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Schweizer Autoren in Kurzkritik XXI

13 Bücher, vorgestellt in der einundzwanzigsten Folge der «Schweizer Autoren in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

1 Ich feilsche nicht um das Ganze

Mit dem Schweizer Buchpreis 2009 wird Ilma Rakusa für ihr Buch «Mehr Meer» ausgezeichnet. In der Begründung lobt die Jury die sprachliche Schönheit ihrer Erinnerungsprosa. «Geschult im Umgang mit den grossen Lyrikern, die sie übersetzt, interpretiert und vermittelt, geschult auch durch die eigene lyrische Arbeit», habe sie eine Prosa geschaffen, die selbst lyrische Ansprüche erfülle.

«Es riecht nach Rauch. Nach Gewürzen. Weihrauch. Aus Tassen dampft Tee.» Ilma Rakusas Erinnerung geht durch die Nase. Es sind die Gerüche und Düfte, die verlässlich gegen das Vergessen helfen. «Die Bilder, sage ich, in Ehren. Aber zuerst kommen die Gerüche.» In ihnen weht eine Erinnerung herüber, die eine frühverlorene Heimat birgt.

1946 im slowakisch-ungarischen Rimaszombat (Rimavská Sobota) geboren, wuchs Ilma Rakusa in Maribor, Buda-pest und Triest auf, bevor ihre Familie 1951 in die Schweiz, nach Zürich, aufbrach. Diese Umzüge waren vom Vater jeweils umsichtig organisiert: «Wir flohen nicht, wir packten die Koffer.» Und trotzdem blieben die Gegenden, die sie hinter sich liessen, im Gedächtnis des damals 5jährigen Mädchens haften. Auch wenn in Zürich kaum mehr Braunkoh-lepartikel in der Luft schwebten, evozierten diese als Geschmacksablagerung eine sich fortan kräftigende Sehnsucht.

Dazu mochte beitragen, dass die Unruhe auch in Zürich vorerst kein Ende fand. Es folgten, wegen der argwöhni-schen Nachbarn beispielsweise, weitere Umzüge, die für das heranwachsende Mädchen jedesmal wieder einen Neuan-fang bedeuteten. Es musste gewonnene Freundinnen aufgeben und sich in neuer Umgebung neu einleben. Darauf rea-gierte es auf eigene Weise: «Ich träumte mich nach innen, in schneckenartige Labyrinthe, bis an den Tränenpunkt. Dort war es weit und still.» Und es suchte sich seine eigenen Bezirke: die Musik, das Lesen, und das kirchliche Fest, allem voran Ostern.

Unter dem Titel «Mehr Meer» versammelt Ilma Rakusa «Erinnerungspassagen», in denen sich ihr Lebensweg in den Westen kreuzt mit der stillen Sehnsucht nach der «verlorenen» Heimat im Osten. Schon als junge Studentin machte sie sich auf den Weg zurück, über unheimliche Grenzen hinweg. 1969 verbrachte sie gar ein Studienjahr in Leningrad, der Stadt Dostojewskis, die sie in mehrerer Hinsicht prägte.

«Mehr Meer» erzählt in 69 kurzen Kapiteln von den Irritationen der Kindheit und Jugendzeit, denen, durch die Emigration bedingt, ein sicherer Ort fehlte. Ilma Rakusa erzeugt dafür kein artifizielles Kontinuum, sondern legt ihre punktuellen Reminiszenzen als eine Textur aus vereinzelten, sich locker aneinander anlagernden Puzzleteilen vor uns aus. Gefangen von der «Gravitation der Erinnerung», erweckt die Autorin in ihren Texten geliebte und sonderliche Men-schen, zauberhafte und schreckliche Orte, Gefühle und Emotionen zu neuem Leben. Immer wieder formen sich Se-quenzen zu einem Film, doch «wo er reisst, reisst er. Ich feilsche nicht um das Ganze.» Sinnliche Anschaulichkeit und klu-ge Präzision sind zwei hervorragende Charakteristiken dieser Prosa, sowie die von der Buchpreisjury gerühmte «Schön-heitsempfindlichkeit». Auf diese Weise bildet «Mehr Meer» eine Reise ab: die Reise nach Hause – wo immer dieses Zu-hause liegen mag. Mit feiner Melancholie und sinnlicher Detailgenauigkeit bedeutet Ilma Rakusas Buch vor allem aber, dass ihre eine Heimat in der Sprache liegt.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

Ilma Rakusa:

«Mehr Meer. Erinnerungspassagen». Graz: Droschl, 2009

2 Kleinkram

Wieviel muss man wissen, um ein Urteil fällen zu dürfen? Reichen 58 Oktavseiten, unterteilt in fünf Kürzestgeschichten, um Alex Capus einen Karriereknick unterstellen zu können? Vermutlich nicht. Vermutlich sind die Geschichten auch nicht neu, sondern aus dem bestehenden Fundus hervorgesucht für das jugendlich-flippig gestylte «Books To Go»-Programm bei dtv. Es kann also nur gesagt werden, Capus’ Auswahl war… – sagen wir mal «oberflächlich». Schön schräg sind zumindest «Wer zum Teufel ist Ramón?» und «Der weisse Tennisball», wohingegen die drei anderen eher geeignet sind als Zeitungsfeature der Wochenendbeilage («Roxy») oder als noch zu überarbeitende Episoden einer Auto-biographie (das titelgebende «Etwas sehr, sehr Schönes» und «Sommeridyll 1»). Natürlich gibt es auch hier Positives zu bemerken, denn selbst in diesen unterdurchschnittlichen Geschichten zeigen sich Capus’ Qualitäten: er erzählt in ge-wohnt beschwingtem Stil mit seiner gewohnt empathischen Zuneigung zu den Charakteren. Dennoch, wer to go wünscht, solle sich an das Original halten: coffee to go. Bestellen Sie also lieber bei Starbucks einen «Quad Caffè Latte Hazelnut». Das klingt erwachsen und hält genügend lange wach, um einen ganzen Roman zu lesen.

