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Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX

8 Bücher, vorgestellt in der neunundzwanzigsten Folge der «Schweizer Autoren
in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

1 Schwarzes Buch in allen Farben

Ein Buch in Schwarz. Nein nicht in Schwarz, sondern in Pfirsichkernschwarz, in Traubenkernschwarz , in Kirschkernschwarz, in Flammruss. So schaut einen das Buch an. Ein schwarzes Buch über Farben. Eigentlich suspekt. Doch schon habe ich es in der Hand, schlage es auf: Bologneser Kreide, Carraramarmor, Rügener Kreide, Champagner Kreide. Irritiert und fasziniert lege ich das Buch auf den Tisch und beginne zu schauen und zu lesen. Nach zwei Stunden bemerke ich die Zeit und bin verloren.

Farbpigmente – Farbstoffe – Farbgeschichten. Ein Buch, das mir etwas über Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring erzählt und über die Stukkatur der Klosterkirche Einsiedeln. Aber auch über Bleiweiss und Indigo, Karminrot und Ultramarin. Über Farbpigmente und Mineralfarben, über organische Farben und über Pflanzenfarben. Der Farbforscher Stefan Muntwyler und das «wandelnde Lexikon» für Farbpigmente Georg Kremer entwickelten zusammen mit weiteren Autoren dieses wunderschöne, sinnliche Buch über die Farbwelt.

Sie müssen sich bei diesem Buch nicht grün ärgern. Auch bringt Sie nichts zur Weissglut. Vielmehr wird der graue Alltag bunt. Sie können lesen, wie das Wort Farbe etymologisch mit dem Wort Forelle verwandt ist. Dass es im Englischen die schönen Wörter colour und paint und dye gibt, im Deutschen jedoch nur ein Wort – Farbe. Sie können endlich einmal die Unterschiede zwischen Farbmittel und Bindemittel erfahren, zwischen Füllstoffen und Malstoffen. Und was das Musterbuch der Glarner Tüechli mit der «Madonna der Demut» von Benedetto di Bindo zu tun hat.

Dieses Buch lehrt Sie das genaue Schauen und Staunen: Russischgrün finden Sie neben Cyprischer Blauegrüner Erde, Ultramarinblau extra dunkel neben Ultramarinblau dunkel und Ultramarinblau hell. 317 einzelne Farben strahlen Sie an. Als Farbmuster, als Steine, als gemahlenes und gebrochenes Material und Steinmehl. Sie können die Farben bewundern, die Sie schon immer sehen wollten: Indische Dattel und Neapelgelb, Spinellschwarz und Schüttgelb.

Dieses Buch ist auch ein Kompendium des Wissens. Was sind natürliche und was synthetische Mineralfarben? Was natürliche Tier- und Pflanzenfarben und was synthetische organische Farben? Alles ist klar bezeichnet, systematisch angeordnet, gross und detailliert bebildert. Und für wen ist nun dieses Buch, ausser für einen selbst?

Für Geographen: aus Brasilien kommt Sodalith; im Departement Vaucluse gibt es den letzten Ockerproduzenten; am Albulapass wird das Steinmehl Alba Albula gefunden. Für Kunsthistoriker: die Farben, die Vermeer 1665/1666 für «Das Mädchen mit dem Perlenohrring» verwendet; die Farben, mit denen Claude Monet 1869 seine «Badende in La Grenoullière» malt. Für Historiker: der Siegeszug der Kolonialware Indigo. Für Chemiker: die chemische Formel von Diketopyrrolopyrrol DPP und Ferrari-Rot. Für Geniesser: das Karminrot für Lippenstifte und Campari. Für Sprachanalytiker: die melodischen Farbbezeichnungen Saftgrün, Beinschwarz, Miloriblau oder Neapelgelb, Farben zum Träumen. Für Köche: Was wird aus Walnussschalen gewonnen? Für Nichtköche: Nach welcher Rezeptur wird Schüttgelb Schützenberger hergestellt?

