Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIV
12 Bücher, vorgestellt in der vierundzwanzigsten Folge der «Schweizer Autoren
in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.
1 Francesco reist nach Lugano
Um ein Treffen für den diesjährigen Weltbuchtag vorzubereiten, fahre ich ins Tessin; als Begleiter habe ich das neue Werk von Kurt Aebli «Der Unvorbereitete» gewählt. Das Buch hat eine wunderschöne Farbe. Ich hätte gerne einmal ein solches Buch gehabt. Ein Buch, das ich geschrieben hätte. Die Farbe tröstet mich; denn ich muss vier Stunden im Zug durch die regnerische Schweiz fahren. Wenn die Sonne scheint, kann man sich kaum vorstellen, wie die Schweiz regnen kann. Die Farbe wärmt meine Augen. «Das Herz verliert sich, kennt sich nicht, bleibt sich selbst das Dunkelste…» und von der Landschaft sind nur Regenstriche zu sehen. Da tut es gut, sich in Sätze zu verlieren. Bei Aebli zählen die Sätze, die Wörter, die Buchstaben. Die Geschichte ist Transportmittel. Gregor, sein Held, hätte eine solche Reise gar nicht unternommen: vier Stunden hin, vier zurück für eine Sitzung von zwei Stunden. «Alles, was sich nicht nutzlos ans Leben verschwendet, um darin nutzlos zu reüssieren, ist nutzloser Stolz.» Gregors Element «ist eben von jeher das Nichtstun, mit anderen Worten, äusserste Zurückhaltung, was sichtbare Teilnahme oder gar Einmischung in irgendwelche Angelegenheit seines Umfelds angeht.» Aebli scheint hier «naïf» zu reflektieren. Da steckt verkappte Gewitztheit drin. Seine Texte zeigen die feinen Risse auf den Bildern der Gewöhnlichkeit, sie zeigen die leise Zerstörung des Daseins. Als «Unvorbereiteter» komme ich in Lugano an, dafür um eine Farbe und eine neue Freundschaft reicher.
vorgestellt von Francesco Micieli, Schriftsteller & Dozent, Bern
Kurt Aebli: «Der Unvorbereitete». Basel / Weil am Rhein: Urs Engeler Editor, 2009
2 / 3 Die zwei Leisten des Vallotton
Schuster, bleib bei deinem Leisten, heisst es. Aber keiner hält sich dran. Sänger schauspielern, Schauspieler widmen sich den Sangeskünsten – vermutlich, weil hier die besseren Mädchen abzugreifen sind; andere, wie Herr Schwarzenegger, gehen gar in die Politik. Wer sprechen kann, wird wohl auch singen können. Wer nicht denken kann, kann immerhin politisieren. Kein Biologe käme allerdings auf die Idee, einen Atomkern spalten zu wollen, und jeder Physiker würde sich hüten, an den Genen herumzubasteln. Aber Künstler sind halt anders, fühlen sich zu vielem berufen. Immerhin hat Picasso sich zurückgehalten und keine Gedichte oder Romane geschrieben.
Doch es gibt tatsächlich ein paar wirkliche Doppelbegabungen. Einer dieser zweifach Gesegneten ist Félix Vallotton. Diesem Schweizer mit französischer Staatsbürgerschaft, der 1865 in Lausanne geboren wurde, aber schon 1882 nach Paris übersiedelte und dort bis zu seinem Tod 1925 lebte, sind gleich zwei Publikationen zu verdanken, die Ende vergangenen Jahres erschienen sind: ein Roman aus der Feder des Schriftstellers Vallotton und ein Sammelband mit Aufsätzen über den Maler und Graphiker Vallotton.
Zuerst zum Roman. Vallotton hat – neben einigen Schauspielen, Kritiken und Essays – insgesamt drei Romane verfasst. Der vorliegende, «Die Seufzer des Cyprien Morus», war chronologisch der erste, an dem Vallotton sich etwa um die Jahrhundertwende als Autor versuchte, ist aber als letzter ins Deutsche übertragen worden, vermutlich weil er der schwächste der drei ist. «Das mörderische Leben», sein zweiter Roman, um 1907/08 geschrieben, wurde 1985 durch die Aufnahme in die Bibliothek Suhrkamp geadelt, und «Corbehaut», 1920 als letzter entstanden, erschien 1973 in der Manesse-Bibliothek der Weltliteratur. Die beiden späteren Romane zeigen, dass Vallotton sein Zweithandwerk beherrscht. Es sind spröde, ein bisschen boshaft erzählte Geschichten mit herben, uncharmanten Figuren, Nichtsnutzen, Künstlern, Schriftstellern, voll morbiden Reizes, die anderen Klassikern der Moderne, von Hauptberuflern verfasst, in nichts nachstehen. Sie spielen mit Elementen der Genreliteratur, des Kriminal- und Schauerromans auf eine neue, überraschende Weise und plazieren das Grauen äusserst geschickt hinter die bürgerlichen Fassaden, die sie beschreiben.
«Die Seufzer des Cyprien Morus» dagegen wirken leider noch wie eine Fingerübung. Es ist so etwas wie ein satirischer Gesellschaftsroman, in dem Vallotton das Milieu auf die Schippe nimmt, in das er selbst 1899 eingeheiratet hat: das Geldbürgertum, die nouveaux riches. Protagonist ist besagter Herr Morus, der – von dubioser Herkunft – durch das geschäftliche Glück seines Vaters zu Reichtum gekommen und in die Pariser Gesellschaft geraten ist, wo man ihn des Geldes wegen zwar duldet, aber nicht wirklich respektiert. All sein Ehrgeiz richtet sich darauf, Ritter der Ehrenlegion zu werden. Fehlender Geschmack, mangelnde Umgangsformen und eine kaum zu unterdrückende Dummdreistigkeit seiner Anverwandten geben dann aber reichlich Anlass für zum Teil grotesk-komische Szenen, die dem ehrgeizigen Cyprien die titelgebenden Seufzer entlocken und sein Ziel in weite Ferne rücken. Auch der Versuch, sich standesgemäss eine Mätresse zu gönnen, geht im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose.
