Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIII
8 Bücher, vorgestellt in der dreiundzwanzigsten Folge der «Schweizer Autoren
in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.
1 Keine Globalisierung im Niederdorf
Martin Suter hat einen Roman geschrieben, der mehr sein will als spannende Unterhaltung. Stand im Zentrum von Suters letztem Buch «Der letzte Weynfeldt» das Privatleben eines schrulligen Zürcher Millionärs, so konfrontiert das vorliegende seine Leser mit der Globalisierung. Ein mittelloser tamilischer Koch kämpft gegen erpresserische Landsleute, ausländerfeindliche Schweizer und seine eigene hoffnungslose Situation in der hierarchischen Zürcher Gastronomie. Suter rückt neben den Tamilen noch weiteres randständiges, aber durchweg positiv geschildertes Personal in den Mittelpunkt: Serviceangestellte, Lesben und dunkelhäutige Prostituierte. Daneben machen die Schweizer, wie etwa ein Drahtzieher von Waffengeschäften oder ein Manager des Jahres, eher eine schlechte Figur. Eine sich um den vom Tamilen und seiner lesbischen Kollegin betriebenen erotischen Kochservice rankende Geschichte verwirbelt diese Figuren miteinander. Genremässige Erwartungen eines Happyend werden enttäuscht. Die lesbische Kollegin des tamilischen Kochs bleibt diesem gegenüber spröde, der in sie verliebte Koch nimmt schliesslich mit einer Landsfrau vorlieb, statt eines raffinierten Mords ist der Tod des Waffenschiebers nur die banale Folge seines eigenen ungesunden Lebenswandels. Man braucht keine einsamen Hotelabende, um an dieser trocken erzählten, flüssig durchlaufenden Story hängen zu bleiben.
Dem angepeilten anspruchsvolleren Ziel, Unterhaltung mit globalisierungskritischer Aufklärung zu verbinden, gerät jedoch die Überzeichnung der Personen in die Quere. Die vom Autor gewollte Botschaft ist klar. In unserer Mitte leben dunkelhäutige Wesen, und sie sind auch Menschen. Sogar bessere als wir. Sie kennen eine Menge uns unbekannter Gewürze. Sie wissen noch von der intakten Natur und den alten Weisheiten. Überseht sie nicht, wenn ihr auf dem Gang zur Toilette kurz in die Küche späht! Die konsumfreundlich einfach gezeichneten Figuren entkräften jedoch hinterrücks die gute Absicht. Der Koch: nur gläubige Traurigkeit, die lesbische Kollegin: nur unbekümmerte Lebenslust, die srilankische Landsfrau: nur beherzte Aufsteigerin, die äthiopische Prostituierte: nur vergnügte Stoikerin. Bleiben schon die Guten flach, so umso mehr die Bösen. Die verbohrten Vertreter der Tamil Tigers, die sex- und geldsüchtigen Männer, der gelangweilte Waffenschieber sind nur Rollenmuster. Einseitig auch die Optik: alle Frauen sind schön und gross, und der Koch ist grösser als für einen Tamilen üblich.
Dabei bietet das Buch durchaus Ansätze für einen globalisierungsbewussten Unterhaltungsroman. Der Koch verbindet seine ayurvedischen Gerichte mit der molekularen Küche. Alte Heilkunst trifft auf moderne Technik. Die zentralen Konflikte der Geschichte, wie Religion gegen Sex, Lebenskunst gegen Geld, Armut gegen Reichtum, sind durchaus aufgereiht, bleiben aber nur Gerüst für die Krimihandlung, während sie doch auch Motor sein könnten. Das soziale Klima ist gegenüber dem buddhistischen Millionärsdasein des «Letzten Weynfeldts» härter, aber für ein Massenpublikum immer noch konsumtauglich. Die Gestalten in einem globalisierungstauglichen Roman agierten wilder und erfindungsreicher. In ihm würde etwa der Koch die Prostituierte heiraten, die Prostituierte eine ayurvedische Bank gründen und beide einen srilankischen TV-Sender im Niederdorf betreiben, in dem die Tamil Tigers Christoph Blocher mit seinen Geschäften in China konfrontierten. Wenn solch ein Roman überhaupt noch so nett sein könnte wie der vorliegende.