Und dann ist dieses Buch etwas für alle Büchermenschen. Ein wunderbar ordentlich gedrucktes Buch. In 14 Farben. Mit einer klaren und lesbaren und funktionierenden Typographie, gestaltet von Hans Peter Schneider. Sauber, präzise gebunden. Ein Buch mit Register und Glossar. Eine Wohltat fürs Auge und ein Fest für die Sinne. Apropos Fest: kaufen!

vorgestellt von Tatiana Wagenbach-Stephan, Buchherstellerin, Zürich

Gewerbemuseum Winterthur, Stefan Muntwyler & Hanspeter Schneider (Hrsg.):

2 Keine Fluchten mehr!

Die männliche Hauptfigur dieses Romans ist Mitte 50 und bekommt ein nachgerade klassisches existentielles Problem: «Wie überspringt man die Jahre, … wie kehrt man noch einmal zu dem zurück, der man war, zu der Frau, die man liebte? Und für die man sich doch nie ganz entschieden hat.» Der so redet, hat als Gesprächstherapeut in der onkologischen Abteilung des Spitals einer «Kantonshauptstadt … an der Aare» eigentlich bereits «zur Routine gefunden». Wie man weiss, kommt dem Psychologen in der Gegenwart die Rolle einer bedeutsamen Sozialfigur zu; als quasi-ritueller Kommunikationsexperte und Helfer bei der Krisen-, mehr noch: Kontingenzbewältigung übernimmt er jene Aufgaben, für die einst die Repräsentanten der Religion zuständig waren. Dieser Nimbus aber erweist sich bei Dr. Andreas Lüscher spätestens dann als brüchig, als ihn plötzlich unausgetragene Konflikte der eigenen Lebensgeschichte einholen.

Eines Tages findet er die Krankenakte einer Patientin vor, deren Name ihm höchst vertraut ist. Mit Meret Etter, einer ebenso kämpferischen wie feinnervigen und harmoniebedürftigen Frau, hatte er bis vor sechzehn Jahren eine Liebesbeziehung geführt. Ohne sich auszusprechen, war man schleichend auseinandergedriftet. Merets Kind, von dem er keine Ahnung hatte, «kam nicht zur Welt». Nun wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert und sie nimmt das begleitende gesprächstherapeutische Angebot der Klinik in Anspruch. Als ob damit jene «Deckung», in die sie voreinander gegangen waren, zur äusseren Szene würde, kommt es zur professionell-distanzierten «Versuchsanordnung» der Kommunikation mit einem Vorhang dazwischen. Immerhin löst dieses «Versteckspiel» beiderseits eine mehrtägige Phase der Besinnung aus. Eines der Worte aus der medizinischen Fachsprache, «für den Strahlenabsorp-tionseffekt», gewinnt eine doppelsinnige Bedeutung, auf die der Titel anspielt. Mit «Paarbildung» nämlich, und zwar ihrer eigenen, wechselseitigen, die sie nicht geschafft haben, sind beide gezwungen, sich auseinanderzusetzen, bevor auf einer neuen Ebene die verhaltene Wiederannäherung möglich wird.

Urs Faes, der damit seinen zehnten Roman vorlegt, ist längst zu einer beständigen und geachteten Grösse über die schweizerische Literatur hinaus geworden. Das Thema des schmerzvollen, gerade deshalb aber auch reinigenden Erinnerns hat ihn von jeher beschäftigt. In seinen Arbeiten vermag es sich teils mit politischen Verdrängungen zu verbinden («Sommerwende», 1989), zumal jedoch mit dem irritierenden Doppelgesicht der Liebe zwischen Sehnsucht nach Gemeinschaft und Angst vor zuviel Nähe, mit all ihren anfangs vielleicht nur kleinen Unzulänglichkeiten und Unterlassungen, Sprachlosigkeiten und Abstumpfungen, die sich schliesslich zu uneingestandenen Katastrophen auswachsen, in einem zu wuchern vermögen wie Krebs. Immer versetzt dieser Autor seine Figuren in eine Unruhe, die die eingetretenen Erstickungen ihres Alltags aufbricht. Immer schwingt bei ihm die Frage nach dem richtigen Leben mit. Und immer geht sie mit der Bereitschaft zur radikalen Gewissenserforschung einher. Formal schlägt sich das in einer Struktur nieder, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit genauso hin und her wechselt wie zwischen den unterschiedlichen Erfahrungen der Beteiligten.