Ein gewisses Vergnügen, das will ich gern zugeben, ist schon dabei, wenn man diesem um Noblesse bemühten Grossbürger mit kleinbürgerlicher Seele beim Scheitern seines Lebensentwurfes zusieht, erinnert er einen doch immer wieder an die Männer und Frauen, die sich auch heutzutage ohne Stil und Geschmack, aber mit vollen Taschen grossmäulig in den Medien präsentieren. Viele davon so dämlich, dass es schmerzt. Aber ein bisschen Witz, ein dünner Plot und insgesamt ein paar wenige kluge Beobachtungen zu Kunstfragen reichen nicht hin, um einen konkurrenzfähigen Roman zu schreiben. Immerhin ist Vallotton als Erzähler bedeutend genug, um eine Publika-tion zu rechtfertigen.
Das zweite Buch, von dem ich eingangs sprach, enthält Aufsätze über den bildenden Künstler Vallotton, der ein grossartiger Maler und Graphiker war, dessen Holzschnitte, Porträts, Interieurs, Landschaften, Sonnenuntergänge und Akte so eigenwillig und besonders sind, dass eine Einordnung in die gängigen Epochen- und Stilkategorien der Kunstgeschichtsschreibung – wie etwa Symbolismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit oder Magischer Realismus – schwerfällt. So widmet sich der typographisch ausgesprochen schön gestaltete Sammelband Rudolf Koellas, mit Essays aus 40 Jahren Forschertätigkeit, vielen einzelnen Aspekten des Werks – etwa den Prägungen durch die altdeutsche Kunst, der Vallotton mehr Aufmerksamkeit und Begeisterung geschenkt hat als so manchem modernen Kollegen, seiner Beziehung zu Cézanne und Böcklin, seinen fabelhaften Sonnenuntergängen sowie dem Verhältnis von Graphik und Malerei und noch vielem mehr. Ein zweiter (kürzerer) Teil interpretiert ausgewählte Gemälde. Abgerundet wird das Ganze durch eine detaillierte Zeittafel.
Dass bei einer solchen Sammlung von Aufsätzen, die zu unterschiedlichen Anlässen und Zeiten verfasst wurden, gelegentliche Wiederholungen nicht zu vermeiden sind, liegt auf der Hand. Sie stören auch nur, wenn man den Band an einem Stück und nicht in kleineren Häppchen geniesst. Die mit sehr viel Kunstverstand geschriebenen und sehr lesbaren Überblicks- und Einzelaufsätze vermeiden den allzu akademischen Diskurs und erhellen Val
lottons Werk in seinen diversen biographischen und ikonographischen Bezügen.
Dabei wird deutlich, dass Vallotton auch als Maler und Graphiker zeitweilig eine ganz besondere Obsession für bürgerliche Interieurs hatte, die den Handlungs- und Lebensräumen seiner Romanhelden nicht unähnlich sind, oder umgekehrt. Nicht wenige seiner besten und berühmtesten Bilder, Radierungen und Holzschnitte zeigen Innenräume. Und zwar auf eine beklemmende Weise. Etwas Dramatisches scheint sich anzukündigen, scheint sich in dem schweren Plüsch der Vorhänge oder Sessel, den dicken Teppichen und dem schweren Holz der Möbel niedergeschlagen zu haben oder aus den Tapeten zu dunsten. Hier herrscht keine Idylle mehr. Hier lauert Unheil.
Walter Benjamin entdeckt in einer Miniatur seiner Prosasammlung «Einbahnstrasse» einen der Ursprünge des modernen Kriminalromans in den «Schrecken der Wohnung», wo, wie er schreibt, die «Anordnung der Möbel … zugleich der Lageplan der tödlichen Fallen» ist und «die Zimmerflucht» dem Opfer «die Fluchtbahn» vorschreibt. Das bürgerliche Interieur der sechziger bis neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts wird so, wie Benjamin es unnachahmlich formuliert, «adäquat allein der Leiche zur Behausung», es zittert, so heisst es weiter, «nach dem namenlosen Mörder … wie eine geile Greisin nach dem Galan».
In seinen besten Bildern und in seinen besten Romanen hat Vallotton dieses Zittern, diesen Schrecken, diese Unheimeligkeit hinter aller bürgerlichen Tünche durchschimmern lassen. Das verbindet seine literarischen Arbeiten mit seinem Werk als bildenden Künstler. Eine wahrhafte Doppelbegabung eben.
vorgestellt von Gerald Funk, Literaturwissenschafter, Marburg
Félix Vallotton: «Die Seufzer des Cyprien Morus». Zürich: NZZ Libro, 2009
Rudolf Koella: «Über Félix Vallotton. Aufsätze aus 40 Jahren Forschungstätigkeit». Zürich: NZZ Libro, 2009
4 Ob schweizerisch oder indisch – Schnüffler bleibt Schnüffler
Wer sich heute dem ehrwürdigen Genre des Detektivromans widmet und mehr als eine Kopie sattsam bekannter Vorbilder abliefern möchte, sollte ausser Erzähltalent auch einige originelle Einfälle mitbringen. Der Zürcher Autor Sunil Mann, 1972 als Sohn indischer Einwanderer im Berner Oberland geboren, hatte die naheliegende Idee, einen Sohn indischer Einwanderer in Zürich ermitteln zu lassen.
