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Schweizer Autoren in Kurzkritik XVIII

8 Bücher, vorgestellt in der achtzehnten Folge der «Schweizer Autoren in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

1 Statt Äplermakronen Rösti aus der Packung

Es ist schön in den Bergen, schwärmen die Touristen, die in roten Socken an der Alphütte vorbeiwandern und den Senn davor mit ihrer Kamera fotografieren. Im Brunnen waschen sie ihre Schuhe und denken nicht daran, dass dieser Brunnen den Bewohnern der Alp mehr ist als blosse Dekoration.

Vier Männer teilen sich den Sommer über die Hütte und die Arbeit auf der Alp Stavonas am Fuss des Piz Sez Ner. Die Hierarchie unter ihnen ist klar, und jeder Besucher, der zwischendurch von drunten im Tal heraufsteigt, bestätigt sie aufs Neue. Er stösst mit dem Senn an, gibt dem Zusenn die Hand, klopft dem Kuhhirten auf die Schulter und nickt dem Schweinehirten zu. Es ist, als ob die Ordnung naturgegeben wäre.

In seinem literarischen Début «Sez Ner» beschreibt Arno Camenisch diesen Alpsommer in kurzen Prosapartikeln, die sich lose zu einem stimmigen Ganzen fügen, das den schweren Alltag der Sennen und Hirten in betont einfachen Sätzen festhält. Camenisch konzentriert sich kunstfertig auf ein nüchternes Beobachten. In den Lücken zwischen den einzelnen, in sich geschlossenen Szenen indes steckt eine feine Ironie, die dem Text etwas schwebend Leichtes verleiht und eine Modernität aufblitzen lässt, die längst auch die Alp heimsucht. Das arkadische Idyll verfliegt spätestens dann, wenn anstatt frischer Kartoffeln «nur Rösti aus der Packung» auf den Tisch kommt; oder wenn der Senn – wie gleich zu Beginn – «an seinem Gleitschirm in den Rottannen unterhalb der Hütte der Alp» hängt.

«Sez Ner» ist eine ausgesprochen unaufgeregt, präzis gearbeitete Prosa. Die Sympathie des Autors zu seinen Figuren wird darin nicht ausgestellt, sondern bleibt diskret zwischen den Zeilen spürbar. Diesbezüglich entspricht der Text durchaus den schweigsamen vier Männern, die gemeinsam ihre Arbeit verrichten und Einzelgänger bleiben. Dass sich der äusserlich unspektakuläre Text dennoch mit Spannung liest, darin steckt seine vielleicht bemerkenswerteste Qualität.

Eine zweite Eigenheit zeigt sich im Satzbild: links rätoromanisch, rechts deutsch, ohne dass die beiden Versionen miteinander identisch wären. Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa (Graubünden) geboren und am Literaturinstitut in Biel studierend, legt zwei Prosatexte vor, zwischen denen ein Echo laufend hin- und hergeht. Diese Zweisprachigkeit verleiht seinem Buch einen Reiz, der auch all die erreicht, die des Rätoromanischen nicht kundig sind.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

Arno Camenisch:

«Sez Ner». Romanisch und Deutsch. Basel: Urs Engeler Editor, 2009

2 Eloge auf die Nichtprovinz

Wer beim Stichwort «St. Gallen» lediglich «ewiggestrig» und «provinziell» denkt, ist selber ewiggestrig und provinziell. St. Gallen hat zum Beispiel eine lebendige Literaturszene, einer ihrer Verkehrsknotenpunkte war bis vor kurzem die Syrano-Bar, wo Florian Vetsch Schriftsteller aus aller Welt zum Stelldichein lud. Vetsch ist selber eine Art Relais, wo sich die verschiedensten Wege kreuzen. Das zeigt sich auch in seinem soeben erschienenen Lyrikband «43 neue Gedichte». Diverse Texte spielen auf seine zweite Heimat Marokko an («282», «Trek Sidi Masmoudi», «A une Femme de Fès»), andere auf New York («Fragiles Gleichgewicht» oder «Rosenblätter», in Erinnerung an den Dichter Ira Cohen); der legendäre Paul Bowles in Tanger, über den Vetsch oft geschrieben hat, wird gestreift («Ans andere Ende der Stadt»), dann geht’s übergangslos zur «Maturafeier» und zum «Konfirmationstag» in St. Gallen, und Ostschweizer Persönlichkeiten haben ihren Auftritt – der Verleger und Schriftsteller Werner Bucher, der Übersetzer und Dichter Felix Philipp Ingold, der Feuerschlucker Eco Fini, der Künstler Peter Z. Herzog und der Autor Christoph Keller (der allerdings am Ground Zero, wo er Schatten fotografiert).

Ein Gedicht mindestens widmet sich dem Übersetzen – «Wollust in die Maske eines andern einer andern zu schlüpfen / durch den Mund der Maske tönen / Steigeisen… Etwas bleibt immer & nimmer zurück… das Unmögliche wollen / die Haut des Anderen / seinen Puls…». Vetsch ist ein Übersetzer, im Wortsinn, aus dem Englischen und Französischen, aber auch im übertragenen Sinn – ein Vermittler, Lehrer, Kritiker, Herausgeber, Veranstalter, Verkuppler. Und er ist natürlich auch ein Liebender; einige Gedichte zeugen explizit davon («Die Liebste schläft», «Auf das Lächeln von Bouchra»), implizit eigentlich alle.

Typisch ist auch, in was für heterogenen Publikationen ein Teil der Gedichte bereits erschienen sind: Von der «Süddeutschen Zeitung» über die St. Galler Literaturzeitschrift «Noisma» bis zu Underground-Publikationen mit so schönen Titeln wie «Rude Look» oder «Der Sanitäter».

Vielleicht könnte man Vetsch mit Long John Silver vergleichen, dem legendären Piraten aus Stevensons «Schatzinsel», dem er ebenfalls ein Gedicht widmet, liebenswert, einnehmend, verführerisch, aber doch Freibeuter durch und durch; Widerläufiges in sich vereinigend, in irreführende Mäntel gehüllt. Ein Schmuggler, ein Trickster, ein Go-Between. Man sieht ihn, wie in der entsprechenden Eloge, «knietief im niedrigen weissen Nebel mit der Parlamentärsflagge auftauchen» (um sich wenig später mit 400 Guineen aus dem Staub zu machen). Die 43 Gedichte reizen, wie schon der Vorgängerband «Die Feuertränke» aus dem Jahr 2002, zum Immer-weiter-Lesen, Immer-anders-Lesen, Immer-weiterhinaus-Navigieren.

vorgestellt von David Signer, Zürich

Florian Vetsch: «43 neue Gedichte». Wien: Songdog, 2009

3 Fische im Hafen

Ecce opusculum oder «Die Epik der kurzen Sätze und der scheinbar schmächtigen Kapitel», achtzehn an der Zahl; ihre Symbolik lasse man auf sich beruhen – nicht aber diesen Roman (leider nur) in Novellenstärke, nein, ganz und gar nicht. Gibt es das, ein Buch, an dem nichts auszusetzen ist, in dem einfach jeder Satz sitzt, jeder? Ja, das gibt es. Angelica Overath hat ein solches vorgelegt. Wovon es handelt? Von der grösstmöglichen Präzision der Wörter, des Ausdrucks, vom Filigran der Syntax – oder wäre «Algen» das treffendere Wort, durch die wir Leser schwimmen wie eben sonst nur die Fische in diesem Aquarium mitten in einem dieser sterilen Riesenflughäfen mit ihrem Durchleuchtungswahn, ihren Glas- und Stahlkonstruktionen. (Da lobe ich mir den Flughafen Oslo, der zur Hauptsache aus Holz besteht, beziehungsweise aus Holzverkleidungen.)

