Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVII
10 Bücher, vorgestellt in der siebenundzwanzigsten Folge der «Schweizer Autoren in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.
1 Reiseregel: Sprich jeden Tag mit einer hübschen Frau!
Christoph Roth, ein frischdiplomierter Historiker und in einer frischen Liebe enttäuscht, verlässt, nach einem unglücklichen Kuss zwischen ihm und der Verlobten seines Bruders, seine Heimatstadt Chur Hals über Kopf, jedoch – um das Chaos im Innern einzudämmen – mit einigen Reiseregeln:
Nimm dein Mobiltelefon nicht mit auf deine Reise!
Wenn du weiterreisen möchtest, reise früh, ja, reise sogar vor neun Uhr!
Spare am Logis, nicht an der Kost!
Trink nicht zuviel!
Sprich jeden Tag mit einer hübschen Frau!
Folge Lorenz’ Gedichten!
Die 4. Regel hat Christoph bald wieder gestrichen und beherzigt diese Streichung mindestens genauso wie das Einhalten der verbleibenden fünf Regeln. Sie sind, abgesehen von der letzten, der wichtigsten, verständlich angesichts des Alters und des Geschlechts der Hauptfigur. Mit Lorenz’ Gedichten hingegen sind die Gedichte des verschollenen Bruders von Christophs Grossmutter gemeint, der Chur Jahre zuvor ebenso fluchtartig verlassen hat und angeblich aus den verschiedenen Stationen seiner Reise Gedichte anstelle von Postkarten geschickt habe.
Die Aussage des Grossneffen, er fliehe nicht, sondern folge Lorenz’ Gedichten, scheint nicht einmal ihn selbst zu überzeugen: einer Flucht zu folgen, das spricht für sich. Er macht sich auf die Reise, über Lavin, Meran und Venedig bis nach Rom, zuerst allein, bald jedoch mit Weggefährten, die – da ähnlich ziellos – sich ihm an schliessen.
Andri Perl, der Autor von «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel», ist 1984 in Chur geboren, Student der Germanistik an der Universität Zürich und vor allem als Mitglied der Rapcrew Breitbild bekanntgeworden. Für seinen Débutroman hat er sich ein klassisches Thema der realen wie der fiktiven Welt ausgesucht (die Reise eines Jünglings zwecks Selbstfindung), überträgt es jedoch in eine Welt, die seiner eigenen, mindestens dem äusseren Schein nach, ziemlich nahe kommt. Er stellt an den Anfang jedes Kapitels eines von Lorenz’ Gedichten und lässt dann Christoph an jenen Ort reisen.
Mit diesem strengen Schema wird erst in Rom gebrochen. Die Gedichte reisen allein weiter, und Christoph macht sich auf, seine Flucht in ein echtes Nachforschen nach seinem Gross-onkel umzuwandeln. Weite Partien dieses zweiten Teils des Romans nimmt die Erzählung des Professore Biancardi ein, des ehemaligen Reisebegleiters von Lorenz. Mit der Struktur wechselt auch der Erzählstil, von einem spielerischen, assoziativen Umgang mit der Sprache und der Erinnerung zu einer solideren, jedoch auch konventionelleren Erzählung der Tatsachen – die auch dem Geheimnis um Lorenz ein Ende setzt. Darüber geht die Selbstsuche Christophs vergessen. Er verwandelt sich in einen bedachten und klugen Zuhörer. Obwohl Lorenz’ Flucht sich als spektakulärer erweist als diejenige Christophs, ist das insofern schade, als der Roman damit in zwei Teile zerfällt, die erst am Schluss wieder – es sei nur so viel verraten: nicht sehr geschickt – verbunden werden.
Denn gerade aus den unbedeutenden, jedoch mit Liebe zum Detail beschriebenen Reiseerlebnissen, durchtränkt von Erinnerungen an die letzte durchzechte Nacht in seiner Studentenvilla oder den roten Perserteppich in Grossmutters Wohnung, sowie dem unentschlossenen Blick in eine uninspirierte, von der Vergangenheit verschieden gewollte Zukunft entsteht eine Schwebe, die gut zu einer Reise an einem heissen Sommertag mit unbekanntem Ziel passt.
