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Schweizer Autoren in Kurzkritik XVI

13 Bücher, vorgestellt in der sechzehnten Folge der «Schweizer Autoren in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

1 Wer nun krault den alten Hund?

Gern wird es Alex Capus nicht hören, aber wider besseres Wissen (Coverfoto!) stelle ich ihn mir als einen alten weisshaarigen Mann vor, auf den Stufen eines ebenso alten, farbenfrohen und windschiefen Schaustellerkarrens am Rande des Jahrmarkts. Er blickt in das Purpur der untergehenden Sonne, krault einen noch älteren Hund neben sich und beginnt zu erzählen, wenn die Schar der Kinder ruhig im Halbkreis sitzt. Er redet von Zeiten, als es auf der Welt noch Mohren gab und Mulatten im Morgenland und Männer und Frauen, die mit nur einer neuen Idee schon Revolutionäre oder Entdecker waren, Absinth tranken und Abenteuer erlebten.

In Wirklichkeit jedoch, so erzählt Capus in seinem aktuellen Buch «Himmelstürmer», sinniert er im Café seines Heimatortes Olten über Geschichten einstiger Schweizer Persönlichkeiten. Dabei verlässt sich Capus, wie schon im Vorgängerbändchen «Patrioten», weniger aufs Hundekraulen sondern viel mehr aufs Quellenstudium. Der Stil der gesammelten Biographien ist dennoch nicht verstaubt-gewichtig, als laste die Tonnage ganzer Bibliotheken auf dem Erzähler. Im Gegenteil, auch dieses Werk ist ein echter Capus: beschwingt, leichtfüssig und immer nur so ernst, dass sich der Leser nic ht durch totes «Bildungsgut» quält, sondern lebendige Geschichten miterlebt. Zwar haben sich in die «Himmelsstürmer» auch einige Erdkröten (Gattenmörderin Marie Roux vom Genfersee) und Bruchpiloten (Luftschiffhavarist S.J. Pauli aus Bern) eingeschlichen; aber der Bilderbogen von Madame Tussaud – alias

Marie Grosholtz, ebenfalls aus Bern – bis zum Raketenbauer Fritz Zwicky aus Glarus ist so rund und bunt und gelungen und ungezwungen, dass er wie eine fröhliche, dennoch zeitgenaue Kostümparade durch das neunzehnte und die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schunkelt. Vermutlich hat Capus sogar den Fehler absichtlich eingebaut, die Ermitage in Moskau anzusiedeln statt in Sankt Petersburg, um seinen Lesern die kleine diebische Freude an der Verbesserung zu gönnen; denn er will auf Augenhöhe unterhalten, nicht von obenherab belehren. Wer nun aber glaubt, es sei alles eitel Sonnenschein, übersieht die zentrale Frage: Wer krault den alten Hund?

vorgestellt von Michael Harde, Schalkenbach

Alex Capus: «Himmelsstürmer. Zwölf Porträts». München: Albrecht Knaus, 2008

2 Ein Modernitätsmüder

Hält der Zug der Moderne seine Spur oder drohen ihm jene «Entgleisungen», vor denen Jürgen Habermas warnt? Schon als er gerade volle Fahrt aufzunehmen begann, meldeten sich Skepsis und Kritik. Der 1818 in Basel geborene Jacob Burckhardt ist dafür ein ganz besonderer Zeuge. Mit noch nicht 28 Jahren outete sich der spätere Kulturhistoriker (und Geschichtsphilosoph wider Willen) einem Freund gegenüber als «modernitätsmüde». Er signalisiert damit seine Distanz zu jenem zwanghaften Beschleunigungswahn, der alle Bereiche des Lebens erfasst. Die Moderne ist für ihn unter anderem durch destruktives Macht- und Gelddenken gekennzeichnet, durch einen «erbarmungslosen Optimismus», nicht zuletzt auch durch ihre eigene Verabsolutierung. Der Einzelne jedenfalls komme buchstäblich unter die rastlos «laufenden Räder». Ausbildung von Individualität sei daher die Aufgabe. Allenthalben plädiert Burckhardt, dem jede Homogensierung zuwider ist, für Vielfalt, für das Friedlich-Gegensätzliche, die «discordia concors».

Ein grundlegendes Gebrechen der Moderne sieht er zumal in der Vernachlässigung der historischen Bildung, darin, dass man «die geistigen Zustände und Wandlungen der früheren Weltepochen als ein hohes Förderniss unseres eigenen geistigen Bewusstseins zu behandeln» geringschätzt. Hier verläuft für Burckhardt die Grenzlinie zur «Barbarei», und man könnte sie im «wirren Treiben des Tages» heute, wo tatsächlich «harte Zweckmässigkeit … der herrschende Typus des Lebens» geworden ist, noch deutlicher ziehen als er dies zu seiner Zeit tat. Konservativ ist diese Einstellung nur bedingt.

Es ist ein Vorzug von Kurt Meyers Biographie, dass sie dieses mit dem spannungsvollen Begriff der Moderne bezeichnete Zentrum letztlich nie aus den Augen verliert, das bei der Aufbereitung des in jeder Hinsicht opulenten Werks leicht verschwimmen könnte, das Burckhardt hinterlassen hat. Zugleich widersteht Meyer der lange üblichen Praxis, die grosse Person diesseits ihrer Zwiespältigkeiten zu betrachten. Im Einklang mit der neueren Forschung wird Burckhardt als Kind seiner Zeit und seiner Klasse erkennbar, deren Klischees und Ressentiments er teilt – mit seiner Revolutionsphobie ebenso wie mit der Überzeugung von «inferioren Menschenrassen» –, nachgerade sogar als exemplarische Figur für die Dialektik nicht nur des Modernisierungsprozesses selbst, sondern auch von dessen Kritik. Antisemitische Äusserungen, die sich in Burckhardts Korrespondenz finden, gehen darauf zurück, dass er Juden pauschal als Agenten des ungeliebten «Fortschritts» wahrnimmt. Im Gegenzug weist Meyer allerdings mit Recht etwa auf Burckhardts «ökumenischen Massstab» hin, die Perspektive schrittweisen «Zusammenpulsierens der Menschheit».