Die Pointe sei vorweggenommen: Leser dieses Romans sehen sich so unmittelbar in den Sog dieser Aquariumsgeschichte gezogen, dass sie selbst in diesem Flughafen zu sein glauben, wobei sie gar nicht merken, dass dessen Glaswelt ihrerseits ein riesiges Aquarium darstellt, in dem sie, die Leser, die Reisenden, die Aufpasser, die Gepäckdurchleuchter und Körperbetaster ihrerseits zu Fischen werden. Nur dass sie weniger bunt sind als die Fische in Tobias’ Aquarium, das im «Flight Connection Centre» steht. Ihm, dem apart aussehenden Tobias Winter, hat man dieses Aquarium anvertraut als Augenweide für gestresste oder gelangweilte Reisende, als hypnotisierendes Ablenkungsmanöver von dem Wahnsinn, dem die Flugreisenden ausgesetzt sind und der nur noch dadurch übertroffen wird, dass sie (also wir alle) ihn inzwischen im Namen der Sicherheit für normal halten.

«Flughafenfische» fragt danach, was in einer solchen Atmosphäre an Gefühlsentwicklung überhaupt noch möglich sei. Da sind, wie gesagt, Tobias, die immerfort unterwegs seiende Journalistin Elis – die gerade in China ihr Mobiltelefon verloren hat – und der Raucher, der mit Zigaretten und Whisky seiner zerbrochenen Ehe nachdenkt, eingesperrt in diese Raucherkabinen, Aquarien ohne Wasser, eine Art Vortodeszellen. Dann gibt es noch diese Champagner-Bars mit Meeresfrüchten – allein die Art, wie die Erzählerin das Öffnen von Austern beschreibt, ist die Lektüre dieses Buches wert –, und eben diese sehr gleitende, um nicht zu sagen aalglatte «Beziehung» zwischen Elis und Tobias, die miteinander gleichsam durch die Fische und Algen sprechen. Wir erfahren immens viel über das Sexualleben der Seepferdchen, den halbwegs durchtrainierten Oberkörper von Tobias, und vor allem über das Innenleben des Aquariums, können (und sollen) jedoch lediglich erschliessen, wie es um das Innere von Tobias und Elis bestellt ist; das Innere des Rauchers hingegen kann man sich, zumindest im Lungenbereich, etwas genauer vorstellen. Die Beziehung zwischen der ewig Reisenden und dem stationären Aquariumswächter kann nur ins Leere führen oder allenfalls zur Projektion ihres (Nicht-) Verhältnisses auf schlüpfrige Fische.

vorgestellt von Rüdiger Görner, London

Angelica Overath: «Flughafenfische». München: Luchterhand, 2009

4 Reisen statt orgeln

Seit vier Jahrzehnten hat Gerold Späth sich mit Romanen, Erzählungen, Bühnenstücken und Hörspielen einen Namen gemacht. Beinahe unbemerkt sind nebenbei in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren Reisereportagen für die «Neue Zürcher Zeitung» entstanden, die nun unter dem Titel «Mich lockte die Welt» gesammelt nachzulesen sind. Gleich zu Beginn bekennt Späth, am liebsten «ohne allzu fixe Punkte» zu reisen, «mit Raum zum Herumschweifen und mit Zwischenräumen zum Abschweifen».

Abseits der ausgetretenen Touristenpfade geht Späth auf Entdeckungsreisen. Nie wird er müde daran zu erinnern, dass die politischen Verhältnisse das Leben der Menschen weit mehr bestimmen als Landschaft, Klima oder Tradition. Das zeigt sich besonders deutlich in Sizilien, wo die Mafia «als schleichende Angst in den Leuten» spürbar wird und der Grund dafür ist, dass auf der Insel «so viel geflüstert oder lieber gleich geschwiegen wird». Es gilt aber auch für die Eskimos und Indianer im fernen Alaska, die durch die politischen Entwicklungen ins gesellschaftliche Abseits gedrängt wurden und allenfalls noch als museale Beigabe geduldet werden. Mit bitterer Ironie vermerkt Späth die putzigen Eskimopuppen und Mini-Totempfähle, mit denen auf den Einkaufsstrassen von Anchorage indianische Kultur vermarktet wird, während die Polizei in den Nebenstrassen routinemässig die betrunkenen Eskimos einsammelt und wegsperrt. Auch eine Art Pflege des kulturellen Erbes.