vorgestellt von Anton Leist, Zürich
Martin Suter: «Der Koch». Zürich: Diogenes, 2010
2 Die erlesenen Perspektiven des Claus Helmut Drese
Das Theater ist in der Krise, heftiger und grundlegender, als man es noch vor zehn Jahren für möglich gehalten hätte. Längst ist sein Anspruch zerronnen in der fortwährenden Verwässerung des Kulturbegriffs, der von der «Unternehmens-» bis hin zur «Szenekultur» keinem, auch noch so marginalen, Lebensbereich vorenthalten wird. Die Mahnung, es handle sich im Theater um den Umgang mit Kunstwerken, gilt als heillos gestrig. Und längst sind die Texte, die in der Regel der Vergangenheit entstammen, zum Freiwild hemmungsloser Regisseure verkommen, denen ihr entgrenztes Assoziationsvermögen als letzte interpretatorische Instanz gilt, bejubelt von einer publizistischen und gesellschaftlichen Schickeria, der es auf den Bühnen nicht «interessant», «provozierend» und «verstörend» genug zugehen kann. Was soll man von einem namhaften Regisseur und Intendanten halten, der zum ersten Tristan-Akt (erste Szenenanweisung: «auf dem Vorderdeck eines Seeschiffes») erklärt, selbstverständlich spiele das bei ihm nicht auf einem Schiff? Wer hier historische Verantwortung anmahnt und derlei unerträgliche Borniertheiten für unzulässig erklärt, gilt heute gemeinhin als jemand, der von den Erfordernissen des gegenwärtigen Theaters eben nichts verstehe.
Die Zeiten waren anders, und es ist noch nicht lange her. Claus Helmut Drese ist einer der bedeutendsten, einflussreichsten Theaterleute des 20. Jahrhunderts, Intendant an grossen Bühnen, darunter Köln, Zürich und die Wiener Staatsoper, einer der letzten, der – wie in Köln – noch zuständig war für alle Theatersparten, zudem ein Intendant, der selbst immer wieder Regie geführt hat. Er ist natürlich ein Impresario alten Schlages, aber einer, der sich seiner Verantwortung stets bewusst war: im Theater und speziell im Opernhaus Werke in aller Verantwortlichkeit präsent zu halten. Immer wieder hat er appelliert, dass dies im produktiven Spannungsfeld zwischen Historie und Gegenwart, zwischen dem Wissen um das Vergangene und seiner angemessenen Vergegenwärtigung, zwischen Distanz und Nähe zu geschehen habe. Seit seinem Abschied aus dem aktiven Theaterleben in den 1990er Jahren hat Drese etliche Bücher geschrieben, und in diesen Büchern zeigt er sich, mehr und mehr, als ein Leser, ein Leser von Werken, von Partituren, von Deutungen. So lag es eigentlich nahe, irgendwann das eigene Leben gewissermassen in die Leseerfahrungen aufzulösen. Das so entstandene Buch mit dem schönen und doppeldeutigen Titel «Erlesene Jahre» ist eine Chronologie der persönlichen Lektüren, beginnend in der Gegenwart des heute 87jährigen und rücklaufend in die Robinson-Begeisterung des Knaben.
Jedem Jahreskapitel sind in Stichworten jene Persönlichkeiten vorangestellt, deren Verlust Drese beklagt. Was anderswo als Eitelkeit gelten könnte, erweist sich hier als gelebte Erfahrung. Ein halbes Jahrhundert in hoher Verantwortlichkeit gestalteten Theaters hat ihn mit nahezu allen von dessen Grössen in persönliche Verbindung gebracht, von Freundschaften wie derjenigen mit István Kertész oder Jean-Pierre Ponnelle bis hin zu den zahlreichen beruflichen Begegnungen, die von Günter Wand bis zu Luciano Pavarotti reichen. Immer wieder wird erkennbar, dass Dreses lesende Lebensreise auch eine stete, nie nachlassende Bemühung ist, die Kunstwerke, die doch den eigentlichen Lebensinhalt ausmachen, besser, genauer, angemessener zu verstehen. Stets ist dabei das von den Beliebigkeiten des gegenwärtigen Theaters ausgelöste Befremden erkennbar. Wie bei Joachim Fest, dessen späte Erinnerungen ebenfalls gewürdigt werden, tönt die Erfahrung des Zeugen schlimmer Zeiten durch. Wer erleben konnte, wie labil die Identität von Texten sein konnte in Zeiten von Diktatur und Krieg, als Instrument des Missbrauchs für die einen, als Refugium der Identitätsstiftung für die anderen, hält den Raum der Deutungen nicht für grenzenlos.