vorgestellt von Claudia Keller, Germanistikstudentin, Zürich
Andri Perl: «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel». Zürich: Salis, 2010
2 Wie mit Zähnen in eine Glasscheibe genagt
Das Monstrum, so scheint es, hat auch einmal klein angefangen. Es zeigt sich anfangs karg, bescheiden, mit schlichtem Humor, mit «John und Joe»: zwei traurigen Gestalten, die an Stan Laurel und Oliver Hardy erinnern, sich gegenseitig beklauen und den Beklauten vom Geklauten auf einen Pflaumenschnaps einladen. Die Tragik ihres kümmerlichen Lebens wird verstärkt durch die naive Komik ihrer Handlungen und die Wortspiele ihrer lapidaren Gespräche. Sie geben einen ersten, leichtverdaulichen Einstieg in das dramatische Werk der in Neuchâtel lebenden Autorin Agota Kristof, das der Piper-Verlag unter dem Titel «Monstrum» herausgibt. Das gleichnamige Stück – ebenso leichtverständlich in den Dialogen, aber weitaus wuchtiger in der Handlung – schildert die unvermeidliche Selbstvernichtung einer Gesellschaft durch Anbetung falscher Götzen und die bilderstürmende Gegenreaktion. In seiner archaischen Brutalität erinnert es an Eugene O’Neills «Emperor Jones»; hier wie dort bricht die knapp unter der Oberfläche lauernde Gewaltbereitschaft unausweichlich durch, sobald Menschen sich zu Sklaven einer Idee oder Überzeugung machen. Dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Stücke Kristofs. «Die Epidemie» und «Die Strasse» ähneln – um einen weiteren Vergleich zu bemühen – Cormac McCarthys blutigen Geschichten aus dem texanisch-mexikanischen Grenzgebiet, wo das Gesetz des Stärkeren die Hoffnungslosigkeit des Schwächeren erbarmungslos entlarvt und kein Held, kein Ritter, kein Sheriff herbeieilt, um die Not zu lindern. Die Karikatur «Eine Ratte huscht vorbei» schliesslich zeigt auf einer zweigeteilten Bühne das Umschlagen von kultivierter Gediegenheit in zähnefletschende Feindschaft, sobald die Menschen sich nicht mehr mit Hilfe eingeschliffener Verhaltenskodizes, Kleiderregeln und Prestige-symbole abgrenzen können, sondern zusammengepfercht auf Wasser und Brot gesetzt sind.
Man ist versucht, das wiederkehrende Bild der Brutalität und der ihr ausgelieferten Opfer auf Agota Kristofs eigene Geschichte zurückzuführen. Die gebürtige Ungarin (geb. 1935) floh gegen ihren Willen mit Ehemann und vier Monate alter Tochter aus ihrer Heimat, während des Volksaufstands 1956, der so verheissungsvoll begonnen hatte, bevor er von den Panzern des Warschauer Pakts niedergewalzt wurde. Als Flüchtling begann Kristof ein neues Leben in Fontainemelon, als Arbeiterin in einer Uhrenfabrik, und sie hasste diesen Job. So liesse sich erklären, dass in all ihren Dramen die Opferperspektive im Vordergrund steht. Nie zeigt Kristof strahlende Sieger, ihre Figuren kämpfen gegen Ohnmacht und Hilflosigkeit, ausgedrückt in einer äusserst reduzierten Sprache.
Auch hier lässt sich vermuten, dass Kristof ihre eigene Situation in der Schweiz reflektiert. Sie schreibt auf Französisch, das sie mit 21 Jahren in fremdem Umfeld neu lernen musste, und man kann sich vorstellen, dass sie tagtäglich die Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit, ihre sprachliche Unterlegenheit erlebte. Ihr dramatisches Personal zeigt eine ähnliche Spracharmut, kann keine Gefühle ausdrücken und lässt jegliche spritzige Lebendigkeit vermissen, mit der Gespräche sprühen, dahinplätschern, aufkochen, versanden, Wellen schlagen, dümpeln oder wirbeln. Die Figuren sprechen formelhaft, schematisch und trocken, ihre Wortwahl ist simpel, die Syntax schlicht.
Es ist die Ausdrucksweise von Personen, die in der Sprache nicht zuhause sind, diese nicht als Ausdruck innerer Bedürfnisse benutzen können. Kristof bedient sich so der angelernten Sprache mit grosser Finesse, zeigt die fehlende Emotion, die Unfähigkeit zum Ausdruck von Zuneigung. Die Dialoge sind bitter, hart, nervenaufreibend und geprägt von einem beissenden Sarkasmus, als würden sie mit Zähnen in eine kalte Glasscheibe genagt. Es sind die Dialoge von Verlorenen, die nicht wissen, wie man aufgibt, sondern die immer weiterkämpfen, obwohl sie allgegenwärtig erleben, dass sie hoffnungslose Verlierer sind.
vorgestellt von Michael Harde, Lehrer & Eifel-Bauer, Schalkenbach
Agota Kristof: «Monstrum». München: Piper, 2010
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVII
3 Ein Lenzburger in Tokyo
Im Sandgarten des Ryoan-ji, eines der ikonischen Tempel Kyotos, begegnet sich das Land der aufgehenden Sonne selbst. Dort hat der Zen-Buddhismus seinen idealtypischen Ausdruck gefunden, die Meditation ihren Gartenbezirk, in dem nichts wächst ausser dem Moos. Der Betrachter geht an fünfzehn Steinen vorbei, die auf fünf Moosinseln in dem Kiessand angeordnet sind. Von keinem einzigen Punkt aus kann er jedoch alle Steine gleichzeitig sehen. Immer bleibt mindestens einer den Blicken verborgen. Die Lehre daraus ist mit Bedacht zu ziehen, wie man überhaupt in Japan zwischen drastischer Verlangsamung und Hochgeschwindigkeit hin und her geworfen wird. Keine Perspektive kann alles erfassen; jeder Blick ist relativ. Umfassend ist nur die Andacht, die Reflexion des Fragmentarischen.