Auf eine harte Geduldsprobe gestellt wird der Vorsatz des Autors, sich reisend «mit der Welt, mit Menschen und Menschenwerk» auseinanderzusetzen, bei einer staatlich kontrollierten Reise durch die DDR, neun Jahre vor dem Mauerfall. Unter der strengen Aufsicht eines Reisebegleiters wird ihm eine mundgerecht vorgekaute sozialistische Vorzeigerepublik präsentiert, die sich in Politparolen und heruntergeleierten Funktionärsreden erschöpft. Ganz so billig abspeisen lässt Späth sich allerdings nicht und verschafft sich in den seltenen Begegnungen mit den Arbeitern und Bauern durchaus anders klingende Informationen aus erster Hand. Mit geradezu diebischer Freude kommentiert er die Bemerkung eines jungen Mannes in Erfurt, der vor den Augen des staatlichen Aufpassers die Durchschnittseinkommen in der DDR um fünfzig Prozent nach unten korrigiert: «Das gibt zu schlucken, das klebt meinem Begleiter in der Garten- und Blumenstadt Erfurt rosenrote Ohren an den Kopf.»

Die letzte Reportage führt Späth auf den Spuren des oberschwäbischen Orgelbauers Karl Joseph Riepp aus dem 18. Jahrhundert ins französische Burgund und die Franche-Comté. Hier schwingt ein Stück eigene Lebensgeschichte mit, stammt der Autor doch selbst aus einer alten Orgelbauerfamilie aus Augsburg, die vor vier Jahrhunderten an den Zürichsee gezogen war. Der wendige und weltoffene Riepp, der nach Dijon auswandert, weil ihm die schwäbische Welt zu eng wird, dort der etablierten einheimischen Konkurrenz rasch den Rang abläuft und sein Geschäft um einen einträglichen Handel mit Burgunderwein erweitert, ist zweifellos ein Charakter ganz nach Späths Geschmack. Von seinen Orgeln sind nur noch ganze zwei einigermassen erhalten, auch wenn fast jeder Küster und Kirchenführer in der Region beansprucht, eine Orgel aus der Werkstatt Riepps zu besitzen. Das zeigt in gewisser Weise die längere Haltbarkeit der Fiktion und ist keine schlechte Bestätigung für den Autor Späth, der dem Orgelbau den Rücken kehrte und in der Literatur ein so klangvolles Werk intonierte. Seine Reisebeschreibungen liefern dazu einen weiteren, beileibe nicht dünnen Ton.

vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld

Gerold Späth: «Mich lockte die Welt». Basel: Lenos, 2009

5 Gizgnäpper, Hüürebeiss, okee

Den Anlass zu den 83 alphabetisch sortierten «Wortgeschichten», die der aus dem Schweizer Radio bekannte Redaktor Christian Schmid auf gut 200 Textseiten erzählt, gaben Anfragen seiner Hörer. Da in vielen Wortgeschichten – die Stichwörter sind meist Substantive und Adjektive, selten Verben – auch auf Ableitungen, Zusammensetzungen, Synonyme oder etymologisch Verwandtes eingegangen wird, ist die Zahl der behandelten Wörter deutlich grösser. Das hilfreiche Register ist mit 300 Einträgen (inklusive der Stichwörter) noch nicht einmal erschöpfend, weil manches nur nebenbei Erwähnte dort nicht verzeichnet wurde. Neben Klassikern der Sprachgeschichtsschreibung wie «Arbeit», «geil» oder «Polizei» sind die meisten Stichworte schweizerdeutsch, von denen einige wohl auch manchem Schweizer unbekannt sein dürften wie «Amadiisli», «Gizgnäpper», «Hüürebeiss», «Schiiterchüngeli» oder «verböischtig». Dennoch ist «Botzheiterefaane» (bereits in 3. Auflage) kein eigentliches Mundartwörterbuch. Vielmehr wird ohne Scheuklappen und ohne grosse Mühe der Bogen geschlagen von den schweizerdeutschen Dialekten über die Deutschschweizer Umgangssprache zu den in Deutschland und Österreich üblichen Ausprägungen des Deutschen oder – wenn erhellend – auch zu den anderen europäischen Nachbarsprachen. Dabei zeigt sich Schmid bei aller Liebe zur Tradition der Dialekte als nostalgie-fester Pragmatiker, der eben kein «Wortmuseum», sondern ein «auch für unser heutiges Sprechen relevantes Geschichtenbuch» anbieten will: die Aussage «Kein Zweifel, okee, okei ist heute eines der wichtigsten Mundartwörter» ist für Dialektpuristen sicher provokant, sie entspricht aber der heutigen Sprachforschung, die die Anpassungsfähigkeit der Dialekte und die Mehrsprachigkeit der Dialektsprecher nicht mehr als Mangel wahrnimmt.

Diese Offenheit gegenüber der Sprachgegenwart zeigt sich auch in den verwendeten Hilfsmitteln, die dem interessierten Laien durch gelegentliche Erwähnung vorbildlich nahegebracht werden. Zusätzlich zu den Grosswörterbüchern des Deutschen – allen voran das «Schweizerische Idiotikon» – nennt Schmid auch immer wieder das Internet als wichtige Quelle für Sprachdaten. Dem umsichtig ausgewählten Verzeichnis der gedruckten Hilfsmittel folgt deshalb ganz natürlich eine kurz kommentierte Liste der wichtigsten Informationsquellen zur deutschen Sprache im Netz.

Diese geglückte Verbindung von philologisch gesicherten Fakten mit einem sicheren und ausgewogenen Urteil kann jedem Sprachinteressierten empfohlen werden. Es bleiben zwei (kleine) Kritikpunkte: den zahlreichen schweizerdeutschen Beispielsätzen sind nur selten standarddeutsche Umsetzungen beigegeben. Und nicht immer gelingt es dem Autor, die zahlreich ausgebreiteten Fakten erzählerisch zu bändigen, was vielleicht zu schaffen gewesen wäre, wären die den Wortgeschichten zugrundeliegenden Fragen immer ausdrücklich genannt worden.

vorgestellt von Michael Mühlenhort, Gütersloh

Christian Schmid: «Botzheiterefaane. Wortgeschichten aus Schnabelweid und Mailbox». Muri/Bern: Cosmos, 2008

6 Religiöses Ethos und Geist des modernen Kapitalismus

Max Webers 1904/05 erstmals veröffentlichte Studie «Die protestantische Ethik und der ‹Geist› des Kapitalismus» gehört zu den klassischen Texten der Soziologie. Schon zu Zeiten Webers wusste man, dass der Kapitalismus schwerwiegende soziale und andere Widersprüche erzeugt. Zur Auflösung dieses inneren Grundwiderspruchs erzählte Weber die Geschichte von der Geburt des Kapitalismus aus dem Geiste der Religion. Kapitalistische Wertschöpfung funktioniert nur dann, wenn das Gewinnstreben der Marktteilnehmer ins Unendliche geht. Nur wenn die Superreichen um jeden Preis noch reicher werden wollen, reinvestieren sie ihre Milliarden produktiv und halten den Wirtschaftskreislauf am Laufen. Akkumulation als Selbstzweck, das ist der Imperativ der heutigen Kapitalwirtschaft. Diese Akkumulation, so erklärte es Max Weber in der Nachfolge Calvins, diene nicht dem weltlichen Lustgewinn, der Geldgier und Gütersucht. Sie sei vielmehr eine Form der religiösen Askese. Die Pointe ist: nur diese metaphysische Perspektive mache es sinnvoll, mehr Geld aufzuhäufen, als man hienieden jemals verzehren könnte. Ein ganz immaterielles Ziel, das genuin religiöse Interesse an überweltlichem Heil, drängt zum Wunsch nach unbegrenzter Steigerung des materiellen Wohlstands. Weber prägte dafür die Formel von der «innerweltlichen Askese».