Gerade deswegen besitzen Dreses Lektüren aber auch keinen Appellcharakter; sie fordern zu nichts auf – es sei denn, zur fortwährenden Nachdenklichkeit. All dies erscheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts merkwürdig unzeitgemäss und entrückt – und doch: das Theater und die Oper der Gegenwart bedürfen dieser Nachdenklichkeit mehr denn je. Dreses «erlesene Jahre» bergen demnach in sich nicht bloss einen Rückblick, sondern eine Perspektive für einen über weite Strecken entgleisten Betrieb. Das ist wahrlich nicht wenig.
vorgestellt von Laurenz Lütteken, Zürich
Claus Helmut Drese: «Erlesene Jahre. Begegnungen – Erfahrungen – Inszenierungen. 2007–1932». Berlin: Dittrich, 2008
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIII
3 Der Schwur des Studenten
Wer sich die «Kurzbiographie» Al Imfelds auf seiner Website anschaut, kann nur staunen. Der 1935 als Sohn einer Bergbauernfamilie geborene Autor, Journalist und Entwicklungsexperte wurde zunächst katholischer Priester, überwarf sich aber schnell mit der Kirche, promovierte dann in evangelischer Theologie, um schliesslich doch Journalist zu werden. Quasi nebenher qualifizierte er sich in Agrarwissenschaft, und es ist dieses Interessengebiet, dem sein neues Buch «Elefanten in der Sahara» gewidmet ist.
Inspiration dieser «Agrargeschichten aus Afrika» ist ein lange zurückliegendes Schlüsselerlebnis des Autors. 1966 fiel er bei einer Prüfung in Agrargeschichte und Anthropologie an der Northwestern University in Evanstown/Chicago mit Pauken und Trompeten durch. Er hatte es gewagt, an der These des Archäologen Vere Gordon Childe (1892–1957) zu zweifeln, in Afrika habe es vor der Kolonisierung praktisch keine Agrarkultur gegeben. «Sie sprechen ideologisch und nicht wissenschaftlich. Afrika ist von Nomaden bevölkert, und Nomaden kennen keine Landwirtschaft», kommentierte einer der Professoren die Fundamentalskepsis des Studenten. Für Imfeld war dieses Erlebnis so einschneidend, dass er es sowohl an den Anfang als auch ans Ende seines Buches stellt. Wütend habe er damals geschworen, eines Tages eine afrikanische Agrargeschichte vorzulegen, die beweisen würde, dass nicht er der Ideologe war, sondern vielmehr Wissenschafter wie Childe, dem die Bibel noch als Geschichtsbuch galt. Verlässt man sich nämlich auf das Buch der Bücher, so liegt die These nahe, der Ursprung aller Landwirtschaft sei im Zweistromland, zwischen Euphrat und Tigris, zu verorten. Dass hier ein Mythos als historische Tatsache missverstanden wurde, ist inzwischen belegt.
Imfeld zitiert zahlreiche Forschungsberichte, denen deutliche Hinweise auf eine frühe afrikanische Agrargeschichte zu entnehmen sind. Dass diese Erkenntnisse so lange auf sich warten liessen, liegt unter anderem am Umstand, dass weder die englische noch die französische Kolonialmacht grosses Interesse an archäologischen Untersuchungen hatte, ging man doch davon aus, der Kontinent sei praktisch «geschichtslos». Erst die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten in den sechziger Jahren verlieh der kulturgeschichtlichen Forschung Schwung. Schon bald lagen Zeugnisse vor, die wenig Zweifel daran liessen, dass auch im vorkolonialen Afrika Tiere gehalten und Pflanzen kultiviert wurden. Und seit 2002, so schreibt Imfeld im letzten Kapitel, mache die Erkundung der Landwirtschaftsgeschichte Afrikas gewaltige Fortschritte. So finden sich in «Elefanten in der Sahara» aktuelle Forschungsergebnisse, die allerdings wie Puzzleteile eines noch zu erstellenden Gesamtbildes wirken. Denn die umfassende afrikanische Agrargeschichte, von der der junge Al Imfeld 1966 träumte, liegt bislang nur in englischer Sprache vor und ist über seine Website abzurufen.