vorgestellt von Michael Harde, Schalkenbach

Alex Capus:

«Etwas sehr, sehr Schönes». München: dtv, 2009

3 Schwarz auf weiss? Schwarz auf weiss!

Wer Klara Obermüller eine der wichtigsten literaturkritischen Stimmen der Schweiz nennt, hat natürlich recht – und läuft gleichwohl Gefahr, nur die halbe Wahrheit zu sagen. Die Spannweite ihrer journalistischen Arbeiten nämlich, von denen viele über Tag und Anlass hinaus bedeutsam geblieben sind, hebt sich wohltuend vom zunehmenden Spezialis-tentum eines Betriebs ab, dessen Horizont kaum noch über neuerschienene Romane hinaus reicht. Schon die gleichzei-tige Kompetenz für Gedichte und Theaterstücke ist ja selten geworden. Wem aber würde man gar zutrauen, dass er (oder sie) sich, neben einem Essay beispielsweise über zentrale Motive bei Hermann Burger, ebenso kenntnisreich über die «politische Theologie» Dorothee Sölles äussert, dass er (oder sie) Reiseberichte aus der Antarktis verfasst und zugleich höchst Sachkundiges über Kontroversen zur Sterbehilfe vorzulegen versteht?

Klara Obermüller kann dies, wie «Schwarz auf weiss» nachzulesen in einem Band mit Texten aus knapp vier Jahr-zehnten – von ihr selbst nach strengen Massstäben ausgewählt, jeweils in den Entstehungszusammenhang eingeordnet und in fünf grosse Sinnabschnitte untergliedert. Womit auch immer sie sich auseinandersetzt, in welchem Duktus oder Genre auch zwischen kürzeren Kommentaren und ausgefeilten Essays, zwischen Porträts, Reportagen und Be-richten: nie fehlt es an der persönlichen Grundierung. Was Klara Obermüller schreibt, geht immer auch sie selbst an, hat notorisch mit ihrer konkreten Person zu tun, in der sich zahlreich Thematiken spiegeln.

Keineswegs das Eindeutige ist es, was Klara Obermüller interessiert. Recht eigentlich verfügt sie allenthalben über einen Blick für Grenzbereiche oder, wie es einmal heisst, «extreme Bedingungen». Das beginnt mit existenziellen Fragen, nach dem Stadium des Kindes oder den «Mühen des Älterwerdens». Weit mehr als nur Schlaglichter werden auf die Rea-lität psychiatrischer Kliniken wie auf Kämpfe ums Überleben in Hungergebieten geworfen. Bewusst sucht diese Autorin die Begegnung mit fremden Kulturen, die vor der Haustür beginnen und sie bis in entlegene Länder führen. Früh zeigt sie gerade hier ein Gespür für Konfliktbereiche, die heute allgemein geworden sind. Politische Umbrüche in untergegan-genen Staaten wie der Sowjetunion oder der DDR fordern sie nicht minder heraus als die Dickfelligkeiten der offiziellen Schweiz. Noch in allem Engagement aber gibt Klara Obermüller sich als jemand zu erkennen, der zunächst einmal genau wahrnehmen und verstehen will. Mit ihr haben wir niemanden vor uns, der immer schon über alles Bescheid weiss. «Nicht … recht zu haben, sondern Fragen aufzuwerfen und Stellung zu beziehen», ist für sie das Wichtige. Dahinter steht eine Haltung, die den Leser in seiner Mündigkeit nicht nur ernst nimmt, sondern diese ausdrücklich zur Bedingung macht.

In allem kennzeichnend für die Autorin ist schliesslich ihre Fähigkeit, Spannungen darzustellen und selbst auszuhal-ten. Diejenige zwischen Frausein und Emanzipation etwa, bereits kurz nachdem es die Chance zu dieser überhaupt gab. Solchen Sinn für Ambivalenzen zeigt auf das schönste noch ihr Artikel nach der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst, wo sie klarer gesehen hat als viele, deren Jubel seither in mehr als nur Ernüchterung umgeschlagen ist.

Gern liest man sich in diesen welthaltigen

250 Seiten fest. Am Ende möchte man keinen der 36 Beiträge missen. Und man beginnt davon zu träumen, wie schön es wäre, wenn man denn Texte eines vergleichbar souveränen Journalismus zwischen Informiertheit, Leidenschaft, Nachdenklichkeit und Kunst häufiger zu lesen bekäme.

vorgestellt von Hans-Rüdiger Schwab, Münster

Klara Obermüller: «Schwarz auf

weiss». Frauenfeld: Huber, 2009

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4 / 5 Weiter geht’s

Und wie geht’s weiter? Vielleicht ein gutes Jahrhundert ist es her, da machten sich Zeitungen und Zeitschriften ein Be-dürfnis zunutze und veröffentlichten Romane in Fortsetzungen. Berühmte Autoren wie Charles Dickens und Karl May, Alexandre Dumas père und Arthur Conan Doyle schrieben sich die Finger wund und produzierten Woche für Woche neuen Stoff für ihr lesesüchtiges Publikum. Es soll sogar vor langer, langer Zeit einen König gegeben haben, der liess sich durch die Erzählkünste einer jungen Frau derartig fesseln, dass er davon absah, sie umbringen zu lassen wie schon viele andere vor ihr. Schliesslich wollte er immer wieder wissen, wie die gerade begonnene Geschichte weitergehe. Die Dame hiess Scheherazade, ihr Leben verdankte sich den phantastischen Erzählungen aus tausendundeiner Nacht.