Aus Anlass des 100-Jahr-Jubiläums der Erstveröffentlichung seiner säkularen Schrift fand im September 2005 in Basel eine interdisziplinäre Tagung statt, zu der ein Tagungsband erschienen ist. Webers Arbeit wird hier auf ihre Aktualität hin befragt und zur Folie von Gegenwartsdiagnosen genommen. Mit der Globalisierung hat die Ökonomisierung unserer Lebenswelt einen neuerlichen Schub erhalten. Nahezu alle Lebensbereiche scheinen sich heute an den Rationalisierungsstandards orientieren zu müssen, die die Wirtschaft vorgibt. Auf methodisch unterschiedliche, fast durchwegs produktive Weise gehen die Autoren den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und individuellen und gesellschaftlichen Werten unserer Gegenwart nach.

Besonders hervorzuheben ist der Beitrag des St. Galler Wirtschaftsethikers Ulrich Thielemann, der zeigt, wie stark unser Leben durch die Systemvorgaben ökonomischer Rationalität bestimmt ist. Es liegt in der Eigenlogik des Unternehmers, alle marktfremden Gesichtspunkte aus seinem Handlungsfeld zu beseitigen. Die Rationalisierung der Lebensführung im Sinne des Marktes hat zwar zu einem historisch beispiellosen Wohlstand geführt, aber sie zwingt uns ein Verhaltensschema auf, das kaum Platz für ausserökonomische Überlegungen und Handlungen lässt. Wer sein Leben nicht «unternehmerisch» führe, so Thielemann, werde bald vom globalen Wettbewerb «ausgelesen». Auch die Politik, die das Gemeinwesen nach den Vorstellungen der Bürger gestalten sollte, wird unter dem Diktat des Kapitals gezwungen, die Wettbewerbsfähigkeit des «Standorts» in den Vordergrund zu stellen. Die Kosten dieses «Unternehmertums», des Zwangs, sich «fit», wettbewerbsfähig auf den Märkten zu erhalten, und die damit verbundenen Freiheitsverluste werden meist sowenig beachtet wie die Alternativen. Gibt es einen Ausweg zugunsten von Lebensformen, die nicht gänzlich von ökonomischen Gesichtspunkten der Ausschöpfung von «Humankapital» bestimmt sind? Nach Thielemann nur durch Einbettung des Kapitalverkehrs in eine globale Rahmenordnung. In der Zwischenzeit hat die Wirtschaftskrise noch weitere Argumente für eine solche Ordnung lautwerden lassen.

In allen Beiträgen regt das Buch an zum Nachdenken über zentrale Fragen unseres Daseins, über die vielschichtigen Interdependenzen von Arbeit, Markt, Freiheit und Religion in unserem begrenzten kleinen Leben. Es beweist, dass das Problem des Verhältnisses von modernem Kapitalismus und religiösem Ethos heute mindestens so virulent ist wie damals, als Max Weber es magistral aufgegriffen hat.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Zürich

Georg Pfleiderer, Alexander Heit (Hrsg.): «Wirtschaft und Wertekultur(en). Zur Aktualität von Max Webers ‹Protestantischer Ethik›». Zürich: TVZ, 2008