Die von ihm selbst so bezeichneten «kleinen Geschichten» hingegen, aus denen «Elefanten in der Sahara» besteht, wirken – besonders auf Leser, die noch nicht mit der Materie vertraut sind – manchmal ein wenig verwirrend. Der engagierte Erzähler Imfeld besitzt eine respektgebietende Sachkompetenz; doch seinem, aufgrund des Informationsgehalts unbedingt lesenswerten, Buch wäre ein wenig mehr Stringenz gut bekommen.
vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen
Al Imfeld: «Elefanten in der Sahara. Agrargeschichten aus Afrika». Zürich: Rotpunkt, 2009
4 Spittelers Standpunkt und mehr
Ist der Schriftsteller Carl Spitteler für den heutigen Leser noch zu retten? Seine epischen Dichtungen «Prometheus und Epimetheus» und der «Olympische Frühling» werden kaum mehr gelesen; sie waren schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens Fremdkörper in einer dem kritischen Realismus verpflichteten Literatur. Spittelers Roman «Imago» ist vor allem deshalb bekannt geblieben, weil Sigmund Freud den Titel für die von ihm herausgegebene Zeitschrift übernommen hat. Zwar beeindruckt der Roman noch immer durch die Eigenwilligkeit seiner Sprache und das feine psychologische Porträt der Hauptfigur; aber sein Thema, den Gegensatz zwischen Bürger und Künstler, finden wir in Thomas Manns «Tonio Kröger» gültiger abgehandelt. Gewiss sind Spitteler einige bedeutende Gedichte gelungen; aber wir suchen sie in den gängigen Sammlungen deutschsprachiger Lyrik vergeblich.
Wenn Dominik Riedo seiner eben erschienenen Auswahl von Spittelers Texten den Titel «Unser Schweizer Standpunkt» gibt, so stellt er mit Bedacht jenen Text des Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers in den Vordergrund, der auch heute nichts von seiner Eindringlichkeit verloren hat und zum dauernden Bestand unseres politischen Schrifttums zählt. Es handelt sich um eine von Spitteler im Dezember 1914 gehaltene Rede. Vier Monate zuvor war der Erste Weltkrieg ausgebrochen, und die Auseinandersetzung im Westen hatte nach der Marne-Schlacht den Charakter eines mörderischen Stellungskrieges angenommen. Mit Besorgnis stellte Spitteler fest, dass der deutsch-französische Konflikt in unserem Land zu einer Polarisierung zwischen Deutsch und Welsch geführt hatte, die die Einheit der Nation zu gefährden drohte. In beschwörendem Tonfall wies er auf die staatserhaltende Bedeutung der schweizerischen Neutralität hin und stellte fest, dass der Solidarität zwischen den Schweizer Bürgern der verschiedenen Landesteile die weit wichtigere Bedeutung zukomme als der Parteinahme für eine der sich befehdenden Nationen. Die Rede ruinierte Spittelers Ruf in Deutschland auf Dauer. Es widerfuhr ihm Ähnliches wie dem im Schweizer Exil lebenden französischen Schriftsteller Romain Rolland, dessen Schrift «Au-dessus de la mêlée» ihn bei seinen Landsleuten in Verruf brachte. «Unser Schweizer Standpunkt» ist, über seinen Inhalt hinaus, ein Manifest für das politische Engagement des unabhängigen Schriftstellers geworden – so hat es der Historiker Jean Rudolf von Salis gesehen, der dem Text 1965 einen schönen Essay gewidmet hat.
Neben «Unser Schweizer Standpunkt» und «Imago» enthält Riedos Auswahl noch einen Ausschnitt aus dem «Olympischen Frühling», ein paar hübsche Prosaskizzen sowie einige Proben von Spittelers Lyrik. Gerne liest man Gedichte wie «Die Ballade vom lyrischen Wolf» und «Das bescheidene Wünschlein». Und man freut sich am ganz und gar unpreussischen Patriotismus der «Jodelnden Schildwachen», eines Gedichts, dessen Reiz nicht darunter gelitten hat, dass ganze Schülergenerationen es auswendig lernen und vor der Klasse rezitieren mussten.