Allemal bleibt die Beschäftigung mit dem Gelehrten eine Ausfahrt ins Weite. Der in seiner lebensweltlichen Kleinräumigkeit verpuppte, äusserlich wohlanständige Diogenes aus Basel eröffnet nicht nur eine Fundgrube für das Verständnis des 19. Jahrhunderts. Viel kann man von dem Mann selbst und seinem Werk noch immer lernen, sei es zuweilen auch im Sinne produktiven Widerspruchs.

Jacob Burckhardt wollte seine Kenntnisse niemals nur für die Zunft der «Spezialmikroskopiker» darlegen. Er hielt Vorträge vor der städtischen Bürgerschaft und wandte sich mit seinen Büchern an die «denkenden Leser aller Stände». Kurt Meyer macht seine Sache diesbezüglich gut. Wenngleich besonders das Fehlen eines Registers stört, ist eine Art «Cicerone» entstanden, der Burckhardt ausserhalb von Fachdiskurs und editorischem Gross-projekt mit Gewinn für jeden interessierten Leser präsent hält.

besprochen von Hans-Rüdiger Schwab, Münster

Kurt Meyer: «Jacob Burckhardt. Ein Porträt» Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2009

3/4 Im Turm von Ninive

Am nichtargumentativen Schreiben erkenne man den wahren Dichter, meinte Richard Rorty bei Gelegenheit; und er fügte hinzu, dass intellektueller Fortschritt ohne die Hinwendung zu den träumerischen Sprachbildwelten der Dichter nicht möglich sei. Diese Bemerkung kam mir unwillkürlich in den Sinn beim Lesen von Gertrud Leuteneggers jüngstem Roman «Matutin» und bei der Wiederbegegnung mit ihrer Prosa «Ninive» aus dem Jahre 1977, die ich seinerzeit in Vorlesungspausen als Student am Neckar erstmals gelesen hatte und den die verdienstvolle, der zentralschweizerischen Literatur des 20. Jahrhunderts geltende Pro-Libro-Initiative in Luzern mit einem klugen Nachwort von Urs Bugmann neu aufgelegt hat.

Hier erzählt eine Romantikerin, so unzeitgemäss wie möglich. Doch unsere Uhren gingen falsch, wenn sie für die Lektüre dieser Unzeitgemässheiten keine Zeit vorsähen. «Ninive», oder: ein Paar (die Erzählerin und Fabrizio – «wir haben einander entführt»), das keines ist, versucht im Angesicht eines übelriechenden, hinter Glas auf einem Riesenwaggon ausgestellten Walkadavers Klarheit über sich zu gewinnen. «Matutin», oder: wie eine Erzählerin zur Kustodin eines Vogelfangturms wird, dabei aber weniger Vögel beobachtet, sondern das Verhalten einer rätselhaften Fremden, die sich bei ihr im Vogelfangturm gleichsam einnistet und bröckchenweise ihre traumatische Lebensgeschichte preisgibt. Doch die Erzählerin selbst wird zum Gegenstand der Beobachtung. Nach dreissig Turmtagen (der Roman ist aufgebaut wie datumlose Tage- oder Logbücher), ist ihres Bleibens als Kustodin nicht länger. Sie wird von «zwei Männern im Regenmantel», die im Auftrag jener Stadtgemeinde handeln, von der die Erzählerin zuvor als Turmwärterin eingestellt worden war, mit barschen Worten ohne Angabe von Gründen entlassen. Kafka scheint nahe.

Auch die Erzählerin in «Ninive» war eine Kustodin, und zwar im Nietzsche-Haus zu Sils Maria; und es ist faszinierend zu sehen, wie treu diese Erzählerin sich geblieben ist über die Jahre, im Sinne des Sprachtons, des Bedachts, mit dem sie erzählt, der Phantasiegenauigkeit, derer sie sich bedient und im Hinblick auf die sanften Albtraumwelten, die sie langsam durchdringt. «Matutin», also: Morgengebet, morgendliche Andacht oder Mette. Und auf die Schilderung der Morgenstimmungen im Turm hoch über dem See verwandte die Erzählerin besondere Sorgfalt. Wüsste man sich mit diesem Vogelfängerturm nicht im Süden, man hörte im geistigen Ohr bei diesen Morgenphasen Edward Grieg.

Nein – harmlos, nur verträumt, nur verspielt ist dieses Erzählen nicht; es geht einem – vor allem beim Wiederlesen – bis ins Mark. Es ist die Eindringlichkeit dieser Prosa, ihre Tiefenschärfe, die etwas selten Berückendes, einen Betreffendes hat, auch wenn man noch nie im Leben in einem Vogelfängerturm gehaust hat.

vorgestellt von Rüdiger Görner, London

Gertrud Leutenegger: «Matutin».

Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008

Gertrud Leutenegger: «Ninive», hrsg. von B.von Matt, J. Bättig & Hardy Ruoss. Zürich: Orell Füssli, 2008

5 Zwar schön, aber sonst?

Wohltuend elegant kommt das Bändchen daher, in bordeauxrotem Leinen, mit Prägung auf dem Titel, dazu ein Memorierbändchen und das Ganze im Schuber: fürwahr ein schönes Buch. In Zeiten der billigen und ebensooft billig gemachten Druckwerke ist dies an sich schon kein geringes Verdienst. Die Credit Suisse hat, als jahrelang engagierte Förderin der Musik, dieses Buch über «Komponisten in Basel» veranlasst, ein Thema mithin von einigem Interesse, und man hat sich dafür offenbar keine finanziellen Beschränkungen auferlegt, jedenfalls keine erkennbaren. So nimmt man also das Resultat voller Neugier zur Hand; doch schon beim ersten Blättern weicht die Freude einem Erstaunen, das von Seite zu Seite wächst.