Ihre moderne Wiedergängerin, eine Erfindung des Schriftstellers Charles Lewinsky, bleibt namenlos. Sie bewohnt ein Zimmer in einem ehemaligen Hotel, das früher einmal «Palace» hiess. Ihr letzter Kunde – der, dem sie ihre Ge-schichten erzählt – ruft sie Prinzessin, weil man ihn in seinem Milieu den König nennt. Er ist ein ungeduldiger Zuhörer. Immer wieder unterbricht er den Erzählfluss, fragt nach oder gibt Kommentare. Manchmal treibt er die Prinzessin an, weil seine Geschäfte ihm keine Zeit lassen. Auch die Geschichten selbst haben wenig mit den märchenhaften Erzählun-gen aus dem Orient gemein. Da gibt es einen Lebensretter, der seiner Tat nicht froh wird. Oder einen Mann mit zwei Köpfen. Und wenn tatsächlich jemand beim Urlaub in Marokko auf einen Flaschengeist trifft, sieht es zunächst gar nicht so aus, als ob ihm diese Begegnung Glück bringen würde. Was Lewinsky in elf Nächten auf denkbar schmucklose Weise, aber umso eindringlicher erzählen lässt, klingt oft parabelhaft, doch auf eine Moral wartet man vergebens. Manchmal bleibt sogar die Pointe aus. Dennoch liest man fasziniert weiter bis zum Ende, wenn der König eingeschlafen ist und die Prinzessin ihren Palast endlich verlassen kann.

Weniger rätselhaft, aber ebenso spannend geht es zu, wenn Charles Lewinsky in die Rolle eines fleissigen Produzen-ten von Kolportageliteratur schlüpft und einen zünftigen Fortsetzungsroman verfasst. «Doppelpass» heisst das Werk, dessen

50 Kapitel, jedes frisch geliefert, die «Weltwoche» über ein Jahr hinweg abdruckte. Nun liegt der Roman in Buchform vor, und man staunt, wie gut er auch «am Stück» gelesen funktioniert. Ein junger Afrikaner gelangt illegal in die Schweiz, wo ein entfernter Verwandter aus seinem Heimatdorf eine vielversprechende Karriere als Fussballer verfolgt. Der wiederum spielt für einen Verein, dessen Präsident als Politiker erfolgreich an den, wie es sein Berater ausdrückt, «xenophoben Reflex» der Schweizer appelliert. Weitere Rollen werden von der publicitysüchtigen Verlobten des schwarzen Fussballstars, vom rebellischen Sohn des Präsidenten, von einem windigen Reporter und vielen anderen, mit kräftigem Strich gezeichneten Typen eingenommen. Es entwickelt sich eine aberwitzige Handlung, die allerdings ihren Bezug zur politischen Realität nie verliert. In dieser bösen Satire kriegen fast alle ihr Fett ab. Nur wenige Figuren blei-ben unbehelligt vom Spott des Autors, unter ihnen natürlich der bemitleidenswerte Immigrant, der sich am Ende des Romans, reich an Blessuren und Erfahrungen, zurück auf dem Flug nach Guinea befindet.

«Doppelpass» verschlingt man voll Vergnügen an seinen politisch-gesellschaftlichen Bosheiten, der andere Roman hingegen macht eher nachdenklich. Darum habe ich den Fortsetzungsroman nach der Lektüre weiterverschenkt, wäh-rend die Geschichten aus «Zehnundeiner Nacht» gut greifbar im Bücherregal plaziert sind. Denn ich möchte sie unbe-dingt ein zweites Mal lesen.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

Charles Lewinsky: «Zehnundeine Nacht». Zürich: Nagel & Kimche, 2008

Charles Lewinsky: «Doppelpass». Zürich: Nagel & Kimche, 2009

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6 Thesen zum Alter, verschenkt

«Glücksfall Alter» versteht sich als Streitschrift, die in 15 Thesen zur gegenwärtigen Situation des Alters mündet. Die beiden Verfasser gehen in ihren Überlegungen von zwei Feststellungen aus. Erstens: in gut einem Jahrhundert habe sich die Lebenserwartung in unserer Gesellschaft um zwei Jahrzehnte verlängert. Zweitens: die demographische Entwicklung gehe rascher vor sich als die Sinnfindung für die verlängerte Lebenszeit. Was also tun mit dem neugewonnenen Lebens-abschnitt, um nicht dem horror vacui zu verfallen?

Die Autoren packen das Thema Alter in vielen Teilaspekten an und stellen dabei eine Reihe von wichtigen Forde-rungen und Folgerungen auf. Die Pensionierungsgrenze solle keine Altersguillotine mehr sein, sondern flexibel gehand-habt werden. Notwendig sei, für ältere Leute neue Tätigkeitsfelder zu finden. Dabei gehe es nicht um blosse Beschäfti-gung, sondern um die Frage nach sinnvoller Tätigkeit. Man spräche heute gerne von der Innovationskraft der Jungen, es sollte aber ebenso die Innovationskraft der Alten stärker gefördert werden. Die längere Lebenserwartung einerseits und weniger Kinder anderseits würden zu einem intensiveren Zusammenhalt innerhalb von Familien führen; denn Grossel-tern würden bei doppelverdienenden Paaren vermehrt gebraucht. Heute bildeten sich dadurch neue Mehrgenerationen-netzwerke. Selbst in alten Paarbeziehungen würden die Rollen neu verteilt. Sei früher eher der Mann tonangebend ge-wesen, kehre sich heute die Beziehung im Alter oft um, indem der Mann im familiären Bereich die Wünsche seiner Frau erfülle. Eine längere Lebensdauer ziehe vermehrt Krankheiten nach sich, die in die Sinngebung des Altwerdens einzubeziehen seien. Das führe zu einem neuen Umgang mit Tod und Sterben, indem der Mensch darüber weitgehend selber entscheiden könne. Wer das Alter als Herausforderung annehme und es zu gestalten wisse, würde besser und in Würde altern.