Selbst dort, wo er die Schrecken der Krankheit schildert, bleibt Faes’ Sprache beherrscht, ja fast spröde – aber unerbittlich. Die Bedeutung dieses Romans besteht nicht zuletzt in einer beeindruckenden «Aufmerksamkeit für die menschliche Fragilität», wie sie, in einer der vielen Motivspiegelungen, dem während Andreas’ Auszeit in Umbrien gerade gestorbenen Regisseur Michelangelo Antonioni von der Presse eher phrasenhaft nachgerufen wird. Stets aufs neue unterläuft Faes das gängige Gerede von endloser Zukunftsfähigkeit, indem er uns Variationen vormoderner Leitbegriffe wie memento mori oder vanitas zumutet, keineswegs nur dann, wenn auf die «verlorenen Schlachten» der Medizin gegen den Tod verwiesen wird. Das Leben von seinem «Vergehen» her zu denken, stiftet auch in handlungsleitender Hinsicht Erkenntnis. «Wie wenig wir sind, flüsterte Meret, wenn wir diese Sterne betrachten; nicht mal ein Nebelschweif sind wir, nicht einmal das, sondern bloss ein Hauch.» Solche Artikulationen der menschlichen Nichtigkeit sind in der Gegenwartskultur ebenso selten wie der Ausblick auf die unvermeidliche «Wiederbegegnung im Spital, im Heim, am Grab; da fanden sich alle eines Tages». Dass gerade dieser unter den Motivknoten des Textes besonders eng geknüpfte in den Besprechungen des Romans notorisch ausgeblendet wurde, unterstreicht die Berechtigung der Eindringlichkeit, mit der Faes das Thema aufgreift.

So ist bei ihm nicht nur Krankheit gleichzeitig eine Metapher – dessen nämlich, bereits «nicht mehr ganz am Leben zu sein oder es gar verfehlt zu haben» –, sondern auch die Liebe, die am Ende einer Ausgesetzten und Verletzlichen gilt, deren Metastasen jederzeit wieder auftreten können. Mann und Frau aber haben einen Lernprozess durchlaufen: «keine Fluchten mehr!» Gerade in seiner Endlichkeit und mit seinem Leid ist das eigene und ein gemeinsames Leben zu bestehen. Jene «Hoffnung», die es möglicherweise geben könnte, verbirgt der ebenso diskrete wie listige Autor in einem alttoskanischen Druck von Psalm 25, den Meret Andreas zuletzt schenkt: «Allevie le angosse del mio cuore, liberami dagli affanni.» Die Übersetzung muss der Leser selbst nachschlagen. Sie lautet: «Befrei mein Herz von der Angst, führ mich heraus aus der Bedrängnis.»

vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Professor für Kulturpädagogik, Münster