Daniel Bürgin, der Lenzburger in Tokyo, dem wir bereits subtile Kurzgeschichten aus Japan verdanken («Kwannon», 2006), hat nun Essays über dieses Land vorgelegt, die an Anschaulichkeit und Dichte nichts zu wünschen übrig lassen. Sie sind ein Dokument wortfälliger Kulturvermittlung, aber auch der Anverwandlung des Anderen, dessen Eigenwert er respektiert, ohne das Japanische zu verklären. Es sind lebensweltliche Essays über ein Land, weil sie mitten aus dem Leben geschrieben sind, auf dem Weg zum heiligen Berg, dem Fuji-san; als Augenzeuge einer Kirschblütenhochzeit; als Flaneur in den Konsumhöllen Tokyos; als Gast in Spezialrestaurants, die den lebensgefährlichen Kugelfisch auf der Speisekarte führen, wobei wir lernen, dass mehr alte Menschen an Reiskuchen sterben als an Kugelfischverzehr. Bürgin zeigt aber auch, wie der Raum, das kostbarste Gut im überfüllten Tokyo, in den Tempeln und riesigen Bürokomplexen, im Marunouchi-Distrikt etwa, einer Leere huldigt, nein, die Leere heiligt, die so zu einem «fünften Element» wird.
Bürgin nimmt uns mit zu Kabukiveranstaltungen (nie, nie kann man sie vergessen, diese oft ins Schrille umschlagende, meist klagende, das Geschehen wohl auch untermalende Stimme des epischen Erzählers auf der Kabukibühne), in denen traditionellerweise Männer Frauenrollen übernehmen, er nimmt uns mit in die Takarazuka-Revuen, in denen Frauen beweisen, dass sich die Männer neutralisieren lassen. Wir finden uns mit ihm in einer Schwertschmiede wieder und lüften das Geheimnis des japanischen Lächelns. Wir lernen von ihm das Wort ganbarimasho (durchhalten, sich durchbeissen, aber auch: auf die Zähne beissen), das viel über das japanische Ethos aussagt in einer Kultur, in der buchstäblich alles ein Zeichen ist, wobei nur der Kundige erkennt, ob es auf etwas hinweist, ein Anzeichen für etwas ist oder eine konkrete Bedeutung hat.
Bürgins Essays sind streckenweise poetische Exkurse («Die Kälte duscht mich», «Der Klang jedes einzelnen Glockenschlags, tief und laut, besitzt das Recht, ganz zu verhallen»). Es sind Texte, die ins Gepäck eines jeden Japanreisenden gehören, kleine Offenbarungen über das unergründliche Land der echten und künstlichen Kirschblüten.
vorgestellt von Rüdiger Görner, Professor für Literatur, London
Daniel Bürgin: «Auf der Suche nach Yamato». Eggingen: Isele, 2009
4 Ein Zürcher in Wien
Unter dem Titel «Dem Österreichischen auf der Spur» legt Charles E. Ritterband, Wiener Korrespondent der NZZ, Reportagen und Glossen über unser östliches Nachbarland vor, die er zwischen 2002 und 2009 verfasst hat. Es ist ein geistreiches und unterhaltsames Buch geworden, und wer sich auf amüsante Art mit Österreich vertraut machen oder eigene Erfahrungen an den Erfahrungen des Autors überprüfen will, findet hier eine anregende und vergnügliche Lektüre. Die Karikaturen von Michael Pammesberger tragen wesentlich zum Vergnügen bei und verstärken den Gesamteindruck einer Darstellung, in der sich das Tiefsinnige und Ernsthafte oft ins Gewand des Humorvollen, zuweilen auch des Satirischen kleidet.
Wenn früher die Auslandkorrespondenten grosser Zeitungen in den Metropolen sassen und wenn einst Niklaus Meienberg dem NZZ-Korrespondenten Tütsch nicht ohne Grund vorwarf, dieser denke nicht daran, das politische Pariser Parkett je zu verlassen, so beeindruckt Ritterband durch seine unermüdliche Neugier und die Weite seiner Interessen. Zwar behält auch bei ihm die Wiener Politik mit ihren oft kuriosen Verschlingungen einen wichtigen Platz, aber er reist auch kreuz und quer im Land umher, und nicht zufällig trägt sein Buch den Untertitel «Expeditionen eines NZZ-Korrespondenten». Ritterbands Interesse gilt nicht nur der Politik, sondern auch der Kultur, dem Alltag, den Sitten und Gebräuchen. Er besichtigt fast alle Bundesländer, vom Burgenland bis nach Vorarlberg, er spricht mit Bürgern und Bürgermeistern, mit Prominenten und Aussenseitern, und es gelingen ihm eindrückliche Porträtskizzen von Städten wie Linz, Baden bei Wien, oder Graz, aber auch vom Städtchen Eisenerz, in dem Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» verfilmt wurde, oder vom Tiroler Dörfchen Fiss mit seinem uralten Maskentreiben.