vorgestellt von Urs Bitterli, Gränichen
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIII
Carl Spitteler: «Unser Schweizer Standpunkt. Hrsg. von Dominik Riedo. Luzern: Pro Libro, 2009
5 Live on Stage
Holt die Lederhose aus dem Schrank, lasst bei Hemd oder Bluse vier Knöpfe offen, steckt euch die Piratenohrringe an – der Roman «Verlangen nach Drachen» von Verena Rossbacher liest sich wie ein Popstarcasting. Einziges Mitglied der Jury ist die attraktive, aber gnadenlose Clara vom Wiener Kaffeehaus Neugröschl, und wer sie am meisten beeindruckt, darf bei ihr bleiben. Rossbacher – in Bludenz geboren, in Zürich ausgebildet – kündigt dieses Festival als «Panoptikum der Glücks- und Sinnsucher» an, doch die Suche bleibt mehr als einmal erfolglos. Mal stimmt der Sound nicht, mal ist die Bühne für die bescheidene Show zu gross. Den Eröffnungsakt «Grün» trifft dabei keine Schuld: unbehauener, dreckiger Blues, geradeaus, motzig – das Neugröschl bebt. Es scheint ein guter Abend zu werden. Danach hat «Kron» einen schweren Stand, das Niveau zu halten. Dem politisch angehauchten Indiepop fehlt der echte Groove. Die Band schrubbt ihren Song herunter, die Zuschauer nicken halbherzig im Takt – der Funke springt nicht über. Noch deutlicher trifft das auf die Fehlbesetzung des Abends zu, den Soloakt «Stanjic», Mann mit Cello, singt eigene Lyrik. Stanjic leidet auf der Bühne und keiner weiss, warum. Es folgt der Auftritt von «Lenau», einer bemühten Joy-Division-Coverband. Die Jungs spulen ihr «Love Will Tear Us Apart» ab, ohne dass satter Rock und weinerlicher Text zusammenfinden. Erst der in die Jahre gekommene, aber quietschlebendige Punkrock von «Wurlicher» bringt Wucht und Wonne zurück in den kopflastigen Abend. Noch einmal wogt das Neugröschl, das Klavier wird zertrümmert und die Fäuste fliegen. Doch als die Stimmung tatsächlich wieder kocht, hat Rossbacher die Idee einer Jam-Session der teilnehmenden Bands. Was folgt, ist ein kakophonisches Geschrammel, bei dem die Musiker bestenfalls eigene Wege gehen und schlimmstenfalls keinen Ton treffen. Clara hört schon längst nicht mehr zu, ist vielleicht sogar gegangen. Insgesamt muss der Produzentin Rossbacher vorgeworfen werden, dass zu viele der Kandidaten nur für den Kopf spielen, nicht für Bauch und Beine. Das ist oft ein ambitioniertes Fiedeln und Herumphilosphieren, aber kein Rock’n Roll. Hängt die Lederhose wieder in den Schrank, knöpft Hemd oder Bluse zu, legt die Piratenohrringe zurück ins Schmuckkästchen.
vorgestellt von Michael Harde, Schalkenbach
Verena Rossbacher: «Verlangen nach Drachen». Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIII
6 Der Bodensee sog – bis ins Montafon und ’s Ländle
Die nicht erst seit gestern weitverbreitete Sehnsucht nach einem Aufenthalt am Bodensee hat, und zwar über Jahrhunderte hinweg, bedeutende Literatur hervorgebracht. Vieles davon versammelt die eng bedruckte und schön gestaltete Anthologie «Im Sog des Bodensees», in der Herausgeber Klaus Isele auf Gedichte ganz verzichtet und damit Raum für Prosatexte von nicht weniger als 82 Schriftstellern schafft, von dem vor 2000 Jahren wirkenden Strabon bis hin zu Gegenwartsautoren wie Gianni Kuhn, Christoph Hamann, Ulrike Längle oder Alissa Walser. Nicht alle erliegen dem offenkundigen Charme des Sees und preisen ihn und seine Ufer; es gibt auch Warnungen vor der narkotisierenden Wirkung der Bodenseelandschaft, zum Beispiel von Martin Walser. Doch die Faszination überwiegt, und etwas von diesem Sog verdankt sich auch dem Länderübergreifenden des Sees. «Während die Landesgrenzen zwischen der Schweiz, Österreich und Deutschland exakt vermessen und festgelegt sind, schafft das Wasser etwas Verbindendes jenseits der Nationalstaaten», schreibt der Herausgeber, der wohl kaum ahnen konnte, wie nötig wir heute die Reflexion auf dieses Verbindende brauchen.
