutschen oder vom Englischen zum Deutschen oder vom Deutschen zum Ungarischen kommt? Ist Zweisprachigkeit dem Schreiben förderlich? Wie unterscheiden sich die Mehrsprachigen von den Schweizern, die zwischen dem mündlichen Dialekt und dem schriftlichen Hochdeutsch wechseln? Von Glück und Verzweiflung der zwischen Sprachen Zerrissenen, der von allen Sprachen Verlorenen, der zum Wunder der über allen Sprachen angesiedelten Sprache Vorgestossenen ist kaum die Rede, und man hört von niemandem, dass er daran zugrunde gehen könnte, weil er in keiner der Sprachen das richtige Wort findet.

Am engsten umkreist dieses Rätsel Beat Mazenauers subtiles Porträt Arno Camenischs. Er erläutert die Differenz zwischen transgressio und translatio, zwischen Überschreiten und Übertragen. «Während ein Autor selbst die Sprachgrenze überschreitet, trägt ein Übersetzer den Text eines Autors in die andere Sprache hinüber.» Camenisch arbeitet mit Leihwörtern, mit klanglichen und lexikalischen Nuancen. Er schafft genuine Zweisprachigkeit, Texte in zwei Sprachen, die nicht übersetzt sind, sondern Kunstprodukte, die mit mehreren Idiomen arbeiten.

Querdurch ist zu lernen: der Grad an Selbstverständlichkeit und Komfort, den das Wohnen in einer Sprache annimmt, ist bei jedem anders. Mehrsprachige scheinen allgemein mehr von aussen an die Wörter heranzugehen. Ihr Schreiben in nur einer Sprache atmet stets ein Quantum Fremdsprachlichkeit, Setzung und Übersetzung; dies macht den gewaltigen Abstand der kulturellen Räume hinter den Sprachen ahnbar.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Rechtsanwalt, Zürich

«Mutter, wo übernachtet die Sprache? 14 Porträts mehrsprachiger Autorinnen und Autoren in der Schweiz». Zürich: Limmat, 2010

12 Kein Dorf zu klein, eine Welt zu sein

Seine Heimat, das sind fünfundzwanzig Häuser, acht Heustalls, eine Autogarascha, der Bahnhof mit der Poscht, das Cuafförhaus, eine Telefoncabina, der Kiosk, der Usego und die Helvezia. Der Weiler am Berghang hinter dem Bahnhof ist sein Universum. Der Erzähler in Arno Camenischs neuestem Buch «Hinter dem Bahnhof» ist ein Junge im Vorschulalter. Seine Beobachtungen und Erlebnisse sind wie Miniaturen, die uns die Menschen des Bergdorfs mit ihren Gepflogenheiten und Marotten näherbringen. Das Dorf des erzählenden Jungen ist bevölkert von schrulligen, witzigen wie auch tragischen Dorforiginalen. Für den Lausebengel sind jedoch sein rauchender Tat, die Fraurorer aus Chur, der Giacasep vom Schrubasladen, der Gion Bi vom Usego, die Marina vom Kiosk und der Tonimaissen vom Bahnschalter Teil des alltäglichen Dorfinventars. Die Erzählung aus dem Kindermund ist in ihrer Arglosigkeit ungekünstelt, schonungslos und wertungsfrei.

Arno Camenisch stammt aus Tavanasa, einem Weiler des Dorfes Brigels im Bündner Oberland. Die Prosa des Zweiunddreissigjährigen ist vom Genre des spoken word geprägt. Wie bei seinem Erstling «Sez Ner», liegt auch in «Hinter dem Bahnhof» ein Augenmerk seines Schreibens auf der Sprachschöpfung, dem Sprachspiel und dem Sprachrhythmus. Camenisch kreiert aus der Verschmelzung des Schriftdeutschen, des Schweizerdeutschen und des Rätoromanischen ein sperriges Provinzpatois, das das Antiidyllische und Kantige seiner Erzählung widerspiegelt. Seine Kunstsprache zeugt davon, dass es sich um die Erzählung eines romanischsprachigen Kindes handelt, das des Schreibens noch nicht mächtig ist. Was im Deutschen als syntaktische Verrenkung dasteht, ist rätoromanischer Satzbau mit deutschen Worten. Was als schlechte Orthographie oder falsche Pluralendung daherkommt («Gurcas», «Cäfics», «Ohrawärmers», «Schrubzvingas», «Abcürzics»), ist eine vom Rätoromanischen markierte Aussprache deutscher Wörter.