Von den Politikergestalten ist eine in diesem Buch omnipräsent: der 2008 tödlich verunglückte Landeshauptmamn von Kärnten, Jörg Haider. Ritterband widmet der charismatischen Wirkung dieser Führergestalt eine kritische Analyse und zeigt, wie sehr dessen Popularität in einem Geschichtsbewusstsein verwurzelt war, das die nationalsozialistische Vergangenheit des Landes bis heute nicht wahrhaben will. Für antiliberale und rassistische Tendenzen hat der Autor überhaupt ein feines Gehör, handle es sich nun um den Umgang mit der slowenischen Minderheit in Kärnten, um die skandalöse Vernachlässigung eines schützenswerten jüdischen Friedhofs in Wien oder um die Diskriminierung von Schwarzafrikanern in Graz. Ritterband hütet sich vor abschliessenden und pauschalen Urteilen ebenso wie vor Klischees; aber er ergründet mit feiner Ironie jene Klischees, die die Österreicher mit grossem Geschick selbst fabrizieren, um sich nach aussen möglichst vorteilhaft darzu-stellen.
vorgestellt von Urs Bitterli, Prof. em. für Geschichte, Gränichen
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVII
Charles Ritterband: «Dem Österreichischen auf der Spur. Expeditionen eines NZZ-Korrespon-denten». Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 2009
5 Unter falscher Flagge
Daniel de Roulet vereinigt 27 «Porträts» von Zeitgenossen und historischen Persönlichkeiten, die alle, sagt sein Vorwort, «eine enge Beziehung» zur Schweiz haben. Die meisten sind Schweizer, die meisten Künstler. Jedem der Texte ist ein mehr oder weniger einleuchtendes Haupt- und Merkwort beigegeben: «Heimweh», «Asyl», «Patriotismus», «Ehrgeiz», «Distanz». Sie sollen die Frage beantworten, «was danach kommt. Nach der Schweiz». Doch zu dem suchenden Blick nach vorne bewegen, verleiten, zwingen die − wie das Vorwort sie nennt − «angedeuteten Lebensläufe, Bewunderungssplitter» in keiner Weise.
Es soll nicht bestritten werden, dass unser Land «diesen Leuten», nämlich den Künstlern, einen Grossteil seiner geistigen Offenheit verdankt. Sie nähmen vorweg, «was der posthelvetische Mensch sein wird». Das mag sehr wohl sein; allerdings ist schon Handfesteres über das seismographische Vermögen von Künstlern gesagt worden. Nun soll man, meint das Nachwort, «den» Schweizer Künstlern «vertrauen» und «unbedingt mit ihnen rechnen». Eine dürftigere Begründung für diese Zusammenstellung lässt sich schwerlich denken. Ihre Zufallsbuntheit verdankt sich offenbar der Tatsache, dass 21 Texte schon erschienen sind und nun auch noch, um weitere vermehrt, zwischen zwei Buchdeckel geklebt werden sollten. Das nähme man hin, wenn man aus diesen «Porträts zur Metamorphose eines Nationalgefühls» − dies der so hochtrabende wie nichtssagende Untertitel − wenn schon nichts im Hinblick auf die Zukunft der Schweiz, so wenigstens irgendetwas anderes lernen könnte.
Doch die kurzen Texte, deren Übersetzung aus dem Französischen leider chronisch zu spüren ist (zum Teil bleibt die Übertragung schlicht unverständlich: «Es hat lange gedauert, bis die Schweizer Unterstützung diverser Diktatoren sich abgelagert hat», S. 146 − was könnte das bedeuten?), − diese Texte enttäuschen fast durchs Band. Weder die Essays noch die Reportagen, wenn man sie so nennen will, noch die Erzählungen, in denen die behandelten Schicksale in eine anspruchslose Fiktion gedrängt werden, geben viel mehr her − und hier offenbart das Buch allerdings leider einen inneren Zusammenhang − als die biedere Verbindung altbekannter Fakten (Hodlers unheroisches Bildnis des Generals Wille, die Leiden der jungen Schwarzenbach, die politische Dubiosität Le Corbusiers etc.) und als altbekannte politisch-moralische Positionen, wie sie im Schweizer Kulturkuchen hohe Beliebtheit geniessen. Nichts, was man minder flach nicht da und dort schon vernommen hätte. Nicht einmal der reiche Zuschuss an Bekenntnissen des Autors mit ihren zum Teil rührend naiven und jüngerhaften Huldigungen überrascht durch Originalität und verschafft Einsichten. Nach Ausweis dieses Buchs jedenfalls gehört der Autor nicht zu den Stimmen, die die politische Deutschschweiz imperativ zur Kenntnis nehmen müsste, Unterstützung durch die Pro Helvetia hin oder her, und er zählt schon gar nicht zu den Intellektuellen, die uns durch geistige Stringenz, sprachliche Brillanz, polemische Wucht oder narrativ-argumentative Überzeugungskraft in den erwarteten oder erhofften Posthelvetismus helfen würden. Wenn eine sich ohnehin auflösende Schweiz überhaupt noch Kritik braucht, dann bedeutendere.