Urs Faes: «Paarbildung». Berlin: Suhrkamp, 2010

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX

3 Gönnen können

Es ist die alte Geschichte und eine denkbar einfache Gleichung: Menschen können nicht gönnen, darum kommt es immer, wie es kommen muss. Mit dieser Formel lässt sich die europäische Geschichte von der Völkerwanderung über die Besiedlung Amerikas bis zum Ersten Weltkrieg erklären. Oscar Peer krempelt die Historie nicht um, er erfindet nichts Neues hinzu. Er erzählt karg und klaustrophob die sehr europäische Geschichte des ungebildeten Menschen, der in seiner engen Heimat an den Rand der Existenz gedrängt wird, der an den wenigen Orten, wo er sich geborgen fühlte, plötzlich keinen Halt mehr findet. Und so kommt es, wie es kommen muss: Chasper aus dem Engadin, aufgewachsen auf der weltabgewandten Seite der Berge, Sohn eines versoffenen Vaters und einer verhuschten Mutter, fehlt nach dem Tod der Eltern jeder Groschen. Mit nichts als Schulden und einem windschiefen Bergbauernhof sieht er die Geier kreisen, der Dorfbürgermeister besitzt angrenzende Weiden, hungriges Vieh und die Schuldscheine. Chasper jedoch ist ein mutiger Mensch, er hat Freunde – glaubt er. Er hat Familie – glaubt er. Also weigert er sich schlicht, zu verkaufen. Das dreihundert Jahre alte Haus gibt er nicht her – glaubt er. Aber die Menschen können nicht gönnen – vergisst er. Es kommt, wie es kommen muss, die vertrackte Situation spitzt sich zu bis zu dem Punkt, an dem Chasper nur der eine Weg bleibt… – mehr wird hier nicht verraten, denn Oscar Peer hat mit «Das alte Haus» eine spannende Novelle verfasst, die zu einem unerwarteten Ende findet. Doch nicht nur das. Er schreibt mit ungezierter Wucht, nach einem straffen Plot, in klarer Sprache und legt so, ohne Allüren, Philosophie und Religion, das erbarmungslose Leben vor den Leser. Das ist keineswegs frustrierend oder hoffnungslos. Es ist, wie es ist. Und hinter den Engadiner Alpen liegt das Meer, und dahinter… – aber mehr soll ja nicht verraten werden.

vorgestellt von Michael Harde, Lehrer & Eifelbauer, Schalkenbach

Oscar Peer: «Das alte Haus». Zürich: Limmat, 2010

4 Unliterarisch?

Er sei der «unliterarischste aller Schweizer Schriftsteller», meinte Carl Albert Loosli (1877–1959) einmal bittersüss über sich selbst. Denn ab 1900 hatte er sich sechs Jahrzehnte lang wie kein zweiter mit Wort und Tat unermüdlich den Aussenseitern der Gesellschaft gewidmet. Bei all dieser humanitären Leistung blieb aber trotz der atemraubenden Sprache eines weitgehend auf der Strecke: das Ansehen Carl Albert Looslis als belletristischen Schriftstellers.

Hugo Loetscher nahm sich in seinen letzten Lebensjahren vor, dieses Urteil zu revidieren. Nach seinem plötzlichen Tod haben F. Lerch und E. Marti, die beiden Herausgeber der Werkausgabe Looslis (Rotpunkt: 2006–2009) , nun den Berner Schriftsteller Pedro Lenz mit der Herausgabe von «Loosli für die Jackentasche» (der Titel stammt noch von Loetscher) betraut. Das Ergebnis ist zweischneidig.

Lenz teilt das Lesebuch in drei Teile: Geschichten, Gedichte und Satiren. Obwohl mit dieser Einteilung schon etwas vorschnell auf Auszüge aus Romanen oder weiteren literarischen Gattungen verzichtet wird, bleibt jeweils für bloss knapp ein Dutzend Geschichten und Satiren Platz. Dafür bietet Lenz den Lesern 70 Gedichte. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn jedes ein solch bewegendes Stück wäre wie etwa «Der Seelenzug», oder so treffend zynisch wie die erste Strophe von «Demokratie»: «Ihr braven Leute nennt euch Demokraten, / Weil euch das Stimmrecht in den Schoss gelegt, / Und seid so bettelarm an braven Taten; / Ihr habt euch um den Mammon stets bewegt! / Der Sinn der Freiheit, der in euch sich regt / Beim Bier allein, im Qualm, am Wirtshaustische, / Er ist berechnet und ist überlegt, / Euch fehlt der Mut, euch fehlt die kecke Frische / Und eure Rechte sind nur lose, leere Wische!». Leider ist aber hier, wie bei früheren Ausgaben von Gedichtsammlungen Looslis, die Qualität durchzogen.