Vijay Kumar ist schon dreissig, hat aber zur Verzweiflung seiner Mutter in seinem Leben noch nicht viel auf die Beine gestellt. Dass er nun ausgerechnet als Privatdetektiv arbeiten möchte, stimmt sie auch nicht gerade froh. Doch der nicht mehr ganz junge Mann ist wild entschlossen, seine in einem Fernkurs erworbenen Qualifikationen zur Anwendung zu bringen, gestaltet stilsicher sein Wohnzimmer zu einem zünftigen Detektivbüro um und darf schon bald im Auftrag seiner ersten Kundin auf Katzenjagd gehen. Der zweite Fall lässt nicht lange auf sich warten (und unser Autor bewegt sich auf ausgetretenen Pfaden). Eine junge Frau sucht ihren Freund, der verschwunden ist, seit er sich auf einen erhofft lukrativen Drogendeal eingelassen hat. Selbstverständlich hat der frischgebackene Detektiv Informanten im Milieu und steht schon bald einer berüchtigten Szenefigur gegenüber, deren albanische Handlanger ihn jedoch kurzerhand vor die Tür setzen. Damit es weitergehen kann, taucht einer aus der Gang wenig später in Kumars Wohnung auf und weiss von bemerkenswerten kriminellen Vorgängen zu berichten. Da er dies jedoch nur in gebrochenem Deutsch tut, zudem von einem seiner Kumpane verfolgt wird und zu guter Letzt auch noch seine Mitteilsamkeit mit dem Leben bezahlen muss, erfährt der Ermittler noch nicht die ganze Wahrheit. Doch wie’s der Zufall und der Autor will, erhält unser Detektiv einen weiteren Auftrag, der seltsamerweise in enger Verbindung zu seinen bisherigen Ermittlungen steht – und schon steht der Auflösung in Form eines dramatischen Showdowns in den Bergen bei St. Moritz nichts mehr entgegen.
Ein Plot wie vom Reissbrett also, an dessen Ausführung nicht viel auszusetzen ist. Mehr zu bieten hat dieser Kriminalroman allerdings nicht. Bis auf einige mässig komische Mutter-Sohn-Szenen vermag der Autor aus der Identität seines Helden, als eines «indischen Schweizers oder Schweizer Inders», von der auf dem Einband so vielversprechend die Rede ist, kaum Funken zu schlagen. Vijay Kumar präsentiert sich vielmehr als einen jener trink- und meinungsfreudigen Privatschnüffler, von denen das Genre Dutzende hervorgebracht hat. Nun, wer gerne seine Zeit mit solchen Figuren verbringt, kommt in diesem Roman zweifellos auf seine Kosten.
vorgestellt von Joachim Feldmann, Lehrer & Redaktor, Recklinghausen
Sunil Mann: «Fangschuss». Dortmund: Grafit, 2010
5 Heile, heile, Mundart
Dagegen verwahrt sich Andreas Neeser vehement: «Ich bin kein Archivar», sagt er, «ich will keine Wörter vor dem Aussterben retten. Im Archiv stirbt eine Sprache. Lebendig bleibt sie nur draussen, unter den Leuten.» – Oder drinnen, in den Büchern, liesse sich ebenso lebhaft nachtragen. Dann beispielsweise, wenn man sein Mundartbuch «No alles gliich wie morn» vor Augen hat, und sich die darin enthaltenen Texte als so vital erweisen, wie man es sich in der Literatur nur wünschen kann.
Mit dem neuen, schmalen Band kehrt Andreas Neeser zu seinen Wurzeln zurück, in die Welt mit ihrer Sprache, die seine Kindheit im aargauischen Ruedertal geprägt hat. Die erdig-markigen Dialektwörter erweisen sich wie Formeln für einen farbig-üppigen Bubenkosmos mit seinen kleinen und grossen Geschichten, mit seinen Nöten und Ängsten und mit seinem Glück. In den Wörtern liegt die ganze Kraft der Texte, sie sind es, die die eindringlichen Bilder beschwören. Und gerade deshalb hat Andreas Neeser gut daran getan, sich selbst beim Erzählen zurückzuhalten. So gelingen ihm mit nur wenigen Sätzen dichte Stimmungsinhalte. So heisst es in der Geschichte «Uf dr falsche Siite vo dr Wält», einem Text über einen Linkshänder, der auf den «rechten Weg» gedrängt wird: «Mängisch het er s
Brüele zvorderscht ghaa – macht alles rächt, und zinnerscht inn isch alls verchehrt.»
«Begöönli», die vielleicht am meisten berührende Geschichte, erschafft auf knapp drei Seiten eine starke, beklemmende Atmosphäre. «Jede Samschtig hämmer s Tournee gmacht» – so beginnt die Schilderung des regelmässigen Friedhofbesuches von Vater und Sohn. Zusammen begiessen sie die Gräber der Verwandten – zwei oder drei Kannen voll Wasser, je nach Bedarf. Am Ende der Tour stehen sie am Grab des verunglückten Sohnes, des Bruders. Dort versagt das rechte Mass. Der Vater «het nume no gschüttet. Eifach gschüttet. Bis d Begöönli versoffe gsi sind. … De Vatter het voorabe gluegt, und ii han au nüüt gseit. Keis Stärbeswort». So wenige Worte können ausreichen, wenn ihr Gewicht, richtig gewogen, zur rechten Zeit zum Einsatz kommt.