Das Autorenduo besteht aus einem Soziologieprofessor und einer Journalistin. Beide verstehen es, ihre Thesen einer-seits mit statistischem Faktenmaterial, anderseits mit mündlichen Aussagen zu untermauern. Die Quellen bestehen also nicht nur aus Sekundärliteratur, sondern auch aus Verlautbarungen in Talkshows, aus Filmeindrücken, Werbebotschaf-ten von Versicherungen, Zeitungsumfragen bis hin zu mitgehörten Gesprächen beim Friseur. Das ergibt zwar einen kurzweilig zu lesenden Text mit oft pointierten Formulierungen. Dabei werden die überspitzten Aussagen jedoch oft wichtiger als eine vertiefende Gedankenführung. Wenn es an einer Stelle heisst, dass sich im letzten Jahrhundert die Lebenserwartung um zwei Jahrzehnte verlängert habe, und es an anderer Stelle drei Jahrzehnte sind, so sind Vorbehalte auch an den statistischen Angaben berechtigt. Fazit: ein wichtiges Thema wurde journalistisch allzu aufgepeppt, die angeblichen Fakten sind mit Vorsicht zu behandeln.

vorgestellt von Rainer Diederichs, Zürich

Peter Gross & Karin Fagetti: «Glücksfall Alter». Freiburg i.Br.: Herder, 2008

7 Gestochen scharf?

«Siebenundfünfzig gestochen scharfe Erzählungen» verspricht im Untertitel der schmale Band von Irène Bourquin. Die Ankündigung weckt Interesse – denn der Buchmarkt quillt über von geschwätzigen Produkten, in denen ein Motiv, das für eine Kurzgeschichte getaugt hätte, zum Roman ausgewalzt ist.

Tatsächlich bringt das Buch viele und kurze Texte; ob man die knappen Skizzen alle als «Erzählungen» bezeichnen kann, sei dahingestellt. Die beiden grossen Teile lassen zwar einen Zusammenhang erahnen. In «Der Milan» drehen sich die meisten Prosastücke um eine lange Zeit gelingende, am Ende vielleicht scheiternde Liebesbeziehung. In «La Nonna» sind die Skizzen um einen Italienaufenthalt gruppiert: eine Grossmutter blickt einer Schriftstellerin von einem Gemälde über die Schulter, und ein alter Schrank, der schon Generationen beobachtet hat, wendet sich an die einsam schreibende Frau. Ist dies die Liebende des ersten Teils, die im Überkommenen Rückhalt sucht? Der Gedanke liegt nahe, doch ist die Konsequenz nicht zwingend. Beide Teile können für sich bestehen, und jeder einzelne Text kann es auch.

Die Stärken von Bourquins Literatur sind leicht zu benennen. Zum einen ist da ein ausserordentlich bewusster Um-gang mit der Sprache. Die Beschreibungen sind im Detail präzise, die Sätze sind rhythmisch genau ausgehört, und in vie-len Passagen ist das Klangliche bestimmend. Diese Prosa transportiert nicht nur Inhalte, nicht nur Handlungen, sondern ist im Spiel mit dem Wechsel besonders der Vokale auch akustisch bestimmt. Es geht Bourquin um Schönheit, und des-halb vermeidet sie auch psychologische Reflexionen, die Jämmerliches zutage fördern könnten. Das Widerspruchsvolle (und ganz selten Peinliche) von Verhaltensweisen ist nicht zergliedert, sondern zeigt sich im Äusserlichen, im Sichtbaren.

Das Buch könnte also ein Fest des Hörens und des Sehens sein, eine Feier positiver Sinnlichkeit, wären da nicht auch die Schwächen. Eine davon hängt mit den Stärken unmittelbar zusammen. Bourquin gibt viele optische Wahrnehmungen wieder, bisweilen aber zu viele. Jede Einzelheit für sich könnte eine plastische Vorstellung erwecken – doch all die Farben und Formen zusammen führen dazu, dass der Gesamteindruck zuweilen diffus bleibt. Ein Bild steht dem anderen im We-ge.

Noch mehr aber stört, wie überdeutlich das Literarische, das Anspruchsvolle bisweilen ausgestellt ist – Indiz dafür ist leider schon das Selbstlob im Untertitel. Zitate in vielen Sprachen signalisieren Weltläufigkeit; ein grell kreischendes Kind im Supermarkt ist nicht einfach ein anschaulich geschilderter Schreihals, sondern entpuppt sich im Schlusssatz dieser Skizze als Vorlage für Grass’ Oskar Matzerath; ein ambivalenter Gedanke steht nicht einfach da, sondern wird als solcher unterstrichen: «Stutzte, verblüfft über die Ambivalenz ihres Gedankens.» Zu allem Überfluss muss am Ende «La Nonna» von ihrem Bild herab mit «stillem Einverständnis» beglaubigen, dass Bourquin ihr Buch gelungen ist: «Ihr Lä-cheln galt nicht dem Schreiben – es galt der Literatur.»

Literatur, die auf sich hält, bedarf solcher Selbstbestätigung nicht, sondern überzeugt durch das Gestaltete. Dies ge-lingt Bourquin in vielen guten Passagen. Doch manchmal wünscht man sich, sie hätte sich auf das Wahrgenommene beschränkt und es nicht durch eine weitere Ebene literarischer Spiegelung verkleinert.

vorgestellt von Kai Köhler, Berlin

Irène Bourquin: «Im Nachtwind. Siebenundfünfzig gestochen scharfe Erzählungen». Frauenstein: Waldgut, 2008