Auch bei der Auswahl der Geschichten hat Lenz keine glückliche Hand. Wirklich grossartig sind nur knapp die Hälfte der zwölf Texte. Und hier wäre eindeutig mehr drin gelegen, bietet doch etwa der vierte Band der Werkausgabe bereits eine literarisch anspruchsvollere Auswahl. Gut gelungen ist dafür der dritte Teil. Die Satiren – ohnehin eine Stärke Looslis – sind klug gewählt und vermögen bei einem Leser, der sie nicht kennt, Lust auf den Schriftsteller zu wecken.

Das Hauptproblem des Bandes ist seine unklare Zielumsetzung. Während der Titel und die ursprüngliche Idee von einer Art Best of Loosli ausgehen, ist jetzt eine stattliche Anzahl unveröffentlichter Texte mitaufgenommen, die nicht in die verdienstvolle Werkausgabe aufgenommen werden konnten. Für einen begeisterten Kenner Looslis ist das ein Vergnügen, und er dankt es dem Herausgeber. Für den noch abtastenden Leser hätten jedoch nur die besten literarischen Texte hier landen dürfen.

Eines ist dem Band dafür nicht zu nehmen: Pedro Lenz verleiht ihm durch seine Bekanntheit die nicht zu unterschätzende Chance, dass Carl Albert Loosli auch von Lesern zur Kenntnis genommen wird, die den Namen bislang nicht gehört haben. Es ist ihm zu wünschen!

vorgestellt von Dominik Riedo, Schriftsteller, Luzern

Pedro Lenz (Hrsg.) «Loosli für die Jackentasche». Zürich: Rotpunkt, 2010

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX

5 Süditalien retour

Der Zug war eine gute Wahl, auch wenn die Reise in den Süden Italiens Stunden dauert. Mit dem Auto wäre es zu weit gewesen. Nach der Mitteilung, dass ihr Vater im Sterben liege, hat Dora schnell ein paar Dinge eingepackt und sich auf den Weg gemacht. Im Speisewagen setzt ein netter Mann sich ihr gegenüber und zieht sie in ein Gespräch. Wegen Francesco trifft Dora schliess-lich verspätet zu Hause ein. Der Vater ist begraben, der Bruder wieder verschwunden, der Hausstand beinahe schon aufgelöst.

Es geschieht nicht viel in Sylvie Neeman Romascanos Roman «Nichts ist geschehen» – und wenn was geschieht: ist es das tatsächlich? Zum Beispiel die Geschichte, die Francesco erzählt. Er habe einen Brief bei sich, den ihm ein Fremder in Mailand überreicht hätte, damit er ihn in den Briefkasten werfe. Weil er die Adressatin flüchtig kenne, bringe er diesen Brief, einen Abschiedsbrief, nun persönlich vorbei. Doch tut er dies wirklich?

Während ihrer Zugfahrt taucht die Erzählerin in einen taumelnden Gedankenstrom, in dem sie sich selbst sehr genau beobachtet. «Während man die Kaffeetasse anstarrt, merkt man, wie sehr der Löffel fehlt, man könnte auch sagen, dass man ihn vermisst…» – wie einen «Rettungsring», an dem man sich festhalten könnte. Das distanzierende «man» kennzeichnet ihr Selbstgespräch. Es ist der Versuch, «sich selbst zu entfliehen» – ein vergeblicher Versuch. Erst die Begegnung mit Francesco öffnet flüchtig ein Fenster zum erzählenden «Ich».

Dieser diskrete Dreh verleiht der Prosa ihren unverkennbaren Reiz. Der luftige Wechsel zwischen «man», «sie» und «ich» grundiert die Suche der Erzählerin nach etwas, das «normal» und doch anders wäre, «was vom Gewöhnlichen abweicht, alles, was den Lauf der Ereignisse behindert». Erinnerungen an die Kindheit und den verstorbenen Vater tauchen nur flüchtig auf, die Gegenwart beschäftigt Dora zu sehr.

Die von leichter Melancholie angewehte, bewegliche, genaue und immer auch spielerische Sprache erhält im zweiten Teil mehr Gravität. Auf der Rückfahrt versucht die Erzählerin einzuordnen, was geschehen ist, hätte geschehen sein können, gar nie geschah. In gewundenen Sätzen legt sich die Sprache schwer auf Doras Gedanken, bis ihr mit einem mal bewusst wird, «was in meinem Leben wirklich nötig wäre»: ein Kind, oder jemand, der einen am Bahnsteig erwartet.