«Komponisten in Basel» sollen hier vorgestellt werden, aber bereits im allzu knappen Vorwort ist einschränkend die Rede von blossen Verknüpfungen, schliesslich gar von «zum Teil amüsanten Bezügen zum Musikleben der Stadt Basel». Wer immer also für die Auswahl der 70 Namen wirklich verantwortlich zeichnet – die tatsächliche Nähe zur Stadt Basel war ihm ein Begriff von anscheinend unendlicher Dehnbarkeit. Denn herausgekommen ist ein heterogenes Sammelsurium, geordnet nicht allein nach der nivellierenden Kraft des Alphabets, sondern auch des einheitlichen Layouts. Dem sechsseitigen Muster (Name, Portrait, Faksimile und Kurztext) wurde alles erbarmungslos unterworfen, ob nun sinnvoll oder nicht. Im Bändchen begegnen sich also Hans Huber, Ludwig Senfl, Johannes Brahms und Thüring Bräm gewissermassen auf der Augenhöhe des einheitlich bemessenen Raumes.

Zuweilen wird der Basel-Bezug in wohlfeile Beliebigkeit aufgelöst. Viele Verbindungen verdanken sich dem Mäzenatentum Paul Sachers, der allerdings kaum «Komponisten in Basel» produzieren wollte. Weberns Verbindungen zur Stadt etwa liegen im wesentlichen darin begründet, dass sein Nachlass dort liegt. Glarean oder Nietzsche wird man auch bei wohlwollender Betrachtung nicht als «Komponisten in Basel» bezeichnen können. Kurzum: Komponist in Basel ist offenbar ein Epitheton für jeden, der irgendwie – wie Mahler – über einen wenn auch noch so bescheidenen Kontakt an den Rhein verfügt hat. Je weiter dies in die Geschichte verlängert wird, desto waghalsiger wird es dann: Sammartini wurde allen Ernstes aufgenommen, weil man seine Werke in Basel gespielt hat; Zelenka, weil er wesentlich von Heinz Holliger wiederentdeckt worden sei. Wenn dies die Messlatte ist, dann wäre auch Beethoven ein Komponist in Basel, werden doch seine Werke dort kontinuierlich seit dem 19. Jahrhundert aufgeführt…

Bei so breitem Spielraum erstaunen dann die Defizite um so mehr: Richard Strauss fehlt ganz, dasselbe gilt für Richard Wagner, Hans von Bülow oder Selmar Bagge. Senfl wurde zwar aufgenommen, mit falschem Geburtsdatum, doch ist die Geburt in Basel allenfalls hypothetisch. Ganz anders bei Guillaume Dufay, der zwar nicht aus Basel stammt, aber dort für einige Zeit gewirkt hat, doch sein Name fehlt. Dass in Basel wohl der erste Druck mehrstimmiger Musik nördlich der Alpen entstanden ist, hätte in einem solchen Buch doch eines Hinweises wert sein dürfen. Die beigegebenen Texte sind unterschiedlich präzis geschrieben und zeugen nicht immer vom Willen, die Dinge auf dem knappen Raum wirklich zuzuspitzen. Am Ende legt man das Buch ratlos aus der Hand. Eine schöne und opulent verwirklichte Idee wurde verschlissen in der Laune konzeptioneller Beliebigkeit, die der Sache wahrlich nicht nützt. Schade.

vorgestellt von Laurenz Lütteken, Zürich

Mark Kunz & Beat Keusch (Hrsg.): «Komponisten in Basel. Siebzig musikalische Begegnungen aus fünf Jahrhunderten». Basel: Schwabe, 2008

6 Dasein einer jüdisch-christlichen Familie von 1802 bis 1948

Wer das Hannah-Arendt-Wort von der «Banalität des Bösen» einmal mehr illustriert haben möchte, muss diese beiden in jeder Hinsicht «gewaltigen» Bände zur Hand nehmen. Hier findet sich eine Hintergründigkeit und Doppelbödigkeit, eine zunächst nie ausgesprochene, dennoch stets anwesende Angst, Ruhe- und Heimatlosigkeit der wichtigsten handelnden Personen, spätestens ab 1940 die blanke Panik bei um so stärkerem Verdrängen der erlebten Seelen-, dann auch der brutal erlittenen physischen Not. Und dabei fing alles so harmlos, bürgerlich-glücklich an. Die Freude im stillen Winkel, der Stolz auf das Erreichte, der Wunsch, sich zu identifizieren, uneingeschränkt dazuzugehören.

Marthi Pritzker-Ehrlich (1944 – 1998), Schweizer Historikerin aus gutbürgerlicher Familie, hat Brief-, Bild- und andere Dokumente ihrer Vorfahren, die aus jüdischen, christlichen und «gemischten» Familien stammen, bis über die Ur-grosseltern-Generation hinaus zusammengetragen, aufbereitet, sorgfältig ediert und in zwei dicken Bänden zusammengestellt, die dann aufgrund des vorzeitigen Todes der Herausgeberin von ihrem Mann, Andreas Pritzker, für die Publikation fertiggestellt wurden.

Diese Dokumente geben einen tiefen Einblick in Alltagswelt und Tagesablauf der beteiligten Familien mit über halb Europa verstreuten Wohnsitzen und zeigen das verwickelte Beziehungs-

geflecht christlich-jüdischer Annäherung oder besser Absorption auf, das dann weiter kompliziert wird durch die auch sozial unterschiedliche Herkunft der verschiedenen Personen, die man in ihren Briefen teils über Jahrzehnte verfolgen kann. Der Originalwortlaut der Briefe und Dokumente lässt den historisch Interessierten viel begreifen. Anspielungen und Aufscheinen von Personen auch der grossen Politik, der grossen historischen Linien, das Hineinspielen von Prominenten, mit denen teilweise auch Kontakte bestanden, gibt immer wieder eine Rückversicherung der historischen Verortung. Dabei vermischt sich, wie soll es aber auch anders sein, «Banales», Interessantes, Lustiges, Trauriges, Furchterregendes, Hochdramatisches, mit – äusserlich – ruhig fortgehenden Alltagsberichten.