Eine Nachbemerkung. Das Buch trägt im Französischen den passenderen Titel «Un glacier dans le cœur. Vingt-six manières d’aimer un pays et d’en prendre congé». Unter dieser Flagge segeln Roulets Plaudereien leichter, und es kann gar nicht anders sein, als dass sie im Original etwas bessere Figur machen.
vorgestellt von Thomas Sprecher, Rechtsanwalt, Zürich
Daniel de Roulet: «Nach der Schweiz. 27 Porträts zur Metamorphose eines Nationalgefühls». Zürich: Limmat, 2009
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6 Schwitter rutscht aus
Die Sonne paukt den Himmel. Das Blau sprotzt, und die Luft tropft über den Rand des Horizonts. Es ist heiss. Man schafft es gerade noch, ein Buch aus der Badetasche zu fingern. Der Titel «Im Schneeregen» ist herzlich willkommen und sorgt für einen Anflug von Kühle. Weisse Bettenberge zieren den Umschlag…
Nein, Erotik ist nicht zu erwarten, eher Infusionsständer und Seifenspender. Niemand mag Schneeregen. Schwitter schon. Anlageberater Schwitter ist im Spital: vom Weg abgekommen, ausgerutscht, «eingeknickt, das Gleichgewicht verloren und hingefallen». Hätte ihn nicht ein Bauer gefunden, er wäre wohl langsam erfroren.
Schwitter ist einer, der sich im Krankenbett liegend Erklärungen für den Chef zurechtlegt; der sich Urlaubsgeschichten für seine Arbeitskollegen ausdenkt; der den umgeschütteten Tee mit dem Kissenbezug aufwischt, um ja keinen Katheter verpasst zu bekommen; der sein Leben an sich ganz gut organisiert hat, der aber unter Druck gerät, wenn seine Pläne durcheinandergeraten; der an «körperliche Beschädigung» denkt, wenn von Veränderungen die Rede ist.
Schwitter redet nicht viel bei der Arbeit. Sein Chef sagt, er positioniere sich nicht. Schwitter hat einmal den Ausbruch aus seinem Leben probiert, ist aber wieder bei seiner Bank gelandet. Schwitter landete auch bei Beatrice, mehr zufällig als gewollt. Die bringt allerdings Unruhe in sein Leben, und er verliert sie nicht gerne, die Kontrolle über die kleinen Dinge im Alltag; er fühlt sich dafür verantwortlich, Kühlschrankware vor dem Verderben zu retten und den Geschirrspüler korrekt einzuräumen.
«Wie schnell soll man gehen, um bei Regen richtig nass zu werden?» Für Fragen nimmt sich Schwitter gern Zeit, und wenn er schwelgt, abwägt und argumentiert, ist der Text sprachlich und inhaltlich am stärksten: Wie soll man sich wohl bei seinem Lebensretter gebührend bedanken? Was für ein Café ist wann das richtige? Was denkt sich einer, der für sein Ableben verantwortlich ist? «Falls Schwitter im Verkehr umkommen sollte, dann möchte er von hinten überrollt werden.» Ja nichts und niemandem ins Auge sehen zu müssen, wünscht er sich. Mitunter kommt aber auch er nicht umhin, sich mit realen Ereignissen (die hier nicht verraten seien) auseinanderzusetzen.
Es sollte einen festen Betrag geben, um sich für die Dienstleistung der Lebensrettung erkenntlich zu zeigen, heisst es an einer Stelle. Für die Dienstleistung des Schreibens dieses gemütlich-gemächlichen, unaufgeregt-poetischen, angenehm-zeitlosen Buches ist ein fester Betrag hingegen festgelegt. Man möge den nächsten Buchhändler aufsuchen und sich «Im Schneeregen» zulegen. Angenehme Stunden – bei welcher Wetterlage auch immer – garantiert.
vorgestellt von Markus Köhle, Sprachinstallateur, Wien
Thomas Schenk: «Im Schneeregen». Frankfurt: Weissbooks, 2010
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7 Dem Erzählen vertrauen
Da ist der Morgenbus, fünfzehn Personen sind auf dem Weg in den Alltag, ein Erzähler schaut hin, vermerkt in kleinen, genauen Miniaturen, was er sieht: «Der Mann mit dem regennassen Filzhut, er putzt sich die Brillengläser sauber, und irgendeiner stinkt nach Rauch in diesem Gequetsche. Oder riecht er nach Knoblauch?». Der Leser fährt mit, ist da und dabei, folgt den Sätzen, den Tönen und Zwischentönen, schmunzelt mitunter oder schüttelt den Kopf über einen, der irrt. Etwa über diesen Zwyssig, der «an einem schmalen Freitagabend» an die Bar geht, säuft, Miriam anmacht und küsst, so linkisch, wie es seine Trunkenheit zulässt, seine Biederkeit es erlaubt. Der Leser tippelt hinter dem Möchtegernfremdgeher her, sieht ihm zu auf seinem kläglich-trunkenen Rückzug ins rettende «Taksi», das ihn zur Ehefrau zurückbringt, die ohnehin unruhig schläft – ohne ihn.