Der zweite Teil des Bandes gehört der Lyrik, etwa dem Gedicht «Privatarchiv». Rhythmisch aneinandergereiht folgt Wort auf Wort. Es ist ein geduldiges Aufzählen, eine Bestandesaufnahme eines Mundartlagers, die Benennung als Vergewisserung in einer Welt, in der die Sprache mehr und mehr zur schnellen Phrase verkommt. Dagegen stellen sich Texte mit ungewissem Ausgang – Gedichte und Geschichten wie im Buch von Andreas Neeser. Wem, wenn nicht den Dichtern, sollte es gelingen, die Wörter zu hegen und zu pflegen – sich als Wort-Heiler zu begreifen. Damit sie am Leben bleiben.
vorgestellt von Silvia Hess, Literaturkritikerin, Ennetbaden
Andreas Neeser: «No alles gliich wie morn». Oberhofen: Zytglogge, 2009
6 Monte Verità im Spiessermuff
Im Inflationsjahr 1923 hat der Verlagsbuchhändler Werner Ackermann genug von Berlin und zieht mit Freunden gen Süden, um die Sehnsucht nach einem freien, besseren Leben nicht zuschanden gehen zu lassen. Er landet dort, wo 1905 schon die vor dem Wilhelminismus geflohenen Naturapostel aus Schwabing gelandet waren, in Ascona. Zwei Jahre kann er sein unter Opfern und mit Finanztricks auf dem Monte Verità erworbenes Gelände halten; dann verkauft er es an den Bankier von der Heydt, der dort ein Luxushotel im Bauhausstil errichten lässt, wodurch die Siedlung der Künstler und Lebensreformer endgültig verschwindet.
1930 hat Werner Ackermann unter dem Pseudonym «Robert Landmann» eine Geschichte des Monte Verità als eines Berges der Schwärmer und Aussteiger verfasst und sich als letztes Glied einer auf den belgischen Industriellensohn Henri Oedenkoven zurückgehenden Idealistenkette geschildert.
Landmann verlässt sich mitunter aufs Hörensagen und kommt zu Urteilen, die seltsam anmuten. So ist der Kohlrabiapostel Gusto Gräser bei ihm ein arbeitsscheuer Querulant, der seinem Bruder das Leben sauer macht; Erich Mühsam, der über die Idealisten am Lago Maggiore boshafte, aber sympathiegetragene Aufzeichnungen hinterlassen hat, wird oft als Kronzeuge dafür beigezogen, dass es sich um Spinner handelt; und die Notizen über Franziska zu Reventlows Lebenswandel wirken scheeläugig – man ahnt, dass Neid Landmanns Informanten böse Bemerkungen über die Gräfin machen liess.
Nicht nur inhaltlich ist das Buch problematisch. Auch sein Aufbau ermüdet. Der Autor reiht unablässig Neuansätze aneinander und seine Erzählung der Konflikte in der Gründer- und jeder nachfolgenden Generation von Bergbewohnern ist oft redundant, wobei sein Faible für biedere Figuren wie Oedenkoven, der ständig Familienvermögen in das Unternehmen schiesst, und seine Abneigung gegen vollbärtige Künstler zu vorhersehbaren Wertungsstereotypien führen. Anderseits kultiviert Landmann mitunter einen Spott, der durchaus Reiz hat. Wenn Oedenkovens Eltern – Grossbürger aus Antwerpen – den aus der Art geschlagenen Sohn besuchen, heisst es von der Mutter: «Allerdings war ihr, solange sie sich auf offener Strasse befanden, die auffällige Kleidung unangenehmer als die freie Liebe. Der Anblick von Henris lang herabhängenden Haaren schnitt ihr tief ins gesellschaftlich genormte Herz.»
Solch elegante Sottisen bleiben aber die Ausnahme, und gerade im zweiten Teil des Buchs verzettelt Landmann sich in der Beschreibung defekter Wasserleitungen. Der Inflationsflüchtling war weniger Künstlernatur als Stadtverweigerer und hätte sich im bürgerlichen Sommerfrische-idyll vermutlich wohler gefühlt als unter Lebensreformern radikalerer Couleur. Daher gerät ihm die Schilderung des Monte Verità zur Desillusionsfabel. Mit jeder Generation dünnt der utopische Impetus am Berg mehr aus. So liest sich seine Darstellung als Verfallsgeschichte eines romantisch-unbedingten Aufbruchs. Man könnte aber auch sagen: sie dünstet ein nicht unerhebliches Quantum Spiessermuff aus.
Leider wird bei der Neuauflage nicht klar, wer wann für welche Fortschreibung und Ergänzung verantwortlich ist. Der Hinweis, es handle sich um eine «von Ursula von Wiese überarbeitete und ergänzte Ausgabe» «mit einem Nachwort von Martin Dreyfus», jedenfalls genügt nicht, da weder die Überarbeitungen noch das Nachwort kenntlich werden, also undeutlich bleibt, wo man Landmann, wo andere liest. Der Verlag würde sich Verdienste um die Monte-Verità-Forschung erwerben, wenn er den Text philologisch aufbereiten würde. Noch verdienstvoller aber wäre der Neudruck des legendären Katalogs der von Harald Szeemann 1978 kuratierten Ausstellung «Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie».
vorgestellt von Andreas Heckmann, Schriftsteller, München
Robert Landmann: «Ascona – Monte Verità. Auf der Suche nach dem Paradies». 2. Aufl. [erstmals 1930]. Frauenfeld: Huber, 2009
7 / 8 Verrückt in Gott
Von der Figur eines ihrer Stücke sagt die Autorin Silja Walter, diese erscheine «nur darum ‹verrückt›, weil sie im ‹Dahinter› steht». Ihr selbst ist wichtig, «hinein[zu]schauen in das, was im Geheimnis hinter der Welt und durch sie hindurch wirklich geschieht». Handelt es sich bei dem christlichen Existenzbewusstsein letztlich also um die Spielart eines ganz besonderen Surrealismus? Denen jedenfalls, die in ihm beheimatet sind, bleibt die sogenannte Wirklichkeit immer nur etwas Vordergründiges und Vorläufiges. Das eigene Leben hingegen wird zum «Mysterienspiel», dem sich als Tiefenstruktur ein heute vergessenes Wort einzuschreiben vermag: «Heilsgeschichte». So zu denken und entsprechend zu handeln – das ist närrisch, das ist christlich. Es überrascht nicht, wenn wir nach alledem mit dem Eingeständnis der Verfasserin konfrontiert werden, dass «der Trottel, der Narr … immer» ihre «Trägerfigur» sei.