Diese Anthologie legt ihren Schwerpunkt ganz zu Recht auf das 20. Jahrhundert und die Gegenwart. Und sie fasst, ebenfalls ganz zu Recht, den Begriff «Literatur» weit und lässt Heimat- und Landeskundlichem ebenso Platz wie einer kulturhistorischen Reflexion von Egon Friedell über das Konstanzer Konzil. Selbstverständlich findet man Erasmus von Rotterdam oder Michel de Montaigne, natürlich kommen Goethe und Hebel zu Wort, sogar Victor Hugo oder Theodor Fontane, der 1875 vom Rheinfall berichtet: «Die Natur ist in einem steten Donner, und wenn es donnert, schweigt der Mensch.» Doch seinen Reiz bezieht das gediegene Buch aus der Vielfalt späterer literarischer Äusserungen; denn in der Bodenseeliteratur der letzten hundert Jahre ist der Herausgeber in bemerkenswertem Ausmass fündig geworden – auch wenn man sich natürlich fragen kann, was Ernest Hemingways Aufenthalt in Schruns im Montafon mit dem Bodensee zu tun hat. Auch wenn man den einen oder anderen Text vielleicht zum zweiten oder dritten Mal liest, man schmökert in dieser Sammlung ohne Zweifel mit Genuss und Gewinn. Denn die Prosahappen, manche von nur einer Buchseite Umfang, haben es fast alle in sich. Zudem sind einige überraschende Entdeckungen zu machen. Wer weiss schon, dass Karl Valentin 1921 bei Blitz und Donner von Lindau nach Romanshorn übersetzte und dem schaukelnden Schiff «blass wie eine Kernseife» entstieg? Oder dass René Schick-ele zum Löwen auf der Lindauer Hafenmole bemerkt: «Nie ist ein bevorstehender Schlagfluss überzeugender in Stein gemeisselt worden»? Ob alle Liechtensteiner davon begeistert sein werden, was Ernst Glaeser 1932 über das Fürstentum schrieb? Ob alle Thurgauer die «sanfte Heiterkeit» ihres Kantons spüren, die ihm Dino Larese 1967 attestiert hat? Und dennoch Niklaus Meienbergs Arbon-Reportage schätzen? Ob die Bewohner von Ermatingen allesamt glücklich sind über Gerold Späths grandiosen Romanauszug «Hochzeit im Fetten Fladen»? Wir wissen es nicht – und sind trotzdem sicher, dass man ihnen und einem noch viel weiteren Lesepublikum mit dieser anregenden Anthologie eine Freude machen kann.
vorgestellt von Klaus Hübner, München
Klaus Isele (Hrsg.): «Im Sog des Bodensees. Eine Anthologie». Eggingen: Edition Isele, 2009
7 Der Verlobte der Ehefrau
Die Geschichte beginnt mit einer Zugfahrt. Emma, eine Frau Mitte vierzig, reist von Triest ins süditalienische Calopezzati, das Heimatdorf ihres Verlobten Lorenzo. Im Gepäck hat sie neben einigen Fotos des Geliebten einen zerbrochenen Armreif und eine Rose aus Metall, Geschenke, die sie vor vielen Jahren von ihm bekommen hat und jetzt wieder zurückbringt. Spätestens als am Bahnhof nicht Lorenzo, sondern dessen Bruder Antonio auf sie wartet, weiß der Leser, dass die im Titel angekündigte kalabrische Hochzeit kein rauschendes Fest wird.
Vierzehn Jahre zuvor ist Emma dem sieben Jahre jüngeren Lorenzo in der Disco begegnet. Die schüchterne, sexuell unerfahrene Frau erliegt der selbstsicheren, leicht anrüchigen Ausstrahlung des Süditalieners, der für sie aus einer ganz anderen Welt zu kommen scheint. Lorenzo lebt exzessiv und ziellos. Sein Studium der Politikwissenschaften hat er abgebrochen, verdient seinen Lebensunterhalt als Barkellner und Drogenkurier und unterhält ein reges Liebesleben. Für ihn zählt der Genuss im Augenblick, nicht das Versprechen auf eine nahe oder ferne Zukunft. Nach nur vier Monaten trennt Emma sich von Lorenzo und lässt sich noch am selben Tag mit Carlo ein, einem feinfühligen Dichter, von dem sie sich Halt und Sicherheit erhofft. Obwohl sie keinerlei Leidenschaft für ihn empfindet, heiratet sie Carlo, bekommt mit ihm ein Kind und zieht auf seinen Wunsch nach Triest. Allerdings erweist sich der scheinbar so sensible Poet schon bald als selbstverliebter Träumer, der in den Kaffeehäusern der Stadt seinen Weltschmerz kultiviert und mit den banalen Anforderungen des Alltags nicht belästigt werden will.