Ein ähnlicher Verlierer ist in der titelgebenden Geschichte «Der Wolf weint» jener Zeno Lombardi, der mit zunehmender Lüsternheit bergaufwärts schreitet zu Maria Gruber, die unterhalb der Baumgrenze ihr Haus hat und ein Abenteuer verspricht. Aber statt der räkelnd willig sich hingebenden Maria findet er einen Zettel, er möge sich doch um seine Frau kümmern. In solchen Geschichten geht der Leser mit, ist mittendrin. Da gelingt es dem Erzähler Franz Felix Züsli, erzählend Menschen so vor unsere Augen zu stellen, dass wir sie wahrnehmen in dem, was sie sind und denken, in ihrem Dasein, oft in ihrem Scheitern.
Auch eine andere stürzt ab, schon im Traum, die Betriebsfürsorgerin «Andrea Sontheim», die nach vierzehn Jahren entlassen wird und dann, rückblickend, nach den Gründen fragt. War es das Engagement für Balbo, den wegen mangelnder Sicherheitsmassnahmen durch einen Betriebsunfall zum Invaliden Gewordenen? Oder war es der Einsatz für den flugblattverteilenden Lehrling Bernhard? Der Leser folgt der Frau mit ihrem Fragen, nimmt an ihrem einsamen Ausgesetztsein teil. Aber brauchte der Leser den Kommentar der letzten Seiten, der all das mitteilt, was er durch sein aufmerksames Lesen schon begriffen hat: «Und im Todesrausch überkam die Sontheim Erkenntnis, als hätte ihr jemand die Haut heruntergerissen und ihr Innerstes gezeigt: Sie hatte dem verdauenden Moloch das Würgen erleichtert, indem sie geholfen hatte, mit dem Moloch zu leben»?
Immer wenn der Autor Franz Felix Züsli erzählt, Menschen uns in Situationen genau und detailliert darstellt, wie er das in vielen Geschichten tut, knapp erzählt, ohne Kommentar, aber mit Nischen für die Phantasie des Lesers, so sind wir als Lesende gern dabei, fiebern mit, nehmen Anteil. Die Geschichten gehen dann in unserem Kopf weiter, hinterlassen eine Irritation, evozieren Fragen oder lassen offen: «Die beiden schauten einander an. Der von irgendwoher wollte etwas sagen, fand aber das Wort nicht. Der Alte bückte sich dann, warf einige Äpfel, die er auf dem Boden aufgelesen hatte, in den Spankorb, der unter dem Baum stand: Jetzt blickten beide durch die Baumkrone hindurch, als hätten sie den Himmel gesehen…» In solcher Knappheit folgt man in den Krimierzählungen gern dem Untersuchungsrichter Rohrer zum Toten auf dem Meinhof oder fährt mit Kriminalkommissär Salvis zum Leichenfund am Fluss. Schade, dass der Autor Erzähltes manchmal kommentierend unterstreicht; es reichte, zu erzählen und seinem Erzählen ganz zu vertrauen.
vorgestellt von Urs Faes, Schriftsteller, Zürich
Franz Felix Züsli: «Der Wolf weint». München: Friedmann, 2009
8 Star ohne Allüren
Nachhaltigen Ruhm erlangte sie durch ihre Titelrolle in Franz Schnyders Film «Gilberte de Courgenay» (1941), doch ihre grosse Liebe gehörte zeit ihres Lebens dem Theater: Anne-Marie Blanc. Der erste weibliche Star des Schweizer Films verstarb im Februar 2009 im Alter von fast 90 Jahren. In dem nur wenige Monate nach ihrem Tod erschienenen Erinnerungsbuch zeigt die Schriftstellerin, Journalistin und Regisseurin Anne Cuneo Anne-Marie Blanc von einer ganz persönlichen Seite. Es ist ein Eintauchen in die Erinnerungen der Grande Dame des Theaters, deren besonderer Stolz es war, ihre Rollen als Ehefrau, Mutter und Schauspielerin unter einen Hut gebracht zu haben. Über die dokumentierten Gespräche bei einer Tasse Tee in ihrer Wohnung oder bei einem Glas Champagner im Foyer des Zürcher Schauspielhauses gewinnt der Leser Einblick ins berufliche ebenso wie ins private Leben von Anne-Marie Blanc. Er lernt sie als Frau kennen, die ihren Beruf bis ins hohe Alter mit viel Engagement, Disziplin und Leidenschaft ausübte und neue Herausforderungen nie scheute.
Die Schauspielerin spricht von ihrer welschen Herkunft und ihrem Werdegang, über ihre Lieblingsrollen und über ihr Berufsverständnis, kehrt gedanklich an das Schauspielhaus Zürich zurück, wo ihre Karriere 1938 im Emigrantentheater während des 2. Weltkriegs ihren Anfang nahm. Während dieser Zeit begegnete sie auch dem Filmproduzenten Heinrich Fueter, ihrem späteren Mann. Nicht wegen, nein, dank ihm habe sie Karriere gemacht, weil er dafür gesorgt habe, dass sie, neben ihrer Rolle als Mutter dreier Söhne, Zeit für ihre Arbeit hatte, betont Anne-Marie Blanc mit Vehemenz.