BÜCHER Schweizer Autoren in Kurzkritik XXI

8 Der Berg, sieben Sennen, siebzig Stück Vieh

Die Geschichte beginnt mit einem denkbar alltäglichen Vorgang, einer Gemeindeversammlung in einem namenlosen Walliser Bergdorf. Gestritten wird um die Bewirtschaftung einer über zweitausend Meter hoch gelegenen Alp. Die Alten im Dorf sind dagegen, weil es dort vor zwanzig Jahren ein Unglück und mehrere Tote gegeben hat. Die Jungen rechnen unbeeindruckt den Gewinn vor, der sich dort oben erwirtschaften liesse. Bei der Abstimmung siegt erwartungsgemäss der Kommerz über abergläubischen Kleinmut, und im Frühjahr ziehen sieben Sennen und siebzig Stück Vieh hinauf auf die Alp. Schon der Aufstieg gleicht dem Übergang in eine andere Welt. Der Weg führt durch eine dunkle Schlucht, deren Schwärze sich auf die Männer legt «wie Walderde» und ihnen das Gefühl gibt, «lebendig begraben» zu werden. Eine Vorausdeutung, die sich am Schluss des Buches im Ausmass einer apokalyptischen Katastrophe bewahrheiten wird. Gleich den Kieseln und Steinchen, die Ramuz im Verlauf des Romans immer wieder unheilvoll den Hang hinabrollen lässt, vollzieht sich das Unheil zunächst in scheinbar zufälligen Episoden. Ein Maultier stürzt ab, ein Gewehr explodiert und zerfetzt einem der Männer die Hand, und zu allem Unglück bricht unter der Herde die Maul- und Klauenseuche aus. Allmählich ergreift auch die Fortschrittsgläubigen die dunkle Ahnung, sich womöglich «mit einem Stärkeren» ein-gelassen zu haben und in Bereiche eingedrungen zu sein, «wo er nicht will, dass man hinkommt».

Mit dem kühlen Blick des Chronisten zeigt Ramuz, wie sich die Angst unter den Männern ausbreitet und wie diese zuletzt mit sprachlosem Entsetzen wie gehetzte Kreaturen auf den Holzpritschen ihrer Hütte kauern. Zu retten ist da längst nichts mehr. Denn mit der Angst, von den Aussätzigen auf der Alp angesteckt zu werden, zerbröselt auch unten im Dorf der Putz der Zivilisation. Am Ende hat die aufgebrachte Menge gerade noch Zeit, die vermeintlichen Urheber des Unheils zu massakrieren, bevor vom Berg herab eine riesige Steinlawine zu Tal fährt und Menschen und Tiere unter sich begräbt. Ob Ramuz blindes Schicksal, menschliche Hybris oder eine numinose Gewalt der Natur für das Gesche-hen verantwortlich macht, bleibt letztlich offen. Unmissverständlich jedoch ist seine wort- und bildgewaltige Kritik menschlicher Allmachtsphantasien und der Zurichtung der Natur unter den Zweck ihrer Verwertbarkeit.

Man hat den 1898 in Lausanne geborenen Ramuz oft als Regionalisten und Heimatdichter bezeichnet; dabei ist sein Werk nie heimattümlich, sondern eng mit der Tradition der europäischen Moderne verbunden. Schon mit Anfang zwanzig floh er die provinzielle Enge seiner Schweizer Heimat und liess sich im weltoffenen Paris nieder. Hier lernte er unter anderem Igor Strawinsky kennen, mit dem er das Musiktheaterwerk «Die Geschichte vom Soldaten» schrieb. «Die grosse Angst in den Bergen», erstmals 1926 im Pariser Verlag Grasset erschienen, ist eines der ambitioniertesten Bücher des Autors. Im Gegensatz zum archaischen Geschehen ist Ramuz’ Erzähltechnik ganz und gar modern und erinnert in oftmals verblüffender Weise an die Schnitt- und Montagetechniken des Films. Und es spricht gewiss für die literari-schen Qualitäten des Autors, dass seine moderne Alpensaga den Leser auch heute noch mit einer Wucht zu treffen ver-mag, die so mancher nur noch der Bildgewalt des Kinos zugetraut hätte.

vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld

Charles-Ferdinand Ramuz: «Die große Angst in den Bergen». Zürich: Nagel & Kimche, 2009

BÜCHER Schweizer Autoren in Kurzkritik XXI

9 Masslose Einsichten – fassbar

Man liest sich fest an diesen Texten, steigt auf und ab in ihren Zerklüftungen, denkt sich von Klippe zu Klippe; denn darum handelt es sich bei diesen Essays, um literarisches Urgestein. Unmöglich, diesen gut neunhundert Seiten des Basler Ordinarius Walter Muschg auch nur annähernd gerecht zu werden, selbst wenn wir eine ganze Ausgabe der «Schweizer Monatshefte» dafür zur Verfügung hätten. Der junge Max Frisch hörte bei ihm, und Julian Schütt zitiert ihn in seinem vorzüglichen Nachwort mit der Bemerkung: «Wir hangen an seinen Vorträgen». Das lässt sich selbst jetzt noch nachempfinden. Diese Essays funkeln, zeugen von stupender Literaturkenntnis, von scharfem, wenn auch oft einseiti-gem Blick, in jedem Falle von stilistischer Brillanz ohnegleichen. Die grossen Versuche über «Freud als Schriftsteller», Gottfried Keller, Kafka und Hans Henny Jahnn haben etwas Unvergängliches; gleiches gilt für seine Expressionismus-studie «Von Trakl zu Brecht». Muschg war der geradezu antineutrale Schweizer Moralist unter den Literaturwissen-schaftern, der überzeugt war von der (Selbst-)Zerstörung der deutschen Literatur nach 1933 und ihrer Geschichtsver-gessenheit nach 1945 («Der Orkan der Zerstörung ist immer noch das grösste Ereignis in der deutschen Literatur»). Den Verrat der Literaten (Gottfried Benns, Josef Weinhebers) verzieh er ihnen nie. Muschg ergriff Partei für die Emigranten und von den Nazis Verfemten (von Else Lasker-Schüler bis Ernst Barlach). Er betonte das Zerrissene in der deutschen Literatur, wogegen Muschgs Antipode, Emil Staiger, auf die grosse Tradition setzte. Muschg, der moralisierende Tra-göde unter den Ordinarien vor der Studentenrebellion (er starb 1965), hat Unentbehrliches und bei aller Skepsis Weg-weisendes geleistet in der Literaturwissenschaft – dokumentiert in diesem Band durch seine Arbeiten zum Verhältnis seiner Disziplin zur Psychoanalyse, zum Leitmotiv Hamlet in der deutschen Kultur und durch seine Hinweise auf (zu seiner Zeit) Vernachlässigte wie Jeremias Gotthelf oder Alfred Döblin. Muschg war das Melodramatische nicht fremd («Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns») und das Pathetisch-Paradoxe am rechten rhetorischen Platz eine Selbstver-ständlichkeit («Im Kunsthandel herrscht Hochkonjunktur wie in der Rüstungsindustrie, vielleicht aus demselben Grunde»). Er vermochte zu zeigen, wo Goethe irrte (bei seiner Einschätzung Shakespeares als eines Bühnenautors wider Willen) und wo Brechts bedeutendste Leistung war (in seiner späten Lyrik). Das Kantig-Schroffe dieser Versuche fordert noch heute heraus. Man muss sie einfach kennen.