Die Dokumente geben einen tiefen Einblick in die Politik und die sie bestimmende Denk- und Geisteshaltung vor allem der Schweiz im Umgang mit (jüdischen) Flüchtlingen, die versuchten, ihr nacktes Leben zu retten. Grosses und Kleines, anständige, aufrechte Charaktere auf der einen, Teilnahmslosigkeit und Niederträchtigkeit auf der anderen Seite sind zu beobachten.

Nicht zuletzt zeigen die beiden Bände die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit von Einzelpersonen, in denen das Nicht-hinter-sich-lassen-Können der eigenen, zeitlich bedingten Vorurteilswelt mit einer menschlich grossartigen Gesinnungstreue und einem pflichtbewusst-märtyrerhaften Einsatz für mehr Humanität in tragischer Weise eine unauflösliche Verbindung eingegangen sind, etwa bei dem Zürcher Juristen Kurt Ehrlich (1904–1956), der einerseits seine jüdische Frau vor ihrer Verheiratung ihrem Judentum entfremdet, sie zur Taufe veranlasst, der antisemitische Fehleinschätzungen, die einen Goethe zur Quelle haben mögen, zustimmend nachvollzieht, der anderseits aber in seinen Briefen an den unsäglichen Nationalrat Tobler zu historischer Grösse heranwächst und zeitlos gültige Formulierungen findet, die es wert sind, aufbewahrt zu werden, wie jene vom 24. September 1938: «Müssen auch Schweizer, gerade Schweizer, der rohen Schaulust, die der Pöbel bei einer Exekution an einem Verurteilten empfindet, verfallen oder sich gar selbst zu Schergen eines seit bald dreitausend Jahren an einem kleinen, aber tapferen, begabten und fleissigen Volke sich vollziehenden furchtbaren Schicksals hergeben? Hut ab! wie Carl Spitteler es uns 1914 lehrte. Möge hier, wem nicht gegeben ist, mitzulieben, wenigstens das Mithassen sich verbieten und schweigen.»

vorgestellt von Michael Kühntopf, Widen

Marthi Pritzker-Ehrlich: «Gestörte Bürgerlichkeit. Zeugnisse einer jüdisch-christlichen Familie in Briefen, Dokumenten und Bildern» Band 1: 1802–1937, Band 2: 1938–1948. Brugg: munda, 2007

7 Grenzüberschreitungen der anderen Art

Die Küste ist ein Ort des Ankommens. Touristen langen hier an, sie baden und spielen Federball, sie sitzen am Strand und trinken Wein. In Tarifa suchen sie den Estrecho, den Wind, der unerbittlich über das Land fegt, und sie suchen ein Abenteuer. Oft halten sie Ausschau nach Flüchtlingen, die sich vor der Guardia Civil verstecken.

Tarifa liegt an Europas Grenze zu Afrika. Ina Boesch wählt diesen Ort als Einstieg für ihr Buch zu «Flucht und Hilfe», für das sie fünf Geschichten recherchierte. Etwa die von der französisch-schweizerischen Grenze, wo Anne-Marie Im Hof-Piguet im zweiten Weltkrieg Juden die Flucht in die sichere Schweiz ermöglichte, oder die von Ostrava in der Tschechoslovakei, wo Artur Radvanský, ebenfalls während des Nationalsozialismus, Flüchtlinge durch Gänge unter Tag ins sichere Polen führte, ehe er selbst zum Verfolgten und in mehreren Konzentrationslagern interniert wurde. Auch von aktuellen Geschichten weiss Ina Boesch zu berichten, wie derjenigen von Anni Lanz, die auf harmlos scheinenden Spaziergängen Flüchtlinge über schweizerisch-deutsche Grenze führte.

Die fünf Geschichten werden durch den Beweggrund geeint, Hilfe zu leisten. Die Fluchthelfer «handeln nach bestem Wissen und Gewissen, folgen einer inneren Überzeugung und verfolgen nicht unmittelbar eigene Interessen, sondern die Interessen anderer». In der Regel verlangen sie auch kein Geld oder nur so wenig, um die eigenen Kosten und Auslagen zu decken, wie im Fall von Dieter Thieme und Detlef Girrmann, die in den frühen 1960er Jahren Flüchtlinge über die innerdeutsche Grenze in die BRD brachten. Die beiden fälschten gemeinsam mit Bodo Köhler Pässe und prüften, an welchen Stellen die Grenze am besten zu überschreiten sei. Hier wird die genaue Recher-chearbeit Ina Boeschs deutlich, die über ausführliche Interviews an die Informationen gelangte.