Stellen wie diese sind es, hinter die in der Altersautobiographie von Silja Walter Ausrufezeichen zu setzen wären. Mit liedhaften Gedichten hatte die Tochter aus renommierter katholischer Verlegerfamilie und ältere Schwester des Schriftstellers Otto F. Walter frühe Berühmtheit erlangt. 66 Jahre ist dies nun her. Ein wiederholt angesprochenes Erlebnis, dessen Geltungsanspruch überwältigend gewesen sein muss, veranlasst die begabte Schriftstellerin 1948 zur praktischen «Umkehrung der Werte im geistlichen Leben». Sie tritt in das Benediktinerinnenkloster Fahr ein und wählt damit die äussere Enge, um innere Weite zu gewinnen. Einer Mentalität, die bloss in den Verheissungen der Säkularität ihr Genügen findet, wird dies schwer zu vermitteln sein. Die strenge Klausur, zu der Schwester Maria Hedwig (so Silja Walters Ordensname) sich ausdrücklich bekennt, ist das völlige Gegenprogramm zur Moderne. Unter dem Vorzeichen des «dreifarbenen Meeres», einer komplexen Metapher für Realitäten, die sie gläubig annimmt, findet sie hier die Möglichkeit zur Abkehr von der «Tyrannei der Dinge».
Auch als Nonne bleibt Silja Walter literarisch produktiv. Ihr Gesamtwerk füllt zehn stattliche Bände, die durch die vorliegende Fortsetzung von «Der Wolkenbaum. Meine Kindheit im alten Haus» (1991) ergänzt werden. Neben der Schilderung eines Daseins zwischen monastischer Auslöschung «des Ego durch den Gehorsam, die Armut, die Beständigkeit» kommt das eigene Werk und kommen dessen Kontexte nicht zu kurz. Silja Walter braucht nicht den Schutzraum einer Rubrik christlicher Dichtung – was manchen ihrer Verehrer ebenso entgegenzuhalten wäre wie denen, für die eine im Kloster lebende Dichterin von vornherein gar nicht erst unter die allgemeinen Qualitätskriterien von Literatur fällt. Diese Autorin kann viel. Gewiss – auch Silja Walter entgeht der «Spannung zwischen Vorgabe und Geheimnis» nicht, die darin besteht, sich auf Wahrheiten zu beziehen, die jenseits ihrer Subjektivität liegen. Anderseits findet man bei ihr mehr an Fremdheit, an aussergewöhnlicher Erfahrung, als in manchen Titeln, deren vermeintlicher Exzessivität das Feuilleton so leicht auf den Leim geht. Was Silja Walter zum Schreiben drängt, ist ja doch viel unerhörter.
Von ihrer Zeit «in der kirchlichen Jugendbewegung» her resultiert die Leidenschaft für das Theater, die die Autorin seither nie verlassen hat und die mit der Fortsetzung «der Tradition biblischer Spiele» auch im ökumenischen Raum wirksam geworden ist. So mag sich denn in diesem Zusammenhang noch der gedrängte Hinweis auf eine Neuerscheinung anbieten, aus der (von der anderen Konfession her) die Zeittiefe jener religiösen Dramatik erhellt, die Schwester Maria Hedwig mit spezifischen Akzenten fortsetzt. Innerhalb der «Neuen Folge» der «Schweizer Texte» hat Friederike Christ-Kutter «Sant Pauls bekerung» und «Oelung Dauidis des Jünglings vnnd sein streit wider den Risen Goliath», die beiden biblischen Stücke von Valentin Boltz (1489–1560), erstmals wieder zugänglich gemacht und kundig kommentiert. Um an den turbulenten Zügen der personenreichen Spiele Freude zu finden, muss man nicht unbedingt ein Fachgelehrter sein. Theater war für Boltz, ab 1546 ein knappes Jahrzehnt hindurch Spitalpfarrer in Basel, eine Angelegenheit der ganzen Stadtgemeinde. Auch hieran knüpft Silja Walter mit gewissen ihrer Spieltypen an. Anders als seine Nachfolgerin im 20. Jahrhundert setzt Valentin Boltz jedoch weniger auf das Mysterium als auf die Lehre. Recht zu leben vor dem Angesicht des Todes: die Erinnerung daran, dass nur das, was dann zu bestehen vermag, echten Wert hat – darin besteht der Schlussappell seiner Stücke, der ebenfalls auf jene Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit verweist, von der Christen sich herausgefordert wissen.
vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Professor für Medienpädagogik, Münster
Silja Walter: «Das dreifarbene Meer». Freiburg i.Ü.: Paulus, 2009
Valentin Boltz: «Bibeldramen. Gesprächsbüchlein», hrsg. v. Friederike Christ-Kutter. Zürich: Chronos, 2009
9 Fotoalbum bis 1960
Dies ist keiner jener vielen opulenten coffee-table-Bildbände, die die wenigen noch unberührten Landschaften unseres Landes auf Hochglanzpapier und in optimaler Beleuchtung abbilden und durch solche Inszenierungen das Klischee des Ferienlandes Schweiz bedienen. Es wäre weit eher von einem historischen Bilderbogen zu sprechen, in dessen Mittelpunkt ganz der Mensch bei seinen alltäglichen Verrichtungen in Beruf und Freizeit steht. Die Rede ist von der Fotodokumentation, die unter dem Titel «Aufbruch in die Gegenwart» im Zusammenhang mit der gleichnamigen Ausstellung des Zürcher Landesmuseums erschienen ist. Die hier ausgewählten Fotos stammen aus den reichen Sammlungsbeständen Peter Herzogs, von denen ein Teil 2008 in den Besitz des Landesmuseums übergegangen ist; sie umfassen einen Zeitraum von 1840 bis 1960. Dieter Bachmann, der erfahrene Publizist und ehemalige Chefredaktor des «Du», hat dem Band ein kurzes Vorwort vorangestellt. Bachmanns Kennerschaft ist es zu danken, wenn zwischen den Fotos Zitate aus dem Werk verschiedener Schweizer Schriftsteller eingestreut sind, die nicht selten einen reizvollen und erhellenden Kontrapunkt zum Bildmaterial setzen. Ein kurzer Abriss der Fotogeschichte von Peter Herzog und ein Hinweis auf die Fotobestände des Landesmuseums von Ricabeth Steiger beschliessen den stattlichen Band, dessen Texte dreisprachig wiedergegeben sind.
Die ausgewählten Fotographien, meist Schwarzweissaufnahmen, vermitteln ein überaus anschauliches Bild des gesellschaftlichen und technischen Wandels zwischen der Gründung des Bundesstaates und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Sehr gut dokumentiert wird der industrielle und technische Fortschritt sowie die staunende Bewunderung, die man dem Bau von Eisenbahnlinien oder der Entwicklung des Automobils und des Flugzeugs entgegenbrachte. Deutlich weniger Fotos zeigen die Landwirtschaft oder die Arbeit in den Fabriken; Peter Herzog erklärt dies damit, dass die Fotografie bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts einem elitären bürgerlichen Publikum vorbehalten blieb.
Ältere Leser werden dieses aussergewöhnliche Buch mit andern Augen betrachten als jüngere, für die vieles, was hier dargestellt wird, abgeschlossene Geschichte ist. Für die Älteren sind manche Fotos lebendiggebliebene Erinnerung und Teil ihrer eigenen Lebenswelt. Bei aller Fortschrittsgläubigkeit, die sich in den Aufnahmen dieses Bandes durchwegs manifestiert, wird der nachdenkliche Betrachter auch auf das aufmerksam, was man Kulturverlust nennen möchte – so zum Beispiel in dem Bild von einem Dorfladen der vierziger Jahre, von dem auf das Kind, das man damals war, eine Atmosphäre von Geheimnis und Verlockung ausging, die man im modernen Supermarkt vergeblich sucht. «Aufbruch in die Gegenwart» ist ein Bildband der besonderen Art, nahe an der Wirklichkeit und am Alltag der Menschen, die diese Wirklichkeit menschenfreundlich zu gestalten haben.
vorgestellt von Urs Bitterli, Prof. em. für Geschichte, Gränichen
«Aufbruch in die Gegenwart. Die Schweiz in Fotografien 1840–1960», hrsg. von Dieter Bachmann und den Schweizerischen Landesmuseen. Zürich: Limmat, 2009
10 Monologe des Betagten
Christoph Simon hat sich mit seinem neuen Roman, obschon nicht ganz neu, so doch ziemlich neu erfunden. Vor allem aber hat er (nach Franz Obrist) einen neuen, wunderbaren Helden geschaffen. Der 87jährige Lukas Zbinden war einst ein passionierter Spaziergänger, melancholischer Witwer, gutgelaunter Betagtenheimgenosse, ehemaliger aufmüpfiger Lehrer und schon viel zu lange unversöhnter Vater. Die mitunter durchaus forsche Landspaziergängerin Emilie war die Liebe seines Lebens. Mit ihr unterhält er sich in Gedanken noch immer, ihr schreibt er, von ihr erzählt er.
Zbinden bekommt den Zivildiener-Frischling Kâzim in die Hände, bittet diesen um Begleitung nach draussen und führt ihn so gleich ordentlich ein in sein persönliches Leben und in das des Betagtenheims. Bei der Vorstellung des Heims ist Lukas Zbinden zuversichtlich: «Sie werden bestimmt bald alle in Ihr Herz schliessen: die ehrbaren Damen und exzentrischen Herren, die gesprächigen Witwen und die schweigsamen Junggesellen, die routinierten Gehbockbenützer, schlurfenden Stubenhocker mit dörrfleischigen Gesichtern. Die Verwirrten, deren Gedanken durcheinanderrollen wie Erbsen auf einem Teller. Die medizinisch Betreuten mit einem Cocktail in den Adern, bei dem Blut eine nebensächliche Zutat ist.» Ein geübter Redner fürwahr!