vorgestellt von Rüdiger Görner, London

Walter Muschg: «Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays». Zürich: Diogenes, 2009

10 71 Jahre – Urs Widmer

Bekanntlich ist es nicht leicht, das Richtige zu schenken. Schon gar nicht, wenn es um runde Geburtstage prominenter Zeitgenossen geht. Und wenn es dazu noch Intellektuelle sind, dann wird es vollends schwierig. Das Urbild dieser Problematik kennt man aus «Winnie the Pooh». Dort nämlich muss der beständig philosophierende «alte graue Esel I-Ah» erwartungsgemäss feststellen, dass sein Geburtstag vergessen wurde. «Ferkel» jedoch ist imstande, die verfahrene Situation zu retten. Spontan organisiert es einen «Geburtstagsballon», der freilich sturzbedingt nur zerfetzt überreicht werden kann. Eingedenk eines solchen Schreckszenarios tut man gut daran, sich frühzeitig auf Ehrentage einzustellen. Daniel Keel, einer der Herausgeber des vorliegenden Bandes, hat das getan. Dabei konnte er sich sogar von der eigenen Verlagsproduktion anregen lassen. Denn «Der kleine Nick» beispielsweise, der selber gerade das 50. Lebensjahr vollen-det hat, überreicht in solchen Fällen gern einen «prima Blumenstrauss». Und genau das – natürlich in übertragenem Sinne – macht Keel (gemeinsam mit Winfried Stephan) auch, wenn er seinem Jubilar, dem Hausautor und langjährigen Weggefährten Urs Widmer, zum 70. Geburtstag ein liebevoll zusammengestelltes Lesebuch verehrt. Das Resultat ist eine aus vierzehn Beiträgen bestehende Festschrift.

Neben tatsächlich anlassbezogenen Texten (wie der sehr persönlichen Geburtstagsrede von Peter Rüedi) finden sich darin verschiedene, meist für Preisverleihungen entstandene Laudationes aus früheren Jahren, etwa von Ruth Huber, Jörg Drews oder Gerhard Neumann. Hinweise zu Rang und Rolle des Autors im Gefüge der gegenwärtigen deutsch-sprachigen Literatur sowie zu dessen thematischen Präferenzen bieten zudem mehrere aufschlussreiche Essays: Samuel Moser befasst sich mit der «Vaterfigur» im Werk Widmers, Heinz Schafroth mit «der Vielfalt der Erzählorte und der Autorenstimmen» und Klaus Hoffer mit zwei der «Lebensgeschichten». Die angehängte Bibliographie mitsamt der Liste bisher erhaltener Preise dokumentiert die Produktivität des Autors wie auch seine Popularität auf schlichte, aber ein-drückliche Weise. Wertvoll ergänzt wird das so entstandene Bild schliesslich durch den Abdruck eines Gesprächs, das Hans-Jürgen Heinrichs mit Widmer geführt hat. Darin redet dieser unumwunden über seine Aversion dagegen, als der «lustige Purzel von den Alpen» wahrgenommen zu werden, oder über den unüberwindbaren und gerade deshalb so reiz-vollen Konnex von Schmerz und (grosser) Literatur. Der sich selbst zur Geschichte werdende Autor gibt damit hochin-teressante Einblicke in seinen ganz persönlichen künstlerischen Reifeprozess. Ein wahrhaft angemessenes Geschenk für Urs Widmer – eine überaus lohnende Lektüre für seine Leser.

vorgestellt von Anett Lütteken, Bern

BÜCHER Schweizer Autoren in Kurzkritik XXI

Daniel Keel & Winfried Stephan: «Das Schreiben ist das Ziel, nicht das Buch. Urs Widmer zum 70. Geburtstag». Zürich: Diogenes, 2008

11 80 Jahre – Paul Nizon

Er zählt zu den Grossen der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Er steht, in seiner Unbedingtheit, neben Robert Walser und, in seiner Radikalität, noch über Frisch und Dürrenmatt. Und doch steht er allein, als letzter Vertreter einer literarischen Moderne, die jene Schranken, die Leben und Kunst voneinander scheiden, nicht akzeptieren konnte. Als Verächter einer Gesellschaft, die ihm – vor allem ästhetisch – missfiel.

Am 19. Dezember 2009 feiert Paul Nizon seinen 80. Geburtstag, vermutlich in Paris, wo er seit vielen Jahrzehnten lebt. Ein wirklicher Durchbruch ist dem gebürtigen Berner, der früh schon der Schweiz entfloh, und sie doch nie wirk-lich hinter sich lassen konnte, bis heute nicht gelungen. Nicht in Deutschland, wo seine Bücher – bei Suhrkamp – er-scheinen, und schon gar nicht in der Schweiz. Seinen «Diskurs in der Enge», einen Versuch, Schweizer Mentalitäten abzustreifen, haben ihm seine Eidgenossen arg verübelt. Nizon entzog sich auch den Verpflichtungen des engagierten, politisch eingreifen wollenden Schriftstellers. Er blieb, seit «Canto» (1963), ein Geheimtip, gerühmt von der Kritik, geliebt von den Kollegen, ignoriert von einem grösseren Publikum. So wurden von seinem Buch «Hund» in der deut-schen Originalausgabe 4’000 Exemplare verkauft, von der französischen Übersetzung zehnmal so viel, nämlich 40’000. Poetische Radikalität wird offensichtlich nicht überall gleichermassen goutiert.