7 Tischheit und Becherheit sah er nicht

Diogenes von Sinope lebte in Athen anfangs des vierten vorchristlichen Jahrhunderts und galt als Philosoph. Doch es war nicht so sehr seine Lehre wie seine Lebensführung, durch die er gewirkt hat und durch die er in Erinnerung ist. So soll er mit Gehstock und einem Rucksack durch die Stadt gewandert sein, an den ein Trinkbecher und eine Essschale gebunden waren, und diese Accessoires, die das anspruchslose und ungebundene Leben suggerieren sollten, wurden zum Kennzeichen des Kynikers, als der er bezeichnet wurde. «Einem, der sagte: ‹Du philosophierst, ohne das geringste zu wissen›, entgegnete er: ‹Wenn ich Weisheit auch nur anstrebe, so ist auch das schon philosophieren.›» Als Kyniker fand er die platonische Begrifflichkeit geradezu geschwätzig und setzte ihr die Einfachheit des Lebens und Denkens entgegen. «Als Platon über seine Ideen einen Vortrag hielt,» heisst es in einer Anekdote, «und die Begriffe ‹Tischheit› und ‹Becherheit› prägte, sagte Diogenes: ‹Was mich angeht, Platon, so sehe ich zwar einen Tisch und einen Becher, eine ‹Tischheit› aber und eine ‹Becherheit› nie und nimmer›. Platon entgegnete: ‹Das ist leicht zu begreifen›, denn Augen, mit denen man Becher und Tisch sieht, hast du zwar, aber Verstand, mit dem man ‹Tischheit› und ‹Becherheit› wahrnimmt, hast du nicht.»

Diogenes soll Bescheidenheit vorgelebt haben und sich als Weltbürger statt Bürger einer Stadt oder eines Staates bezeichnet haben – ein Anarchoexzentriker, der die soziale Konvention und die etablierte Philosophie ebenso wie die politische Macht missachtete. «Als er im Kraneion ein Sonnenbad nahm, trat Alexander an ihn heran und sagte: ‹Erbitte von mir, was du willst›, worauf er antwortete: ‹Geh mir aus dem Licht!›» Das ist eine der berühmtesten Anekdoten, die das Bild des Diogenes von Sinope geprägt haben.

Die Anekdote stammt aus dem sechsten Buch der Philosophenbiographien des Diogenes Laertios aus der Mitte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts, der einzigen erhaltenen antiken Philosophiegeschichte. Aus diesen Büchern hat der Luzerner Altphilologe Kurt Steinmann die Stellen über Diogenes herausgesucht, übersetzt und zusammengestellt. So wird das Unkonventionelle am Leben des Diogenes und das kynisch Einfache an seinem Denken erkennbar – und darin sieht Steinmann, der 2008 mit einer metrischen Neuübersetzung der Odyssee Aufmerksamkeit erregte, die Aktualität des Diogenes. Viele der Anekdoten thematisieren den Gegensatz zu Platon als eine Auseinandersetzung zwischen individueller Freiheit und kollektiver Machtbewusstheit. «Als Platon von irgendeinem gefragt wurde: ‹Welchen Eindruck hast du von Diogenes?›, antwortete er: ‹Er ist ein verrückter Sokrates.›».

vorgestellt von Stefana Sabin, Frankfurt a.M.

Kurt Steinmann (Hrsg): «Das Leben des Diogenes von Sinope erzählt von Diogenes Laertios». Zürich: Diogenes, 2009