Diese Entschiedenheit wird gegen Schluss nochmals aufgelöst, in einer Wiederholung der mysteriösen Briefgeschichte. In Mailand beobachtet Dora, wie Francesco einem Fremden einen Brief zusteckt… Einen Liebesbrief an sie?

vorgestellt von Beat Mazenauer, Literaturnetzwerker, Luzern

Sylvie Neeman Romascano: «Nichts ist geschehen». Zürich: Rotpunkt, 2010

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX

6 Sau-Ton – pianissimo gestrichen

«Technik habe ich keine, aber einen Sau-Ton.» Der das sagt, ist ein «braver Schweizer Cellist» in einem von Urs Frauchigers früheren Büchern «Der eigene Ton» (2000). Und Gidon Kremer, der russische Meistergeiger, präzisiert: «Der grosse Ton ist ein Ton, der mit der Person, die ihn erzeugt – und nur mit dieser Person – zusammengewachsen ist.» Im neuen Buch Urs Frauchigers nun, «damals ganz zuerst am anfang», ist ein solch eigener, grosser – ein solcher Sau-Ton (inklusive Technik) laut und deutlich zu vernehmen. Auch wenn er piano – besser noch: pianissimo gestrichen ist.

Denn Urs Frauchiger, 1936 im Emmental geboren, ist nicht nur Autor zahlreicher Publikationen sowie Musiktheoretiker in verschiedenster Mission, Urs Frauchiger ist – vielleicht in erster Linie – Cellist. Jedenfalls Musiker durch und durch, Cellist mit Leib und Seele. In seinem neusten Buch ist von seinen Anfängen die Rede, vom Anfangen auf dieser Welt, die für das Kind eine gestrenge, schulmeisterliche Regel-Welt war. Und von der Musik, die darin ihren Platz einnahm, schamhaft befangen zu Hause, durchexerziert in der Schule.

Beide Eltern waren Lehrer, das Zuhause, im Schulhaus, ein Ort der Zucht und Ordnung und des elterlichen Streits. Der Vater, ein Traumtänzer – ein «Feigling», so die Mutter –, rettet sich in den Zynismus, in den Alkohol und ans Klavier. Wenn er spielt, darf keiner zuhören; wenn aus dem Radio Beethoven ertönt und er, vor sich die Partitur, tränenüberströmt (mit)dirigiert, hat das Kind sich unbemerkt aus dem Zimmer zu stehlen.

Urs Frauchigers Erinnerungspassagen sind Zeugnisse vom Verlorengehen und vom Wiederfinden. Einzelne Szenen, nicht eine lineare Geschichte, fügen sich zu einer schwierigen Kindheit, die dennoch das Kind ungebrochen als waches, beobachtendes und hartnäckig fragendes Wesen bewahrt. Erzählt wird mit feiner, leiser Stimme und immer mit jenem humorvollen Unterton, der den kindlichen Widerstand gegen die Verletzungen unterstreicht. Eine Stimme, zusammengewachsen mit Urs Frauchigers Person, zu dessen alleinigem «Sau-Ton».

Larmoyanz hat keinen Platz im Buch. Die Szene mit der lachenden Mutter – «sie schüttelte sich vor Lachen» –, nachdem das Kind vom Vater eine Ohrfeige bekommen hat und weint, fliesst so ruhig dahin wie die Glückserfahrung in der Weihnachtszeit. Das Kind, noch nicht schulreif, sitzt warm angezogen auf der Schulhaustreppe und hört den Weihnachtsliedergesang: «Das war Glück: Draussen an der Kälte zu sein und warm zu haben, ausgesetzt, sich selber ausgrenzend, eine heimische Türfalle in Reichweite, verloren im unerbittlichen Walten der Natur, während drinnen auf dem Kochherd eine warme Suppe köchelte…» Die Treppe ist für das Kind ein Ort zwischen Verlorengehen und Wiederfinden, ein Ort, nicht da, nicht dort – (s)ein Glücksort. Ein Glücksfall, so wie das Buch, das nun vorliegt.