Selbst Memoiren niederzuschreiben, lehnte die bescheidene Blanc als «Voyeurismus im Abendkleid» und «konservierte Eitelkeit» über Jahre hinweg dezidiert ab. Glücklicherweise konnte Anne Cuneo doch noch das Einverständnis der Akteurin gewinnen, ihr reiches Leben zuerst im Film, dann auch in Buchform zu dokumentieren. Das Buch folgt keiner klaren Chronologie, sondern dem leichten Fluss des Dialogs der beiden Frauen. Der rote Faden ergibt sich aus der Beziehung der Schriftstellerin zur Porträtierten. Eigens für die von ihr verehrte Anne-Marie, ihre «Madame Paradis», schrieb Cuneo denn auch das gleichnamige Stück, das ebenfalls im Buch enthalten ist. Der heikle Balanceakt, selbst als Schriftstellerin und Regisseurin zu Wort zu kommen, ohne sich dabei allzusehr in den Vordergrund zu stellen, glückt Cuneo nicht immer. Doch wenngleich die langen Abschweifungen in die eigene Vita der Biographie Blancs zunächst wenig zuträglich erscheinen, macht es gerade die Darstellung der für Cuneo schicksalhaften Freundschaft möglich, weitere Facetten der Schauspielerin auf dezente Art zum Ausdruck zu bringen.
Die ebenfalls eingeflochtenen Stimmen von Schauspielkollegen, wie Maria Becker, Regisseuren, wie Chris Niemeyer, und vor allem diejenigen ihrer Söhne runden das Porträt ab. Entstanden ist nicht nur die biographische Hommage an eine geschätzte Freundin und grosse Künstlerin, sondern auch ein Stück Theater- und Filmgeschichte, das dank der beigelegten DVD und dem an privaten Fotografien reichen Bildteil noch weiter an Intensität gewinnt.
vorgestellt von Fabienne Schwyzer, Juristin, Zürich
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXVII
Anne Cuneo: «Anne-Marie Blanc – Gespräche im Hause Blanc». Zürich: Römerhof, 2009
9 /10 Jeanne Hersch – hundert Jahre
Euphorischer Aufschwung und Scheitern zugleich: darin besteht die bleibende Erfahrung der ersten Liebe in Jeanne Herschs kurzem Roman gleichen Titels. Gerade weil sie beteuert, glücklich verheiratet zu sein, hält es die schwangere Protagonistin für dringlich, ihrem Mann (der während des Krieges an der Grenze wacht) davon zu berichten. Sich den «Mühen» des Schreibprozesses unterziehend, versucht sie «eine Einheit zu erkennen, die Einheit meines Lebens, die Einheit meiner selbst» – etwas, von dem die Autorin nachmals bemerken wird, dass der Mensch immer darauf hinziele, ohne es je erreichen zu können.
Liebe erscheint in diesem Text als Zeichen eines (im doppelten Sinne) «Unfassbaren», als das Medium unerhörter Ausgesetztheit und Empfänglichkeit, als die Emphase des Lebens im «Wunder», die weit über ihren Anlass hinausreicht: «Ein gestaltloses Sein drang in mich, weitete mich, dehnte mich in alle Richtungen aus, in einem unendlichen Begehren, das die ganze Umarmung des ganzen Universums nicht zu stillen vermöchte. Der alte Durst, der alte Hunger, die alte Liebe vor jeder Liebe. Niemals wird jene Liebe erwidert werden. Niemals.»
Es ist eine sie im Innersten erschütternde Erfahrung, die der jungen Frau sehr konkret zuteil wird und ihr ganzes Wirklichkeitsverhältnis herausfordert. Zunächst völlig in die eigene Subjektivität entrückt (in der die eigentliche Handlung spielt), führt deren Annahme die Erzählerin schliesslich zur schmerzlich geläuterten Hinwendung zur Welt der Objekte: «Ich war nicht mehr von allem abgeschnitten, aber alles war ausserhalb von mir, und ich begann, mein Leben ausserhalb von mir zu leben, in der Liebe zu den Dingen und im geduldigen, nüchternen Suchen nach den Dingen.»
Ohne jemals in den Duktus von Beispielprosa zu verfallen, ist die existenzphilosophische Grundierung des Geschehens doch unverkennbar und schlägt sich in einer entsprechenden Wortwahl nieder: «Wir sind da hineingeworfen…», heisst es an einer Stelle. Grenzsituationen gewinnen Gestalt, Stadien von «Verzweiflung» und «Angst» angesichts der «niederschmetternden Wehen des Nichts» sind zu bestehen und von einem «Leben … in der Schwebe» ist die Rede.