Unentschlossenheit und die Sorge um ihre Tochter hindern Emma daran, aus dem Gefängnis ihrer Ehe auszubrechen, bis sich nach exakt zehn Jahren plötzlich Lorenzo wieder bei ihr meldet. Von da an beginnt für Emma ein Doppelleben mit heimlichen Treffen in Bologna oder Venedig, ohne dass sie den Absprung wagt. Zwar führt auch Lorenzo inzwischen eine bürgerliche Existenz, doch sieht sein Zukunftsplan vor, ein Antiquariat zu eröffnen, wo er sich jeden Tag in der Mittagspause mit Emma zwischen den Bücherstapeln zu lieben gedenkt. Anders als früher drängt er Emma jetzt, ihren Ehemann zu verlassen und reagiert auf ihr Zögern abwechselnd verletzt, hämisch oder mit der Drohung, sie nicht mehr sehen zu wollen. Mitten in den sich zuspitzenden Konflikt hinein kommt der Anruf von Lorenzos Tod, der Anlass für Emmas Reise in den Süden wird.
Obwohl die Geschichte reichlich Stoff für abgründige Leidenschaften bietet, herrscht durchweg ein spröder, kühl distanzierter Erzählton. Der Autor vertraut ganz der Erzählperspektive seiner Prota-gonistin, die ihren Gefühlshaushalt nüchtern bilanziert und sich keine emotionalen Auf- oder Abschwünge erlaubt. Ihr deshalb innere Teilnahmslosigkeit zu unterstellen, wäre allerdings voreilig. Wenn Emma im Zug Verse der italienischen Lyrikerin Alda Merini wie ein Mantra vor sich hersagt und zu ihrem Lied macht, wirkt dies authentischer als jeder wortgewaltige Innerlichkeitsmonolog. Wie auch in seinen anderen Texten setzt Jürg Amann auf die Kunst des Andeutens und zeigt einmal mehr, dass Sparsamkeit zu den großen erzählerischen Tugenden gehört.
vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld
Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XXIII
Jürg Amann:
«Die kalabrische Hochzeit».
Zürich: Arche,
2009
8 Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag, lieber Herr Bichsel
Um bei diesem Buch ausnahmsweise einmal von hinten zu beginnen: Andreas Mauz hat ihm einen Aufsatz beigegeben, der genau das leistet, was ein Nachwort soll. Er ist kenntnisreich und präzise, hilft das Gelesene besser zu verstehen und führt es weiter. 38 Texte von Peter Bichsel hat der Zürcher Literaturwissenschafter und Theologe ausgewählt und sorgfältig kommentiert. Entstanden sind sie zwischen 1970 und 2007, ein Drittel davon wurde bisher noch nie veröffentlicht oder war nur an entlegenen Orten erschienen. Es handelt sich um Geschichten und Essays, Reden und Predigten, auch das Protokoll einer Diskussion zwischen Bichsel und Dorothee Sölle wurde aufgenommen. Von einem Querschnitt kann man sprechen, werkhistorisch wie werktypologisch betrachtet. Von einem Lesebuch, das zugleich ein in allen Wandlungen erstaunlich konstant gebliebenes Leit- und Lebensthema des Autors kenntlich macht. Insofern stellt es auch eine Einführung in Bichsels Schaffen überhaupt dar.
Am 24. März wird er 75 Jahre alt. Vielleicht erkennt die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ja einmal doch noch, dass seinem Œuvre rechtens der Georg-Büchner-Preis gebührt. In der Konzentration auf kleine Formen ist dieser uneitle, allem Elitären und Prätentiösen abholde Autor ein Grosser geworden. Bereits mindestens zwei Generationen wurden mit seinen frühen Texten in der Schule literarisch sozialisiert («Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen», 1964; «Kindergeschichten», 1969). Sein schmaler Roman «Cherubin Hammer und Cherubin Hammer» (1999) ist eine Perle deutschsprachiger Prosa der Gegenwart. Und welcher Reichtum verbirgt sich hinter seinen Kolumnen (zuletzt: «Heute kommt Johnson nicht», 2008), die in vier Jahrzehnten zu einem stattlichen Hauptwerk angeschwollen sind! In kunstvoller Einfachheit kreuzen sich hier Alltagsbeobachtung und poetischer Einspruch gegen die Zeitläufte.