Ina Boesch berichtet, dass es Fluchthelfer nicht gewohnt seien, über ihre Hilfe zu sprechen. Zum einen, da es zur Fluchthilfe gehöre, mit der eigenen Tätigkeit hinterm Berg zu halten, und zum anderen, da ihnen niemand zuhöre: «Die Welt ist häufig nicht begierig zuzuhören, denn wer zuhört, wird in seinem Selbstverständnis gestört und gezwungen, sich Gewissensfragen zu stellen: Wie hätte ich gehandelt, was hätte ich getan?» Indem das Buch Personen eine Stimme leiht, die auch heute noch das Menschenrecht auf Reisefreiheit ermöglichen, lässt es diese Gewissensfragen im Leser zurück.

vorgestellt von Urs Malte Borsdorf, Wien

Ina Boesch: «Grenzfälle. Von Flucht und Hilfe. Fünf Geschichten aus Europa». Zürich: Limmat, 2008

8 Gottfried Keller und Theodor Fontane, konsonant

Das Buch «Gottfried Keller und Theodor Fontane» versammelt zwölf Vorträge, die 2006 während eines Symposions zu Ehren der beiden Dichter in Zürich gehalten wurden. Das Thema «Keller und Fontane» scheint ein Wagnis, denn halbwegs verbürgt haben sich die beiden Dichter nur ein einziges Mal im gleichen Raum aufgehalten, nämlich am 3. Dezember 1852 in Berlin, ohne sich dabei wirklich zu begegnen. Und auch die gegenseitigen schriftlichen Bezugnahmen sind selten, zumal Keller und Fontane – obwohl beide 1819 geboren – literarisch eher ungleichzeitige Zeitgenossen waren. Nach dem Erscheinen der «Leute von Seldwyla» und des «Grünen Heinrich» Mitte der 50er Jahre war Keller, bis zu Paul Heyses Wiederveröffentlichung von «Romeo und Julia auf dem Dorfe» 1871, fast vergessen. Und als Keller 1890 starb, hatte Fontane «Effi Briest» und den «Stechlin» noch nicht geschrieben. So ist es auch nicht ganz überraschend, dass eine Beschäftigung Fontanes mit Keller belegt ist (nach dessen Tod sogar zunehmend, und zunehmend zustimmend), während bei Keller einzig der Bezug nachweisbar ist, dass er genau ein Buch Fontanes in seiner Bibliothek besessen hat (ein Verlegergeschenk), das er in Rückbesinnung auf seine Berliner Zeit vielleicht gelesen hat.

Ungeachtet dieser eher dürftigen Grundlage, kann in den Aufsätzen dieses Bandes, die den Brückenschlag zwischen dem Zürcher und dem Berliner Dichter versuchen, in der Regel schlüssig dargelegt werden, dass beide Autoren, trotz verschiedenen Lebenszentren in verschiedenen Gesellschaftssystemen, zu durchaus vergleichbaren Zeitdiagnosen kamen, die man erkenntnisfördernd aufeinander beziehen kann. Dabei sind es vor allem die Brüche, die diese Betrachtung reizvoll machen. Beide – Keller und Fontane – waren überzeugte Anhänger einer Realismustheorie, die platten Naturalismus ebenso ablehnte wie die romantisch-zeichenhafte Deutung der Welt. Sie wollten in ihren Werken nicht auf eine Sinnebene verzichten, obwohl ihnen die schwindende Bindekraft der Ideologien sehr bewusst war, die einst Sinn verbürgten, und sie dies ebenfalls zu gestalten suchten. Denn plakativer Bezug auf die Ideale alter Prägung wirkte angesichts der Gewinnmöglichkeiten in der sich entwickelnden Weltwirtschaft nur noch unglaubwürdig – im gründerzeitlichen und wilhelminischen Berlin genauso wie im direkt-demokratischen Zürich.

Die Aufsätze können die behandelten Themenkreise – die Problematik der realistischen Ästhetik, das Verhältnis der Dichter zum gesellschaftlichen Umbruch, die Editionspraxis – natürlich nur anreissen. Die meisten Autoren schaffen es jedoch in dem knapp bemessenen Raum von selten mehr als 20 Seiten, auch den fachlich nicht eingearbeiteten Leser von der Sinnhaftigkeit der Fragestellung und den ersten Lösungsangeboten zu überzeugen. Als Einführung in die Epoche oder zu den beiden Dichtern eignet sich der Band jedoch nicht. Dafür ist er zu exemplarisch. Und der Preis von 157 Franken für lediglich 250 Seiten ist deutlich am privaten Buchkäufer vorbeikalkuliert.

vorgestellt von Michael Mühlenhort, Gütersloh

Ursula Amrein & Regina Dieterle (Hrsg.): «Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne». Berlin: de Gruyter, 2008

9 Steine, Weg, Zeit, Ewigkeit

«Zeit»… der Begriff gehört den Physikern, Biologen, Historikern, Psychologen, Philosophen. Die Zeit ist objektiv messbar, sie ist exakt, berechenbar. Daneben gehört sie allerdings auch dir und mir – sie wird uns lang im Warten, sie steht still in der Angst, rennt im Glück davon und rieselt im Lauf des Lebens schnell und schneller durch das Stundenglas. Festhalten geht nicht, aber ein Schnippchen schlagen kann man ihr schon – festschreiben ist eine Möglichkeit. So versucht Ernst Halter in seinem neuen Roman «Jahrhundertschnee» nicht weniger, als das ganze 20. Jahrhundert auf Papier zu bannen.

Das ist erstmal eine Riesenfleissarbeit. «Mein Leben lang habe ich Landkarten und Millionen von Zahlen gesammelt, Sprachen-, Berufs-, Einwohner-, Kilometer- und Quadratkilometerzahlen von Inseln, Staaten und Flüssen, Städten, Dörfern und Verwaltungsbezirken.» Der Autor, 1938 in Zofingen geboren, bekennt sich denn auch als «Statistiker». Doch die Zahlen sind ihm nicht nur Hilfsmittel für eine Bestandesaufnahme; seine Inventur – so sein Anspruch – ist hoch aufgeladen mit Fleisch und Blut. Sein Zählwerk birgt Schicksale, birgt Verzweiflung und Tod, Freude, Bosheit, Tapferkeit… kurz: das ganze Arsenal menschlichen Lebens. Was auf der Liste ist, bleibt unverloren, bleibt, wie ein Stein um Stein gesetzter Weg, begehbar in alle Ewigkeit.