vorgestellt von Silvia Hess, Literaturkritikerin, Ennetbaden

Urs Frauchiger: «damals ganz zuerst am anfang». Frauenfeld: Huber, 2010

7 Lakonie schlägt Pathos

Ein schmaler Gedichtband von rund 70 Seiten wird leicht übersehen oder für zu leicht befunden. Die zweite Buchveröffentlichung von Roman Graf ist jedoch alles andere als leicht, weder leicht geschrieben noch leicht zu beschreiben. Es ist auch nicht einfach, den Autor zu loben, weil er sich dem leicht Gefügigen und Gefügten mit Kunstverstand widersetzt. Nur das Widersetzliche ist ihm Poesie; rar sind demnach die forcierten Fügungen und Schlaumeiereien.

Der spröde, eher abweisende Titel «Zur Irrfahrt verführt» ist zugleich ein Vers aus dem Gedicht «Dame» und geht dort weiter «Zur Irrfahrt verführt, / Verirrt er sich nicht». Womit der König gemeint ist und sich der Doppelsinn von «Dame» einstellt, den das Nabokov-Motto im vorangegangenen Gedicht «Plagwitz» fürwitzig eingeführt hat: «Einsam steht der König», heisst es dort. Und vorbei ist es mit der Feierlichkeit; der hohe Ton wird in dieser Lyrik nicht selten geerdet, Lakonie schlägt das immer wieder lockende Pathos in einem Zug.

Roman Grafs Gedichtband kennt alle Eröffnungen, die notwendig sind, um im Schach- wie Sprachspiel zu bestehen. Kaum ein Wort, das nicht beim Wort genommen würde, kein Zitieren, das nicht wüsste, was es tut. Und das nicht nur in der Versfolge «Ein zitierter ‹Tittenhalter› / Hängt später Stunde / Und zeigt irgendwohin». Hier ist Rolf Dieter Brinkmann aufgerufen worden, der sich auch in der keineswegs vollständigen Liste der am Schluss Bedankten findet; ebenso wie Stefan George oder der nur Spezialisten bekannte, frühverstorbene österreichische Autor Reinhard Priessnitz aus dem Umkreis der Wiener Gruppe. So manches, das halten soll, hängt; anderes wiederum, das zeigen soll, steht einsam.

Grafs Lakonie kennt nicht nur die Lust am Absturz von Sinn, sondern auch die Trauer darüber. Zerfall, Verdruss, Vergänglichkeit kehren wieder, und eben das potenziert und provoziert die poetische Gegenrede. Oft wird die Zeit beschworen, des Tages Wechsel wie jene der Jahre und Jahreszeiten, verknüpft mit Orten der Erinnerung an Unverlierbares wie Verlorenes. Die Evokation von Zeit, die nicht unüberlegte Wiedergabe von Daten und Jahresangaben in Ziffern oder Buchstaben sind der prägende Eindruck der ersten Lektüre. Dazu passen die Versuche, eine vergangene Welt (der Kindheit, des Liebens) zu wiederholen bzw. wiederzuholen. Melancholie ist ein sich einstellender Effekt, besonders wenn die verlorene Zeit sich mit Orten der Erinnerung einprägsam verknüpft. Oder aber mit dem Ereignis des Verlusts, der Trennung und des Nachdenkens darüber, meistens im Blues-Ton des fahrenden Zugs oder der nicht minder traurigen Spaziergängermelodie Robert Walsers dargeboten, dem nicht im Anhang, sondern in einem Gedicht («Einfache Rede») die Ehre gegeben wird.

Überhaupt gehören die verschwiegenen wie ausgesprochenen Hommagen an andere Wortarbeiter zum Repertoire dieses Bandes. Neben dem in mehrfacher Hinsicht herausragenden «Sappho-Labor» mit Grafs Nachdichtungen haben mich vor allem seine Versuche mit Rolf Bossert überzeugt, dem er in dem Kapitel «Neuntöter» einen schmerzenden Tribut gezollt hat.