Vor allem anderen fliesst Zbindens Energie jedoch in die Definitionen des Spazierens, denn darüber reden, das kann er ja noch. Das verhält sich im übrigen auch mit der Liebe so. An sich ein trauriger Sachverhalt, aber mit beherzten Erklärungen über den Wert des Spazierens und einer harmonischen Beziehung tröstet Zbinden sich und die Lesenden darüber hinweg und versucht – Jahrzehnte nach seiner Pensionierung – Kâzim ein guter Lehrer und vielleicht auch Vater zu sein. Zbinden stellt unverblümt Fragen und hat sich offenbar mittlerweile zu vielen von ihnen eine patente Antwort zurechtgelegt. So hat er für sich erkannt, dass das grösste Problem unseres Lebens die «Dumpfheit» sei. Über die Schule doziert der Lehrer a.D. so: «In der Schule geht es nicht ums Rechnen und Rechtschreiben, es geht darum, dass man lernt, mit seinen Mitmenschen klarzukommen. Sehr schade, dass in vierzig Jahren das niemand begriffen hat.» Nur gut, dass Zbinden auch die Grösse hat, sich einzugestehen, dass er selbst auch sein Leben lang gebraucht hat, um zu begreifen, dass sich sein Sohn Markus eben für andere Dinge als Rechnen und Rechtschreiben interessiert, dass seine Talente anderer Natur sind.
Es geht also in diesem Roman um grosse Themen: um die Liebe des Lebens, um Vater-Sohn-Konflikte, Schuldgefühle, um Versöhnung und um die Leidenschaft, die einen aufrecht erhält. Das Spazieren, so will es die Leidenschaft, wird offensiv, unermüdlich und überschwenglich propagiert, die anderen Themen werden subtil eingeflochten in den Text. Dass das Ganze nie schwer, langatmig und moralisch belehrend wird, dafür sorgen nicht nur spannungsgeladene Altenheim-Action-Einlagen (Fahrstuhlbefreiung!), die hinreissend naive Enkelin Angela (die Fachfrau für Party-Catering und nicht Lehrerin werden will) sowie die zahlreichen stets für Unterhaltung sorgenden anderen Nebenfiguren (vertrocknete Menschenfeinde, dauergrantelnde Irre), sondern auch die sprachliche Konzeption des Textes.
(P.S.: Wem diese Besprechung nicht gefällt, dem sei eine Weisheit Zbindens mitgegeben; denn vieles, was für das Spazieren spricht, trifft auch auf das Lesen zu: «Ich will Ihnen etwas sagen, da es mein Sohn nicht hören will: die Kunst, sich auf Spaziergängen nicht zu langweilen, besteht darin, den gleichen Gegenstand wie gestern zu betrachten, sich aber etwas anderes dabei zu denken.»)
vorgestellt von Markus Köhle, Sprachinstallateur, Wien
Christoph Simon: «Spaziergänger Zbinden». Zürich: Bilger, 2010
11 H!
Michel Mettler, bekannt geworden durch seinen Roman «Die Spange», hatte im Dramatiker Felix Kauf schon lange einen Schriftsteller gefunden, mit dem er literarisch korrespondiert. Die Freundschaft zwischen den beiden nahm in der Mitte der Neunzigerjahre ihren Anfang, als sie einander Texte faxten, die der Empfänger weiterführte und anschliessend retournierte. Aus den Faxschreiben wurden später E-Mails, mit ihrer Zahl wuchs sich das gemeinsame Manuskript zu einem Buch aus: «H stellt sich vor».
Es mag in der Natur des brieflichen Hin-und-Hers liegen, dass «H stellt sich vor» eine Sammlung abgeschlossener Geschichten darstellt, die sich um eine einzelne Person drehen. Denn zum einen ist der Fortgang einer Geschichte wohl öfter dem augenblicklichen Impuls – besser: der Lust geschuldet, zu fabulieren. Zum andern scheint sich als dessen Angelpunkt etwas Monothematisches anzubieten, das sich gut variieren lässt, etwa eine Figur wie H, deren aberwitzige Abenteuer in kurzen Episoden geschildert werden.
Doch wer ist H? «H hat entdeckt, dass er mit seinen Augenbewegungen das Verhalten der Tiere im Zoo beeinflussen kann», heisst es einmal. H sei Poet, Handballer, Maler, Musiker, Weltreisender, Architekt, Bauführer, Archivar, ein Prominenter ohnehin. Er stellt sich den andern als das vor, als was er sich selbst imaginiert; er ist ein Mystiker, ein Geheimniskrämer, ein Wichtigtuer, in einem Wort: ein auf Wirkung bedachter Egozentriker. Sein Rat an die Mitmenschen lautet ganz uneigennützig: «Tu, was du tun musst, aber tu es, ohne berühmt zu werden.»
Kauf und Mettler liefern ihre Figur ohne weiteres aus. Dieser satirische Ansatz erweist sich als tragend, die Geschichten um H sind sehr oft sehr komisch. Sie ergeben in der Summe ein Bild von einer Person, die in ihrem privaten Grössenwahn gefangen ist und es versteht, diesen als umfassende Kompetenz in allen Lebenslagen darzustellen. «‹Eigentlich möchte ich nicht tauschen›, ist Hs häufigster Gedanke. Er hat sehr lange gebraucht, um herauszufinden, dass er haargenau er selbst sein will, nichts und niemand sonst.»
So wie Tom Sawyer das Zaunanstreichen zu einer Ehre hochstilisiert, um das Zaunanstreichen für seine Freunde begehrenswert zu machen und nicht selber den Zaun streichen zu müssen, so stellt sich H in den Mittelpunkt seiner imaginierten Welt, die er als einzig reale versteht. Mit der Figur H beschreiben Kauf und Mettler humoristisch auch die Schweiz, in der sie lebt. «H stellt sich vor» zeichnet ein satirisches, scharf konturiertes Mentalitätsbild der heutigen Schweiz. Unbedingt lesenswert.