Ein Jahrhundert wird also besichtigt, sein Kriegs-, Katastrophen- und Alltagsgeschehen ins Auge gefasst. Da kommt viel Material zusammen, viel Recherchierarbeit und viel Wissen. Das ist beeindruckend. Aber da gibt es Sätze, bei der Schilderung einer alten Frau etwa, die ein Lächeln im Gesicht hat, «das schon keines mehr war». Es sind solche Stellen, regelmässig alternierend mit allgemein Zugänglichem, die den Fokus von aussen nach innen verlagern – vom Allgemeinen zum Individuellen. Es sind jene Buchseiten, die dem Roman den Nährstoff geben. Dazu gehört auch ein fiktives, blitzgescheit bissiges Streitgespräch zwischen Brecht und Canetti – zwischen Ideologiehörigkeit und Ideologieverwerfung. Oder ein Porträt des «Schlossherrn», Jean Rudolf von Salis, dessen Geistesgrösse und Menschlichkeit während mehrerer Begegnungen wiederauferstehen.

«Die Zeit», so J. R. von Salis, sei «das grösste und gefährlichste Geschenk an den Menschen». Ob wir sie nutzen (wie uns gelehrt wird) oder vertrödeln (wie uns verboten wird) oder ob wir sie einzufangen versuchen (und dabei immer einen Schritt zu spät kommen) – der Zeit gehört die Summe aller Schrecknisse an oder des Glücks. Vielleicht sollten wir ihr vermehrt ein Schnippchen schlagen. Und sie ignorieren – oder einfach vergessen. Beim Lesen, zum Beispiel.

vorgestellt von Silvia Hess, Ennetbaden

Ernst Halter: «Jahrhundertschnee». Zürich: Ammann, 2009

10 Robert Walser, zu gross für den Kaffeetisch

Als der Dichter Robert Walser am Weihnachtstag 1956 auf einer Wanderung stirbt, ist er von der literarischen Öffentlichkeit so gut wie vergessen. Die letzten 23 Jahre seines Lebens hat er in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau im Kanton Appenzell Ausserrhoden verbracht, und das nicht freiwillig. «In seine Bevormundung einzuwilligen lehnt Patient ab», heisst es in einem Gutachten, das der Leiter der Anstalt, der Psychiater Otto Hinrichsen, im Januar 1934 vorlegt.

Mit der Überführung nach Herisau endet Walsers Biographie als Dichter; der Verfasser von Romanen wie «Geschwister Tanner» oder «Der Gehülfe» und unzähligen Prosastücken schreibt kein Wort mehr, sondern verbringt seine Zeit «Papiersäcke klebend, Schnüre drehend und Stanniol verlesend». Regelmässig besucht ihn der Schriftsteller Carl Seelig, dessen Erinnerungsband «Wanderungen mit Robert Walser» bereits 1957 erscheint, ohne dass es jedoch zu einer wirklichen Wiederentdeckung seiner Werke kommt. «Er ist nach wie vor rätselhaft. Ein verwildertes literarisches Grab», schreibt Martin Walser 1963 in seinem Aufsatz «Alleinstehender Dichter» über den Namensvetter und empfiehlt ihn als Thema für germanistische Doktorarbeiten. Die erste dieser Arbeiten hatte der Rundfunkredaktor und spätere Herausgeber der gesammelten Werke, Jochen Greven, schon 1960 geschrieben. Dass Robert Walser heute Klassikerstatus geniesst, ist im wesentlichen sein Verdienst.

Denn ein «Literaturgerücht» (Martin Walser) ist der Dichter schon lange nicht mehr. Gleich zwei neue Werkausgaben bringen die Walser-Philologie auf den neuesten Stand der Wissenschaft, und als originelles Dissertationsthema dürfte er ausgedient haben. Auch an schönen biographischen Darstellungen besteht kein Mangel. Erschien erst vor drei Jahren Jürg Amanns erzählender Essay «Auf der Suche nach einem verlorenen Sohn» in einer üppig bebilderten neuen Ausgabe bei Diogenes, so liegt nun bei Suhrkamp ein mehr als 500 Seiten starker und mehrere Kilo schwerer Band vor, den Bernd Echte, der langjährige Leiter des Zürcher Robert-Walser-Archivs, zusammengestellt hat. Hier finden Walser-Leser alles, was sie auch nur irgend interessieren könnte. Im März 1925 beispielsweise sah Robert Walser, der wie der oft mit ihm verglichene Kafka ein eifriger Kinogänger war, die Verfilmung von Selma Lagerlöfs Roman «Gösta Berling» mit Greta Garbo. Und natürlich kann Bernd Echte sowohl mit der entsprechenden Kleinanzeige aus dem Berner «Bund» als auch mit einem Szenenfoto aufwarten. Eine andere Abbildung zeigt das hagere bebrillte Gesicht des «Schriftstellers und Astrologen»

Alfred Fankhauser, der seit 1920 in Bern wohnte, wo er Kontakt zu Robert Walser hatte.

Man sieht, nicht alle Informationen, die hier zusammengetragen wurden, sind gleichermassen bedeutend. Doch man möchte sie, hat man einmal einen guten Platz für den Prachtband gefunden und zu blättern begonnen, nicht mehr missen. Selbst das Foto des leutselig grüssenden deutschen Kaisers Wilhelm II., den Walser als «etwas zu gutmütig, zu leicht in billige Entzückung geratend» charakterisiert, betrachtet man in diesem Zusammenhang mit Anteilnahme. Und wünscht sich, Robert Walser, dessen Neigung, sich klein zu machen, kaum einem unterentwickelten Selbstbewusstsein entsprang, könnte der nachträglichen Reverenz in Form dieses üppigen Bilderbuches ansichtig werden.

vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

Bernd Echte (Hrsg.). «Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008

11 Peter Stirner in Schilten

«Ein Leben», sagte der alte Thomas Mann mit Blick auf Heinrich Kleist, «braucht nicht 80 Jahre zu währen, um auf seine Art voll bestanden und siegreich vollendet zu sein». Und so war Hermann Burgers Suizid mit einer Überdosis Schlaftabletten am 28. Februar 1989 seltsam konsequent. Denn Todes- und Selbstmordthemen durchziehen sein ganzes Werk, alles lebt immer dem Friedhof zu. Seine Erzählung «Der Schuss auf der Kanzel» schliesst mit dem Satz: «Schriftsteller sein heisst Sprache haben über den Tod hinaus.» Auf die Frage: «Wie möchten sie sterben?», hatte Burger 1983 geantwortet: «Definitiv». Dass er nach seinem Tod tatsächlich schnell in Vergessenheit geriet, ist indes eine krasse Ungerechtigkeit. Vor allem aber ist es eine Selbstvergessenheit, ein Schaden, den die Nachwelt sich selbst zufügt, wenn sie meint, einen ihrer Grossen nicht vermissen zu müssen. Denn der 1942 im aargauischen Menziken geborene Burger zählte zu den herausragenden Schriftstellern des ausgehenden 20. Jahrhunderts und zu den bedeutendsten Autoren der Schweiz überhaupt.

Zwanzig Jahre nach seinem Tod wird sein bis heute berühmtestes Werk, der 1976 erschienene Débutroman «Schilten», neu aufgelegt. Damals ein Ereignis, erweist sich der Roman, den der Autor für seinen besten hielt, weiterhin als Meisterwerk. Es geht um den gescheiterten Dorfschullehrer Peter Stirner in Schilten, einem abgelegenen Dörfchen im hintersten Aargau, wo die Turnhalle praktischerweise auch als Abdankungshalle dient. Ihm, der sich Armin Schildknecht nennt, legen seine Vorgesetzten «absurde Umtriebe» zur Last. Er rechtfertigt sich in einem langen Schulbericht, einer Vierhundert-Seiten-Suada, mit monologischen Fantasien. Seine Rechtfertigungsschrift ist sowohl pädagogisch-existentieller Hilfeschrei wie auch Anklage, eine trotzige Brandrede gegen die Obrigkeit der «Inspektorenkonferenz» und alle Autorität.

Der Tod ist präsent in jedem Satz. Das Schulhaus, in dem Schildknecht unterrichtet, liegt direkt neben dem Friedhof, und Friedhofschwermut legt sich über alles Leben und Lernen. Er weiss denn auch nicht recht, dieser Lehrer, auf was anderes als den Friedhof er sein Schulgut vorzubereiten hätte. Einst wollte er es besser machen als Vorgänger Haberstich, der die Schüler mit ausgestopften Vögeln quälte. So erfindet er immer neue Fächer, insbesondere die «Totenkunde». Die Realien werden durch «Surrealien und Irrealien» ersetzt. Nicht fürs Leben wird gelernt, sondern für den Nebel. Längst hat der Schulmeister keine Klasse mehr, längst ist er aus dem Dienst entlassen. In seinem leeren Schulhaus gefangen, hält er dennoch Tag für Tag Unterricht vor leeren Bänken und diktiert der imaginären «Einheitsförderklasse» in die nebelfesten Generalsudelhefte. Er fühlt sich einsam, unbeachtet, im Niemandsland lebendig begraben. Seine Krankheit ist nicht spezifisch, sondern fundamental und generell, und so ist der Roman auch eine einzige Krankengeschichte.

Einmal mehr zeigt sich, dass grosse Literatur mit wenig «Stoff» auskommt. Da schreibt einer überragende Literatur, obwohl er über Dutzende von Seiten stofflich nicht vom Fleck kommt. Schilten ist eine einzige Ohrfeige für die stupide These, in der kleinen Schweiz, dem «Diskurs in der Enge» (Paul Nizon), sei welthaltige Literatur nicht möglich. Schildknechts Prosa ist verwegen angereichert mit Fremdwörtern, Fachausdrücken und Neologismen. Seine Sätze wollen oft kein Ende nehmen, Sprache gegen den Tod; gegen ihn, scheint es, hilft nur Kunst. Magisch bannt sie auf Zeit das Verschwinden. In seinem universalen Lebens- und Todeswiderspruch gelingen dem Erzähler die wunderbarsten Sätze. Ein Glück, dass dieser frühe Wurf nun wieder lieferbar ist.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Zürich

Hermann Burger: Schilten, hrsg. von Peter von Matt. Zürich: Nagel und Kimche, 2009

12 Und in der Ferne schimmert der See

Anthologien sind immer leicht zu kritisieren. Der fehlt und jene fehlt auch, von diesem Autor hätte man andere Texte auswählen sollen, und überhaupt. An dieser Anthologie ist so gut wie nichts zu kritisieren. Doch: man hätte an Zsu-zsanna Gahse denken können, die nicht weit vom See entfernt lebt und manch Schönes über ihn geschrieben hat. Sei’s drum! Die beiden Herausgeber haben mit diesem Buch Grossartiges geleistet, und dass das gar nicht so einfach war, macht das kenntnisreiche, elegant geschriebene Nachwort von Hermann Kinder deutlich. «Es gibt keine Bodensee-Literatur, die sich in Stil, Formen, Themen, auch nicht in den Bedingungen des Schreibens und des literarischen Lebens einheitlich präsentierte», warnt Kinder vor allen auf Harmonie gestimmten Erwartungen. «Die gemeinsame Landschaft bringt kein einheitliches Denken, Fühlen, Ausdrücken hervor.» Das liege daran, dass es zwar eine geographische, aber – ein Ergebnis der letzten zwei Jahrhunderte – keine kulturelle Einheit namens «Bodensee» gebe. Wie und warum das so gekommen ist, wird in Kinders die historische Entwicklung differenziert nachzeichnendem Nachwort plausibel erklärt.