Mit 30 geschrieben, 1942 erschienen und erst anlässlich einer Neuausgabe Mitte der siebziger Jahre als Werk der inzwischen bekannten Philosophin von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, erscheint der beeindruckende Roman zum 100. Geburtstag von Jeanne Hersch nun erstmals in Irma Wehrlis vollständiger deutscher Übersetzung. Charles Linsmayer, der für die Auswahl des Programms der Reihe «Reprinted by Huber» verantwortlich ist, hat ihn vorzüglich flankiert. Was bescheiden als «biographisches Nachwort» angekündigt wird, entpuppt sich als spannende lebens- und werkgeschichtliche Darstellung von 90 (leider arg kleingedruckten) Seiten.
Mit Jeanne Herschs Beziehung zu dem politisch engagierten Genfer Lateinprofessor André Oltramare erschliesst der Herausgeber detailliert die biographischen Hintergrundimpulse des Textes, dessen Stärke sich freilich ganz aufgrund seiner ästhetischen Qualitäten zu entfalten vermag. Nicht zuletzt ist er auch ein wichtiges Zeugnis für bleibende Denkmotive seiner Verfasserin. Linsmayer zeichnet ihren Weg detailliert nach: wie die Tochter nach Genf emigrierter jüdisch-polnischer Sozialrevolutionäre als Schülerin von Karl Jaspers mit ihrem Buch «L’illusion philosophique» (1936) früh schon prominente Anerkennung findet, wie sie, hochgeschätzt über die Grenzen ihres Landes hinaus, zur ersten Philosophieprofessorin der Schweiz und dort während der letzten dreissig Jahre ihres langen Lebens zu einer intellektuellen Instanz von grosser Breitenwirkung wird, die zu den unterschiedlichsten Fragen Stellung bezieht, wobei sie, mit einem gewissen Hang zum Rigorosen, immer wieder Positionen gegen den Strom vertritt.
«Ich bin eher eine Präsenz in meiner Zeit als die Autorin eines Werks», sagte Jeanne Hersch über sich selbst. Ihre Wirkung durch bewusste Zeitgenossenschaft steht ausser Frage. Inwieweit hier wie dort gleichwohl ein Bescheidenheitstopos vorliegt, kann anhand eines ebenfalls mit Bildmaterial versehenen Lesebuchs überprüft werden, das Monika Weber und Annemarie Pieper aus kürzeren Arbeiten Jeanne Herschs – zwanzig Vorträgen, Abhandlungen und Gesprächen, viele davon bisher noch nicht veröffentlicht, alle nach der Fassung im umfangreichen Nachlass – nach Schwerpunkten zusammengestellt haben.
Deutlich wird hier vor allem die unermüdliche Besinnung auf «Konstanten des Menschseins» als Mitte des Denkens dieser innerweltlichen Heilsversprechen gegenüber so skeptischen Sozialistin, die letztlich wohl eine glühende Liberale war. Von dieser Mitte aus geht sie ihre bevorzugten Themen an: die Befindlichkeiten des einzelnen, der in die Freiheit zur Entscheidung und damit vor die Notwendigkeit der Sinnfindung gestellt ist; die Erziehung zur mit dem Menschsein einhergehenden Verantwortung sowie das Zusammenleben unter den Vorzeichen von Demokratie und Menschenrechten. Sie gelangt zu Zeitdiagnosen wie derjenigen des «Nihilismus» der von 1968 ausgehenden Bewegung, die in ihrer Anwendung auf die Zürcher Jugendunruhen Anfang der achtziger Jahre und das Versagen der Elterngeneration Jeanne Hersch viele Anfeindungen eintrugen. «…der Feind heutzutage» war für sie «die Leere», die Abwesenheit von «philosophischer Sinndeutung».
Was also bleibt von dieser Anwältin der (mit einem ihrer Lieblingsbegriffe) «Treue» zum Menschen, angesichts einer Gegenwart, in der das Funktionieren der Strukturen und Systeme längst mehr zu interessieren scheint als dieser selbst, in der alte Substanzfragen nach seinem irreduziblen Wesen längst unter Verdacht geraten oder erledigt sind und Anthropologie nur mehr im historischen Sinne betrieben wird? Zehn Jahre nach ihrem Tod scheint Jeanne Hersch, wie im Äusseren mit den streng zurückgekämmten, in einen Knoten gefassten Haaren, hoffnungslos aus der Zeit gefallen zu sein. Unverkennbar gehört sie zur Tradition eines alteuropäischen Humanismus, von dem unwahrscheinlich ist, dass er irgendwann noch einmal zur Avantgarde werden könnte.
«Die echte Intelligenz … verwandelt beim Menschen alles Wissen in eine Frage», heisst es in einem Vortrag der Philosophin von 1989, und knapp fünf Jahrzehnte zuvor schon in ihrem Roman: «Worauf kommt es an, was zählt, was ist heilig…?». Elementare Anstösse wie diese behalten gleichwohl ihren Stachel, zumal wenn sie so eindringlich an uns herangetragen werden.
vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Professor für Medienpädagogik, Münster
Jeanne Hersch: «Erste Liebe». Frauenfeld: Huber, 2010
Jeanne Hersch: «Erlebte Zeit. Menschsein im Hier und Jetzt». Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 2010