Lange Zeit, schrieb Nizon einst in seinem «Versuch über das Sehen», habe er nichts sehen können, weil sich ihm alles in Stimmungen verwandelte, in Gefühle. Diese Stimmungen machten ihn krank. Untauglich, sich auf die Aussen-welt einzulassen. Unfähig, Erfahrungen zu sammeln und, erst recht, zu gestalten. Diese Selbstauskunft erlaubt es uns, den Beginn seiner poetischen Existenz genau zu bestimmen. Nizon ist in dem Augenblick zum Dichter geworden, als sich seine Umwelt, die Dinge, in «Stehstellen» des Ichs verwandelten. Von diesem Moment an konnte er sich schreibend an die Rückverwandlung der Stimmungen in Bilder seiner Umgebung machen. Was als persönliche Marotte erscheinen mag, lässt sich aus der Distanz als historische Diagnose lesen. Das Grundgefühl seiner Generation wurde in seiner Ju-gend auf den Begriff des Absurden gebracht. Das heisst: die Verzweiflung streifte stets das Lächerliche.

Deshalb hat sich Nizon auch oft der Groteske bedient, und, in ihrer Folge, Lachen provoziert, nicht nur bei der Be-erdigung seines Vaters. Eruptiv wehrte er die ganze Lächerlichkeit unserer Existenz immer wieder ab. Das schreibende Ich, das Nizon von seinen ersten Anfängen an ausstellte, neigte stets zu Exzessen. Wie sonst wohl nur noch Henry Miller, war Nizon von einer erotischen Energie getrieben, die zwar nie seine Verzweiflung überwinden konnte, ihn aber wenigstens in Bewegung hielt. Dabei hat er viel von Robert Walser, seinem Landsmann, gelernt. (Dem Wahlverwand-ten Walser ist übrigens einer seiner schönsten Essays gewidmet.) Das Gehen ist auch Nizon zur (ästhetischen) Form geworden, nur hat er den euphemistischen Durchlauferhitzer nicht auf Dauerbetrieb einstellen können, um, wie Walser, die gewöhnliche Welt in zierlichen Wölkchen verdampfen zu lassen. Was Walser ins Ästhetische transformierte – sub-limierte –, die Erotik, hat Nizon exzessiv ausleben wollen. Nach einer Beobachtung Georg-Arthur Goldschmidts schwindet jedoch bei Nizon mit dem erotischen Lebensgefühl auch die Neigung zur Groteske. Der Stand dieser Ent-wicklung lässt sich an seinem bislang letzten kleinen Roman «Das Fell der Forelle» so hinreissend wie faszinierend able-sen. Fast alle Bewegung ist stillgestellt. Die Dramatik tritt auf der Stelle, bis der Held, anfangs kaum sichtbar, abzuhe-ben beginnt. In einer scheinbar spröden Sprache, mit herben Charme, versucht er sich die Realität vom Leib zu halten, die ihn buchstäblich bedrückt.

Alle Helden Nizons demonstrieren ihre Herkunft aus den fünfziger Jahren. Sie zeigen aber auch, dass sich die Welt, die sie bedrängt, seitdem nicht grundsätzlich verändert hat. Ihre Haltung ist existentiell geblieben, nie politisch gewor-den. Sie liesse sich natürlich politisch interpretieren.

Stoff genug bietet der dicke Brocken allemal, der jetzt, rechtzeitig vor Paul Nizons Geburtstag, im Frankfurter Suhr-kamp Verlag, herausgekommen ist. Er enthält fast das gesamte Werk. Romane, Erzählungen, Journale. Alles in diesem grossformatigen, eng bedruckten einen Band. Nahezu tausendfünfhundert Seiten Nizon. Eine Geschichte aus fernen Zeiten, die uns sehr nahe kommt.

vorgestellt von Martin Lüdke, Frankfurt a.M.

Paul Nizon: «Romane. Erzählungen. Journale». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009

BÜCHER Schweizer Autoren in Kurzkritik XXI

12 100 Jahre – Rolf Gérard

Zwischen zwei Polen schwingt dieses wunderschöne Buch: der Darstellung eines ungewöhnlichen Lebens und dessen künstlerischem Ausdruck in Farben und Formen. Die Beschreibung des Lebens und Werkes von Rolf Gérard schreitet chronologisch fort; mehr noch als Kapitelüberschriften gliedert eine Abfolge beeindruckender Selbstbildnisse des Älter-werdendens die Flut von Veduten, Stillleben, Portraits und Landschaftsdarstellungen. Die Beschreibung der Bilder und des Lebens Rolf Gérards, der insbesondere durch Bühnenbilder und Opernausstattungen berühmt wurde und dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag feierte, erfolgt gründlich und liebevoll durch Mitglieder der Fondazione Rolf Gé-rard.

Wert wird auf die deutliche Abgrenzung gegenüber den Arbeiten anderer zeitgenössischer Künstler gelegt, wobei gleichzeitig stets herausgehoben wird, dass ein stilistischer Einfluss dennoch bestehe – eine etwas lästige und überflüssige Mühe, keinen Verdacht der Uneigenständigkeit aufkommen zu lassen. Statt dessen wäre eine akzentuiertere Hervorhe-bung des eigensten Darstellungsgestus Gérards erfreulich gewesen: eine sehr sexuelle Wahrnehmung menschlicher Kör-per, von Biegsamkeit und Schwung, der schon im «Stafettenläufer» von 1922 deutlich wird und sich dann immer wieder neu manifestiert, sehr deutlich in «La pétanque, Antibes» von 1937, in den Harlemzyklen, bei den «Zwei Matadoren» von 1961 und auch noch in den «Fritzi»-Bildern von 1977 und 1980. Fast ein Buch im Buch ist die eingefügte (Selbst-)Biographie Rolf Gérards mit Text, Photographie und einer abermaligen Dokumentation verschiedener Werk-phasen –

eine sehr bereichernde zusätzliche Lektüre.