vorgestellt von Perikles Monioudis, Schriftsteller & Online-Redaktor, Zürich
Felix Kauf & Michel Mettler:«H stellt sich vor». Zürich: Echtzeit, 2010
12 Kein Verlass auf die Impotenz!
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Und das ist, in dem vorliegenden Fall, eine ganze, grosse Lesergemeinde, also wir, die neugieriggewordenen Frisch-Leser und -Liebhaber. Endlich sind sie da, diese «Entwürfe zu einem dritten Tagebuch». Begonnen hatte Max Frisch mit der Arbeit an diesen Aufzeichnungen im Frühjahr 1982. Im April 1983, nach dem Ende der Beziehung zu der überdeutlich – nämlich zweiunddreissig Jahre – jüngeren Amerikanerin Alice, der legendären Lynn aus Frischs grosser Erzählung «Montauk», brach er die Arbeit an jenen ab und vernichtete offenbar sein Exemplar des Manuskripts. Das Exemplar, das seine Sekretärin aufbewahrt hatte, blieb zum Glück erhalten. Es handelt sich bei diesen Texten keineswegs um vorläufige, gar flüchtige Niederschriften, sondern um ein durchgearbeitetes, sichtlich komponiertes Werk. Wie Frischs frühere Tagebücher (1946–1949 und 1966–1971) verstehen sich auch die Aufzeichnungen nicht als intimes Journal, sondern als eigenständiges Werk. Über die Veröffentlichung hatte der Stiftungsrat der Max-Frisch-Stiftung zu entscheiden. Vor allem Adolf Muschg (der übrigens von Frisch in einem Gespräch mit H. L. Arnold, im November 1974, als «hoffnungsloser Hypochonder» apostrophiert worden war) stemmte sich entschieden gegen die Publikation. «Muschg findet die Texte schlecht und unwichtig; ich finde sie gut und von Bedeutung», erklärte dazu der Herausgeber Peter von Matt.
Tatsächlich ist das Spektrum enger als in den ersten beiden Bänden. Drei Schauplätze nur: Berzona im Tessin; New York, das ihn – «wie dieses Amerika» überhaupt – «ankotzt» und von dem er gleichzeitig bekennt: «I love it»; und Ägypten. Das war die letzte Reise mit seinem Freund Peter Noll, einem Strafrechtler der Universität Zürich, der noch im gleichen Jahr an Krebs starb. Diese Passagen gehören zu den Glanzstücken von Frischs Werk überhaupt. Wie sich hier die distanzierte Beobachtung des Freundes mit freundschaftlicher Nähe in genauer Beschreibung verschränkt, bis in subtile Reaktionen hinein, das ist einfach grossartig. Naturgemäss führen solche Überlegungen zu weiteren Reflexionen über den Tod und die Frage, was danach kommen mag. Ernst Bloch wird mit der Bemerkung zitiert, «er könne sich nicht vorstellen, dass nach dem Tod einfach nichts sei». Frisch kommentiert den Philosophen leicht bissig: «…andere sagen: ich kann mir einfach das Nichts nicht vorstellen.»
Das Alter und ebenso das Altern spielt eine grosse Rolle. «Wann», fragt sich der Autor, «gibt man die geschlechtliche Impotenz zu?» Und fügt gleich danach an, dass «auch auf die Impotenz kein Verlass ist». Er notiert: «Ich werde ein Greis.» Und fragt sich (darum) im gleichen Zusammenhang: «Was geht mich Israel an?» Bekennt aber nur wenig später: «Ich habe Angst um Israel.» Er beschäftigt sich mit der Reaganschen Aufrüstungspolitik und den Zukunftsaussichten einer Welt, die damals drauf und dran war, ihre Zukunft zu verspielen. Er spricht, wie auch früher schon, viel von sich und kommt dabei aber oft zu Einsichten, die weit über ihn hinausweisen: «Zukunft über die eigene Person hinaus ist für die meisten kaum noch eine verbindliche Kategorie.» Anders als Brecht, der «an» und auch für «die Nachgeborenen» schrieb, glaubt er nicht mehr daran, dass die heutigen Schriftsteller «in hundert Jahren noch gelesen» werden. Eindrucksvoll am Ende der Versuch, sich eine Heimstatt, ja vielleicht sogar eine Heimat zu erschreiben, die er zeitlebens nicht finden konnte: ein Lebensabendhaus, das so exakt ausgemalt wird, wie keine Utopie es vermöchte.
Er bekennt seinen «Ekel vor der Schreibmaschine», wischt sein «neues Buch», «Blaubart», geringschätzig beiseite: «Eine Fratze, eine gekonnte Grimasse». Und zweifelt auch am Geltungsanspruch der Moderne: «Sicher war das Bauhaus nicht das Ende, nein, aber dass es danach wieder die Gartenlaube gibt, das kann verletzen.» So verabschiedet sich ein alter, grosser Schriftsteller von seiner Welt, die ihm mehr und mehr entgleitet. Frisch war berühmt geworden, weil er sich nach der weltgeschichtlichen Katastrophe seines Jahrhunderts, nach Hitler und dem Holocaust, radikale Fragen stellte, existentielle Fragen, die damals viele beschäftigten. Ein Ich, ein Prüfstand. Friedrich Dürrenmatt, einst Freund, später nur noch Kollege und Konkurrent, attestierte ihm zu seinem 75. Geburtstag: «Als einer, der so entschlossen wie Du seinen Fall zur Welt macht, bist Du mir, der ebenso hartnäckig die Welt zu seinem Fall macht, stets als Korrektur meines Schreibens vorgekommen.»
Auch in diesen «Entwürfen zu einem dritten Tagebuch» hat Frisch, und zwar naturgemäss, wieder seinen Fall zur Welt gemacht. Dem Agnostiker Max Frisch zuliebe sollten wir deshalb laut und deutlich Gott sei Dank sagen.
vorgestellt von Martin Lüdke, Literaturkritiker,Frankfurt a.M.
Max Frisch: «Entwürfe zu einem dritten Tagebuch». Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Berlin: Suhrkamp, 2010