Wer solche Gedichte macht wie Roman Graf, kann auch abstürzen; aber nur wer das in Kauf nimmt, kann solche Gedichte machen.

vorgestellt von Karl Wagner, Professor für Germanistik, Zürich

Roman Graf: «Zur Irrfahrt verführt». Zürich: Limmat, 2010

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIX

8 Anrufung der Melancholie

Andreas Neeser könnte ein Minimalist sein. Aus lyrischen Bezügen kommend, monogrammiert er die Welt auch in seiner Prosa. Für die acht Erzählungen in seinem neuen schmalen Band «Unsicherer Grund» beansprucht er gerade einmal hundert Druckseiten. Das kennt man von den prosaschreibenden Lyrikern, dieses Anwenden des lyrischen Prinzips auf Prosatexte, das Vermengen lyrischer Momente mit prosaischer Narration, und man kennt das übliche Ergebnis: Verkappung. Neeser aber ist kein Minimalist, bei ihm kann von verkapptem Erzählen keine Rede sein.

In den acht ruhigen, genau gearbeiteten Erzählungen des schmalen Bandes geht es um in jeder Hinsicht einzelne. Einzelgänger wäre hier das falsche Wort, denn Neeser zielt mit der Figur des einzelnen nicht auf ein Eigenbrötlertum, sondern auf nichts Geringeres als das Alleinsein mit sich und der Welt. Darauf rekurriert auch der Titel «Unsicherer Grund», der einerseits sich auf den Boden unter den Füssen beziehen, anderseits im Sinne einer mangelnden Begründung verstanden werden kann, als Markierung unbekannten Verlusts. Neeser ruft in seinen atmosphärischen Erzählungen die Melancholie an, und er tut das meisterlich. Er kommt ohne jedes Raunen aus, vermeidet das Bedeutungsschwere mit leichter Hand.

«Bei der Haltestelle U-Bahnhof steige ich aus dem Bus der Linie 32 aus. Ebensogut hätte ich weiterfahren können oder die Linie wechseln, aus der Stadt hinaus, in eine weitere Nacht nach einem weiteren Tag. Es hätte keine Rolle gespielt.» Der Ich-Erzähler in «Damals an Ostern» leidet unter Bandscheibenschmerzen und an der Trennung von Stefanie und deren Kind. In dieser Erzählung entscheidet sich Neeser für eine Situationsbeschreibung, während er in den anderen sieben gekonnt Wendepunkte setzt und seine Figuren eben auf sicheren Grund stellt. Zwar verwendet er stets das Mittel der Introspektion und fügt dabei erzählerische Versatzstücke nach und nach zu einer Erzählung. Aber die Puzzles gehen stets auf; etwa in «So viel Leben», worin ein Büchersammler von seiner Obsession geheilt wird, als er sich vor einem liquidierten Buchantiquariat wiederfindet; oder in «Gran Partita», worin der Schrei einer Möwe den Wendepunkt in der Befindlichkeit des Ich-Erzählers auf einem Strandspaziergang markiert: «Ein erster, ein einziger, ein Ton aus dem voranfänglichen Sturm am Meer, voller Absicht und Bewusstsein. Es ist der Ton einer Klarinette, hoch, spitz und kurz. Vielleicht ein Gruss, ein Scherz im Übermut. Zu entscheiden ist es nicht, und sicher ist nur: Am Anfang der Welt ist die Klarinette im Wind.»

Andreas Neesers einzelne sind einzelne auch deshalb, weil sie um ihre Situation wissen. In «Einsame Magier», der vielleicht schönsten Erzählung des Bandes, bringt das der Ich-Erzähler auf den Punkt: «Man kann nicht stehenbleiben, wo man nicht mehr ist.» Neeser selbst ist als Erzähler weit gegangen – zu unserem Genuss.

vorgestellt von Perikles Monioudis, Schriftsteller, Zürich

Andrea Neeser: «Unsicherer Grund». Innsbruck: Haymon, 2010

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