Der Titel «90 Jahre Lebenstagebuch» erscheint klug gewählt. Der Betrachter kann, entlang den verschiedenen, wie-derkehrenden Themen, Spaziergänge durch das Leben dieses interessanten Menschen und die malerische Aneignung und Bewältigung des vergangenen Jahrhunderts unternehmen. Die offensichtlich ungebrochene Lebensfreude Gérards, die vor allem zum Ausdruck kommt in der Tatsache, dass er immer weiter malte und malt und auch in Zeiten der Trauer und des Alterns nicht aufgehört hat, kommt dabei wie ein energiespendendes Remedium gegen das metaphysi-sche Grauen und das (in dieser Publikation ebenfalls sehr deutlich sichtbare) Altern dem Leser entgegen.

Die Veränderungen des menschlichen Körpers und der Physiognomie durch Leiden und Altern sind im malerischen Bewusstsein des nebenberuflichen Arztes sehr präsent. Dies belegen beispielsweise die «Patientenzeichnungen in Lon-don» von 1944/45 und, besonders beeindruckend, die Skulptur «Elisabeth von Loewen» von 1941. Ein besonderes Ge-schenk ist es jedoch, Selbstbildnisse eines Mannes vom 18. bis zum 98. Lebensjahr betrachten zu können. Schon allein deshalb ist dieser Band zu empfehlen.

vorgestellt von Sabine Kulenkampff, Erlangen

Matthias Frehner & Diana Mirolo: «Rolf Gérard – 90 Jahre Lebenstagebuch». Bern: Benteli, 2007

GALERIE Willi Facen

«Schwangere», Aquarell, 56 x 75 cm, 1975

BÜCHER Schweizer Autoren in Kurzkritik XXI

13 Reihenweise zum Rheinfall

Gelehrte Aussenseiter, seien sie noch so sachkundig und von Enthusiasmus für ihren Gegenstand getragen, hatten es schon immer schwer, die ihnen gebührende öffentliche Anerkennung zu erringen. Möglich, dass es Heinrich Gebhard Butz auch so ergeht – zu Unrecht, wie seine Textsammlung eindrucksvoll beweist. Der Rheinfall, «Schauplatz unserer Spiele, Streiche und Abenteuer», habe ihn geprägt, bekennt der Herausgeber am Ende einer recht schlichten Einleitung in das unterhaltsame und zugleich belehrende Kompendium. «Um die Nostalgie zu bannen, habe ich mit vielen Mitarbei-tern dieses Buch gemacht.» Seit dem Spätmittelalter zog das Naturwunder bei Schaffhausen Reisende an, und heute wer-den dort jährlich mehr als zwei Millionen Besucher gezählt. Wie sich die Gefühle und Meinungen der Menschen ange-sichts des gewaltigen Wasserschauspiels im Lauf der Jahrhunderte artikulierten und änderten, ist das Thema des Buches. Dabei musste Butz aus den Beständen der Schweizer Bibliotheken eine Auswahl treffen, und sie leuchtet durchaus ein, sofern man ein breiteres Lesepublikum vor Augen hat, das sich für das vom Fall ausgelöste «Panorama der Gefühle und Gedanken» interessieren könnte. Eine vollständige Sammlung der unermesslichen Rheinfall-Literatur ist sowieso kaum möglich.

Das Buch hat vier Teile: Texte vom Mittelalter bis 1700, Höhepunkte der Rheinfall-Literatur von 1700 bis Mitte des 19. Jahrhunderts, bereits im Zeichen des Niedergangs dieser Literatur stehende Texte von 1850 bis heute, und schliesslich, vor der nützlichen Bibliographie, das Kapitel «Offene Fragen». Im ersten Teil erfährt man von alten Sagen, die im 19. Jahrhundert unter anderem Joseph Victor von Scheffel aufgestöbert und poetisch modelliert hat, und von frühen Reisenden wie Montaigne, Paracelsus, Matthäus Merian oder Konrad Celtis. Der Herausgeber stellt sie alle vor, und er charakterisiert und kommentiert auch ihre Rheinfalltexte, in gebotener Kürze und leider an keiner Stelle origi-nell oder wenigstens witzig. Für die Uninspiriertheit seiner Erläuterungen entschädigen die Texte selbst, aber auch deren geschickte, oft erhellende Zusammenstellung.

Der Band dokumentiert eine enorme Vielfalt: «Den einen ist der Rheinfall ein Beispiel göttlicher Kraft, den anderen ein Ventil der eigenen inneren Unruhe. Kritik von Snobs fehlt so wenig wie staunender Jubel. Die ganze Vielfalt des sprachlichen Ausdrucks wird durchgespielt.» Klopstock, Lavater, Goethe, Hölderlin, Chamisso, Uhland, Mörike, Jean Paul, Sophie von La Roche, Johann Peter Hebel, die Droste, Johannes von Müller, Ulrich Bräker oder Conrad Ferdinand Meyer dürfen nicht fehlen, doch gerade die Texte unbekannterer Autoren geben dem Panorama seine Würze. Aus ganz Europa strömt man zum Fall: Lamartine, Chateaubriand oder Victor Hugo kommen aus Frankreich, James Fenimore Cooper staunt, Hans Christian Andersen auch. Nicht jeder schwärmt. Leo Tolstoi notiert 1857: «Ein abnormer, nichtssagender Anblick».

Mit dem Aufkommen des neuzeitlichen Tourismus tendiert das Rheinfallerlebnis dazu, eine flüchtige Sensation un-ter vielen zu werden, auch wenn es sogar im 20. Jahrhundert noch Schönes zu entdecken gibt, etwa «Der nächtliche Rheinfall» (1936), ein Buch des Dr.-Mabuse-Erfinders Norbert Jacques, oder die Prosa der Luzerner Dichterin Cécile Lauber. Ob Hartmann von Aue in seinem «Erec» schon um 1200 herum den Rheinfall beschrieben hat oder nicht, ist eine der offenen Fragen aus diesem anregenden Buch eines Liebenden. Schön aussehen tut’s auch. Kein Reinfall also, auch als Geschenk nicht.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Heinrich Gebhard Butz (Hrsg.): «Sie waren am Rheinfall». Zürich: Chronos, 2009

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