Die erste von drei Abteilungen, die mit einem knappen «Lob der Reichenau» von Ermenrich von Ellwangen, eines vermutlich von 814 bis 874 unter anderem auf der Reichenau lebenden gelehrten Mönchs, und dem Gedicht «In der Fremde» aus der Feder eines Konrad von Landegge beginnt, versammelt Texte bis ins Jahr 1900. Oswald von Wolkensteins «Schimpflied auf Überlingen» ist dabei: «Wer seinen Beutel leichtmachen will, / der braucht, damit ihm das gelingt, / sich nur nach Überlingen durchzufragen…» Ein Konstanz-Text von Erasmus von Rotterdam folgt, dazu der Bericht über eine Reise von Schaffhausen bis Isny aus der Feder eines gewissen Michel de Montaigne.

Herder, Goethe, und Hölderlin sind vertreten, ein Auszug aus Ulrich Bräkers «Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg» (1789), und selbstverständlich Gustav Schwabs immer noch faszinierender «Reiter». Annette von Droste-Hülshoff, Eduard Mörike,

Franz Michael Felder, Rainer Maria Rilke mit seiner wunderschönen «Vision» («Ich geh durch die greise, nächtige Stadt, / will sehen, was Konstanz für Träume hat») – und schon ist man in der zweiten Abteilung, bei den nicht mehr lebenden Dichtern des 20. und 21. Jahrhunderts, zu denen nun auch schon Robert Gernhardt, Werner Dürrson und Thomas Kling zählen. Besonders interessant, neben modernen Klassikern wie Hermann Hesse oder Stefan Zweig, sind die weniger bekannten Texte von Norbert Jacques, Jacob Picard oder Carl Seelig. Und die zeittypisch sozialkritische, als literarisches Zeugnis aber weiterhin gültige Reportage von Niklaus Meienberg über den wundersamen Campingplatz von Wagenhausen am Rhein.

Teil drei wird von 23 Gegenwartsautoren bestritten. Einige muss man hervorheben, weil sich der Lesegenuss, den diese Anthologie bereitet, ganz wesentlich ihren Texten verdankt: Martin Walser, Otto Jägersberg, Manfred Bosch, Arnold Stadler, Maria Beig, Marc Buhl, Kurt Bracharz, Peter Renz und Peter Salomon. Genug! Der löbliche Verlag, in dem zuvor schon «Albgeschichten» und «Schwarzwaldgeschichten» erschienen waren, hat seinem ambitionierten Programm einer «kritischen Heimatkunde» einen wichtigen Mosaikstein hinzugefügt – bestens geeignet zum Verschenken, noch besser geeignet zum angeregten Sinnieren.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Jochen Kelter & Hermann Kinder (Hrsg.): «Bodenseegeschichten». Tübingen: Klöpfer & Meyer 2009

13 Thurgau? – Wag es getrost!

Ohne die Liebe zu «Land und Leuten», ohne eine «feinere Art von Natur- und Landschaftssinn» lasse sich die zugegebenermassen spröde Schönheit der Mark Brandenburg nicht erkennen. Das jedenfalls behauptete Theodor Fontane. Wieviel leichter hat es Albert M. Debrunner da doch mit seinem Gegenstand. Um Nachsicht für eine erkennbar verspätete Kultur braucht er seine Leser nämlich nirgends zu bitten. Schliesslich ist der Thurgau seit je Teil des uralten Kulturraumes rund um den Bodensee. Als eine profilierte Literaturregion hat man ihn dennoch bisher nicht unbedingt wahrgenommen. Mit seinen literaturgeschichtlichen Wanderungen zwischen Kreuzlingen, Arbon und Frauenfeld tritt der Verfasser nun an, dies zu ändern. Und es gelingt ihm auf eine sehr sympathische Weise.

Mag man auch darüber streiten können, ob kantonale Grenzen den kulturgeschichtlichen Realitäten am Ende nicht doch zuwiderlaufen, hier erweisen sie sich als entschieden zweckdienlich, weil wahrnehmungsschärfend. Ohne Berührungsängste zeigt Debrunner Dichter und Dichterin in der Thurgauer Landschaft: wenig verwunderlich also, dass sich der für solche Zwecke sozusagen obligatorische Schweizreisende Goethe gleich mehrfach findet. Wichtiger aber für dieses Vorhaben sind wohl die Porträts jetztzeitiger Verleger und Autoren und dort ansässiger Exilanten des 19. und 20. Jahrhunderts.

Bei all den grossen Namen geraten dem Verfasser auch eher regional bedeutsame Grössen, wie die vielgelesene Maria Dutli-Rutishauser, oder literarische Zirkel, wie die um Emanuel Stickelberger oder das Ehepaar Weidenmann in Kesswil, niemals aus dem Blick, ebenso wenig im übrigen wie der Uttwiler Urstandort von Eduard Mörikes legendärem «Turmhahn». Wie schon Hugo von Hofmannsthal vor bald einhundert Jahren geht Debrunner dabei davon aus, dass Literatur untrennbar an «Landschaft und Luft» «hängt» und von beiden unverkennbar geprägt wird. Damit spürt er der literarischen Provinz im positiven Sinne nach. Das Bewahren von regionalem Wissen, wenn dieses so sachkundig aufbereitet wird wie hier, ist dabei womöglich heute wichtiger denn je. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die akademische Germanistik, eingedenk ihrer diesbezüglichen ideologischen Fehltritte zwischen 1918 und 1945, weitestgehend von diesem Arbeitsfeld zurückgezogen hat und dazu neigt, es als eine Art von vorwissenschaftlichem Zeitvertreib geringzuschätzen. Der liebevoll gestaltete, interessant illustrierte und durch reiche Literaturangaben auch zum intellektuellen Nachvollzug auffordernde Band lädt zum Flanieren durch Ostschweizer Gefilde. Mit Fontane möchte man daher sagen: «Wag es getrost, und du wirst es nicht bereuen.»

vorgestellt von Anett Lütteken, Bern

Albert M. Debrunner: «Literaturführer Thurgau. Frauenfeld». Frauenfeld: Huber, 2008

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