Gewiss, manchem mag Bichsel wie der Dino einer engagierten Literatur erscheinen. Einer also, über den die tonangebenden Matadore des Betriebs vielleicht lächeln mögen – und sich damit doch nur selbst blossstellen würden. Bichsel ist ein Fragender, der trotzdem für etwas einsteht. Das wird gerade aus diesem Band exemplarisch sichtbar. An der Würde des Begriffs «Sozialismus» hält er fest, als Anspruch eines Lebens in wechselseitiger Gerechtigkeit und Solidarität. Oder eben jener «Zugehörigkeit», in der für ihn ebensosehr ein Kern christlicher Lehre besteht wie in der Chance, anders werden zu dürfen. Bichsel klopft die Gegenwart darauf hin ab, was sie solcher Sinnerfahrung entgegenzusetzen habe. Die angebotenen Alternativen erscheinen ihm banal: «Wir halten uns alle immer noch alle für viel zu arm und möchten noch reicher werden, und noch reicher werden und noch reicher werden.»
Natürlich arbeitet einer wie er die politischen Implikationen der Botschaft Jesu heraus, ihr Widerstandspotential: «Christ sein in unserer Zeit, das hat mit nein sagen wohl mehr zu tun als mit ja sagen.» Manchmal hat es zwar fast den Anschein, als ob er die vertikale, die metaphysische Dimension des Glaubens unterschätzen würde. Tatsächlich aber wird das Wort von Jesus als einem Sozialphilosophen vielfach ergänzt. Bichsel weiss um die Notwendigkeit von Ritualen, er weiss, dass es dem Christentum zuletzt um die Überwindung des Todes geht, und er hebt hervor, dass gerade diese Verheissung das unselige Sicherheitsbedürfnis der Menschen durchbrechen könnte, worin ohnehin bloss ein Synonym für den Egoismus bestehe, die verweigerte Solidarität.
Womit wir in diesem Band konfrontiert werden, sind Variationen einer Leidenschaft. Bichsel, der Kanzelredner. Bichsel, der – Weihnacht an erster Stelle – immer wieder auf die christlichen Feste zurückkommt. Bichsel, der an den Kern der christlichen Verkündigung erinnert. Bichsel, der wie kein anderer bedeutender Autor deutscher Sprache an Jesus hängt. Ein Horror hingegen ist ihm die zum Ordnungsfaktor gewordene christliche Kirche. Und seiner Schweiz redet er in diesen Texten immer wieder ins Gewissen, von dem er also hofft, dass es noch ansprechbar sei. Ob angesichts einer glaubenslos gewordenen Gesellschaft, der das Christentum nicht einmal mehr zum Kitt der Wohlanständigkeit taugt, solche Appelle nicht zwangsläufig ins Leere laufen, stehe dahin.
Der Protestant Bichsel, seit 2004 veritabler Dr. theol. honoris causa, ist ein religiöser Mensch, der sich seiner Gläubigkeit nicht sicher sein kann. Christsein meint bei ihm weniger eine Gesinnung als eine Haltung im Paradox. Es ist eine Existenzform mehr des Spannungsvollen als des Bestätigenden, Therapeutischen oder Nützlichen. Das bedeutet zugleich: eine angemessene Weise, um darüber zu sprechen, ist der Bichsel-Ton, ein ständiges Hin-und-her-Wenden, das sich selbst von allen Vorbehalten nicht ausnimmt. Auch sein grosses Thema von der existentiellen Notwendigkeit des Erzählens gehört dazu, bei dem es sich um einen vielschichtigen, womöglich gar über sich hinausweisenden Akt handelt. Noch wo er predigt, erzählt dieser Sokrates aus der Beiz, gewissermassen.
Letztlich geht es Bichsel nicht um Slogans, sondern um andere, um postmaterielle Werte. Wir leben, findet er, in einer verkehrten Welt, mundus perversus, mit ihrem obersten Dogma vom immerwährenden Wachstum. So, wie es nicht sein sollte, ist es – und so, wie es sein sollte, wollen wir nicht werden: «Ich möchte nicht hier leben, um reich zu werden und Karriere zu machen und die ganze Welt wirtschaftlich zu beherrschen, sondern um Bücher zu lesen, Geschichten zu hören und Geschichten zu erzählen, mit meinen Freundinnen und Freunden zu lachen.» Ist dies nur hemmungslos naiv?
Immer jedenfalls befindet sich Gott in Bichsels Texten auch mitten in der Welt. Nichts hat mehr mit unserem Leben zu tun, meint der Autor, nichts kann interessanter sein. «Damit das, was hier ist, nicht alles ist.»
vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Münster
Peter Bichsel: «Über Gott und die Welt. Texte zur Religion». Hrsg. Andreas Mauz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009 (2010)