Der eigentliche Clou an Camenischs Kunstsprache ist die Umkehrung: gerade diejenigen Substantive, die in der rätoromanischen Alltagssprache als Germanismen empfunden werden, fallen hier dem deutschsprachigen Leser als vom Romantschen verunstaltet auf. Es ist eine der vielen Qualitäten dieses Textes, dass es Camenisch ganz unaufgeregt gelungen ist, dem deutschsprachigen Leser die Irritation der Rätoromanen angesichts der vielen ihre Sprache durchdringenden Germanismen erfahrbar zu machen.

vorgestellt von Rico Franc Valär, Rätoromanist, Zürich

Arno Camenisch: «Hinter dem Bahnhof». Holderbank: Engeler, 2010

13 Oh Mensch! Gib acht! Was beten die Rehlein zur Nacht?

In «Cassell’s Encyclopedia of World Literature», erschienen 1954, war zu lesen, dass Christian Morgensterns Gedichte «praktisch unübersetzbar» seien. Ein Übersetzer, der das sah, stand eines Tages plötzlich da und übersetzte Morgenstern. Wer war er? Geboren 1909 als Max Kühnel in Pilsen, musste er, Mann des Geistes und Wortes jüdischer Herkunft, 1938 vor den Mördern fliehen und konnte sich in Kalifornien unter dem Namen Max Knight ein neues Leben gründen. 1962 veröffentlichte er seine Auswahl aus Morgenstern in einer zweisprachigen Ausgabe: «Gallows Songs and Other Poems». Er starb 1993.

Niklaus Peter, Pfarrer am Zürcher Fraumünster und Publizist, hat nun Knights Werk neuaufgelegt. Zunächst musste Peter dem Lebensweg Knights nachspüren und die amerikanischen Rechte bei dessen Söhnen, Anthony und Martin, einholen. Auch der Piper-Verlag, der die «Songs and Poems» 1972 herausgegeben hatte, gab seine Zustimmung. Frucht dieser Ermittlungen und sorgfältiger Arbeit ist ein schönes Büchlein in der Reihe «Schwabe reflexe». Am letzten Sonntag des Septembers wurde es in einem Saal des Hotels Waldhaus, Sils Maria, vorgestellt.

Niklaus Peter sprach, und am Flügel improvisierte dazu Rudolf Lutz, St. Galler Organist und künstlerischer Leiter der J.S. Bach-Stiftung. Auf 1’800 Metern über Meer hörten und sahen gegen siebzig Besucher, wie sich der Sprecher und der Pianist die Bälle zuwarfen, die Morgenstern und Knight ins Spiel gebracht hatten. Da am selben Tag das Nietzsche-Kolloquium endete, befanden sich im Publikum auch die Witwe des italienischen Nietzsche-Philologen Mazzino Montinari und die Enkelin Oscar Levys, der Nietzsche in England bekanntgemacht hat. Morgenstern widmete seine Spiele «Dem Kinde im Manne», und stellte sie unter einen Satz aus «Zarathustra»: «Im echten Manne ist ein Kind versteckt, das will spielen.» In der 15. Auflage lautete die bessere Widmung «Dem Kinde im Menschen». Wie spielt Knight mit dem unübersetzbaren Gebet der Rehlein?

Die Rehlein beten The does,

zur Nacht, as the hour grows late,

hab acht! med-it-ate;

Halb neun! med-it-nine;

Halb zehn! med-i-ten;

Halb elf! med-eleven;

Halb zwölf! med-twelve;

Zwölf! mednight!

Und was wird aus dem Seufzer, wenn er auf amerikanischem nächtlichem Eis Schlittschuh läuft? Was macht das Mondschaf am kalifornischen Himmel, wie entschreitet der ungeschneuzte Palmström in der neuen Welt und womit wird dort die teure Möwe Emma gefüttert? «The architect, however, flew / to Afri- or Americoo». Knight, der nach Amerika fliehen musste, gab dem Gedicht vom Lattenzaun vielleicht nicht zufällig die erste Stelle. Aus dem Raum zwischen der deutschen und englischen Sprachwelt baute er sich und uns ein neues Haus.

Der Romanist und Schriftsteller Iso Camartin sagte in einem Gespräch nach der Aufführung, an der Kunst Knights lasse sich das Wesen des Übersetzens erkennen. Was bedeutete das Übersetzen für Knight selbst? Peter erwägt sehr sinnvoll im kurzen, lehrreichen «Nachnachwort», ob Morgenstern Knights «portatives Vaterland» – wie Heinrich Heine das nannte – gewesen sei, das er mit sich trug und durchs Übersetzen rettete. Warum, könnte man noch fragen, gerade Morgenstern? Wohl wegen seines Humors und Ernstes, deren Verhältnis zueinander schwer zu bestimmen ist, die jedenfalls jenseits all jenes Pathos sind, das in Nietzsches Zarathustra («Oh Mensch! Gib acht! Was spricht die tiefe Mitternacht?») manchmal etwas dumpf klingt. Humor und Ernst machen das Spielen aus, und das Spiel verbindet Menschen, so dass sogar das Unübersetzbare sich der Übersetzung öffnet.

Das kleine Buch ist genau lektoriert. Es folgt, wie es zu einem anspruchsvollen Verlag passt, der herkömmlichen Rechtschreibung. Die wenigen Druckversehen sind schnell vergessen. Leserinnen und Leser, greift zu!

vorgestellt von Stefan Stirnemann, Gymnasiallehrer, St. Gallen

Christian Morgenstern / Max Knight: «Galgenlieder. Gallows Songs». Hrsg. Niklaus Peter. Basel: Schwabe, 2010

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