8 Das Quadrat soll ein Kreis werden

Der Sozialismus hat Schriftsteller mit einem sozialen Gewissen in vielerlei Konflikte geworfen, ohne dass sein Scheitern sie von ihnen befreit hätte. Literatur den Zielen einer idealen Gesellschaft zu unterstellen, so die Erfahrung, führt zu einem Desaster. Literatur sich selbst zu überlassen, schützt aber ebensowenig vor politischer Vereinnahmung durch Dritte. Furtwängler etwa, der nur Künstler sein wollte, dirigierte die Eroica während der Inauguration der Rassengesetze. Auch der unpolitische Künstler kann nicht verhindern, dass die Gesellschaft seine Absichten ins Gegenteil verkehrt. Der gesellschaftlich bewusste Künstler benötigt eine Strategie gegenüber der Gesellschaft, kann sie aber in der Tradition der Linken nur schwer finden. Einerseits glaubt er nach wie vor an die allesdurchdringende Kraft der Herrschaftsstrukturen, anderseits ist jeder Ansatz innerhalb wie ausserhalb der Individuen verlorengegangen, aus dem Aufklärung entspringen könnte. Einerseits bezweifeln diese skeptischen Linken, dass es irgendwohin führt, die sozialen Mächte einfach nur zu erkennen, anderseits können sie ihre Hoffnung auf eine sozialere Zukunft nicht aufgeben. Solche Linke sind prädestiniert für Widersprüche.

Max Frischs zwei, 1981 in New York auf englisch gehaltenen Vorlesungen, postum in der Originalsprache Deutsch veröffentlicht, veranschaulichen das Problem eines solchen Schriftstellers. Hellsichtig befreit sich Frisch in der ersten Vorlesung «From Impulse to Imagination» von jeder die Literatur einengenden Theorie oder Rezeptur und verteidigt die Imagination als real verändernde Bilderkraft. Der Käfer gewordene Gregor Samsa oder das dann dem Buch seinen Titel verleihende Bild des russischen Konstruktivisten Malewitsch, ein rätselhaftes schwarzes Quadrat innerhalb eines weissen Felds, vermögen das gängige Denken zu erweitern. In seiner zweiten Vorlesung «The Function of Literature in Society» setzt Frisch an die Stelle der Imagination das Wort «Poesie» und endet mit einem Manifest, das der poetischen Literatur gegenüber der Politik eine befreiende und subversive Funktion verordnet. Doch wie soll die Poesie solche Erwartungen erfüllen?

Frisch formuliert seine Antwort mit Hilfe des marxistischen Vokabulars von «Unterdrückung» und «Freiheit». Die Sprache des Alltags sei die von Klischees durchzogene Herrschaftssprache. Der Autor übersetze dagegen seine Erfahrung in die eigene, erfundene, freie Sprache und inspiriere den Leser, ihm dabei zu folgen. Der marxistische Gegensatz von Herrschaft und Freiheit suggeriert immer noch die Hoffnung der Rousseauschen These, wonach die Menschen, an sich gut, nur von ihren sozialen Fesseln befreit werden müssen. Vielleicht hat Frisch einen solchen Glauben immer noch geteilt, von den zeitgenössischen Floskeln durchzogen sind auch seine Heilmittel: «genuine Erfahrung», «wirkliches Erleben», «Konfrontation mit der Sprache», «Spontaneität». Was eine «genuine» Erfahrung ist, bleibt ebenso ein Mysterium wie «die» Sprache ein Stück Metaphysik. Es gibt keine einzigartige Sprache, nur unendlich viele Sprechende. Es gibt keine Realität, die sich unkontrovers erschliesst. Widersprüchlich bedient sich Frisch der klassischen Formeln, als wären sie nach wie vor gestützt durch das Wahre und Gute. Aber nur Konservative und Rechte glauben, dass beides bereits anwesend sei und nur erlauscht zu werden brauche. Sozialisten und Konstruktivisten wie Frisch können und dürfen sich da nicht anschliessen.

Bleibt also der Widerspruch. Frisch hätte eigentlich die Mittel gehabt, ihn zu vermeiden. Seine Stichworte sind schon die richtigen, sie müssten nur von der alten Vorstellung befreit werden, es gelte die Natur des Menschen zu entdecken anstatt zu erfinden. Ach, hätte Frisch nur seine Vokabeln durch Geschichten ersetzt…

vorgestellt von Anton Leist, Zürich

Max Frisch: «Schwarzes Quadrat». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008

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