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Schweizer Autoren in Kurzkritik XIX

12 Bücher, vorgestellt in der neunzehnten Folge der «Schweizer Autoren in Kurzkritik». Fortsetzung folgt.

1 «Hugo was here»

Etwas trocken war eine «intellektuelle Autobiographie» angekündigt worden; aber der Leser, zumal einer, der Loetschers Bücher kannte, wusste, dass kein Papier rascheln würde und freute sich auf Leseschmaus, auf Loetscher-Geschichten: unterhaltsame, kluge, poetische, geistsprühende – vorläufige – Lebenserinnerungen eines geographisch und intellektuell in alle Richtungen reisenden Autors.

Loetschers Tod kurz vor Erscheinen des Buches verschiebt die Perspektive auf die Lektüre; nun ist die Lebensbilanz endgültig, beginnend mit dem Bekenntnis: «Wie alle, bin ich ungefragt auf die Welt gekommen. Ich gehöre zu denen, die versuchten, daraus etwas zu machen.» Mit Bekenntnissen, unerwartet persönlichen, kennzeichnet er die Marksteine seines Lebens; sie sind der rote Faden, der das Buch durchzieht und es strukturiert. Der Bub, von seiner Mutter zu etwas «Besserem» bestimmt, «musste etwas bieten, was die anderen nicht hatten… – zum Beispiel ein Buch mehr gelesen haben: aus Mitschülern, die nicht wollten, dass ich dazugehöre, solche machen, die ihrerseits nicht dazugehören.»

Es war das «nie ganz Dazugehören», das aus ihm den Intellektuellen machte mit geschärftem Blick für das, was sonstwo und sonstwie nicht dazugehörte; das ihn zu seinen Reisen trieb, von denen er erzählt, um letztlich zu analysieren – etwa die neue Kolonialisierung, wenn er die Aussteiger aus der Zivilisation des Westens in den Blick nimmt, die in «billigen» Ländern «preiswert» leben und sich dort chic in ihren verschlissenen Jeans und löchrigen T-Shirts barfuss zwischen die Minenarbeiter in Lumpenkleidern begeben.

Überraschend freimütig bekennt sich Loetscher zu seiner Homosexualität, erzählt immer wieder von seinen Liebesbeziehungen zu Männern, seine Gefühle ironisch brechend: Einen unbehauenen Sarkophag, den er irgendwo hinter einem Pinienhain zwischen einem Hühnerstall und einem Geräteschuppen entdeckt, widmet er dem unbekannten Freundespaar, zwei Männern, die sich umarmen.

Als Selbsterfahrung ist dies alles zu lesen. Da hat sich einer geradezu zwanghaft immer wieder zu Reisen aufgemacht, um «im Bereich des Möglichen das Menschen-Mögliche aufzuspüren». Jemand hat kürzlich gezählt: Loetscher ist mehr gereist als alle Schweizer Schriftsteller zusammen. Dass ihm das Reisen schliesslich zur Qual wurde und Zurückkommen Erleichterung bedeutete, auch das bekennt er: «In späteren Zeiten eine Rückkehr, bei der ich hinter der Haustür den Koffer zum Teil auspackte, damit das Gepäckstück fürs Treppensteigen leichter wurde.» Wer könnte sein Aufatmen beim Benutzen seiner eigenen Schlüssel – endlich wieder einer für die Haustür, einer für die Wohnungstür und ein kleiner für den Briefkasten – statt der «Plastic-Schlüssel-Cards» nicht nachfühlen.

«Ich habe meine Religion verloren, ich habe keinen Himmel, ich habe kein Nachher. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als diese Welt gernzuhaben.» Wie gern er diese Welt hatte, bezeugen seine Lebensgeschichten, auch wenn – oder gerade weil – sie konzentrisch um den Tod kreisen. So wünschte er sich, dass seiner Asche ein Buch mitgegeben werde, am liebsten eines der Wörterbücher, die er sammelte. Oder, für den Fall, dass er begraben würde, wünschte er sich ein Steinmännchen, wie er selbst immer gern welche gesetzt und auf seinen Reisen in menschenleeren Gegenden entdeckt hatte – als Zeichen, dass doch ein Mensch da gewesen sei. Sein letztes – so stellte er sich vor – könnte eine Art Stele sein, «darauf Jahreszahlen, die über den informieren, der für die Dauer seiner Verwesung ungefragt auf einem Friedhof Platz beansprucht: ‹Hugo was here.›»

Und weil Hoffnung besteht, dass ein Buch immer noch ein Gütezeichen ist und man sich nicht entschuldigen muss, ein Buch gelesen zu haben, lesen wir nun Hugo Loetschers Bücher wieder, insbesondere dieses, das von demjenigen erzählt, der immer eines mehr gelesen hat.

vorgestellt von Ute Kröger, Kilchberg

Hugo Loetscher: «War meine Zeit meine Zeit». Zürich: Diogenes, 2009

Bücher Schweizer Autoren in Kurzkritik XIX

2 Na dann mal los

Der Tod ist in Urs Widmers neuem Roman allgegenwärtig: als symbolschwere Spielfigur eines schwarzen Fährmanns, als mächtiger Saurierknochen oder in Form einer Handvoll Toter, die als unsichtbare Wiedergänger unter den Lebenden wandeln. Dennoch ist die Erzählung von Herrn Adamson kein ernstes oder gar düsteres Buch. Ganz im Gegenteil. So derb-komisch und grotesk überdreht hat schon lange kein Autor mehr über den Tod geschrieben. Was nicht heissen soll, dass in Widmers Erzählung nicht auch nachdenkliche Töne zu finden sind. Dafür sorgt allein die Rahmenerzählung, in der der 94jährige Ich-Erzähler im Jahr 2032 Rückschau auf sein Leben hält und für seine Enkelin Anni seine Erlebnisse mit Herrn Adamson auf Band spricht.

Die Geschichte beginnt im Mai 1946 im verwilderten Garten eines Basler Hauses, in dem der Erzähler an seinem achten Geburtstag auf ein koboldhaftes, hageres Männchen trifft, das sich ihm als Herr Adamson vorstellt. Schon bald wird klar, dass Herr Adamson auf Jahr, Tag und Stunde exakt in dem Augenblick gestorben ist, in dem der Ich-Erzähler geboren wurde. Nur deshalb kann der Erzähler ihn sehen und mit ihm sprechen, für alle anderen bleibt Herr Adamson unsichtbar. Zudem kommt ihm als Vorgänger die besondere Aufgabe zu, seinen Nachfolger dereinst sicher ins Totenreich zu begleiten, bevor sich das Tor zur Welt endgültig schliesst. Dass Herr Adamson um etliche Jahrzehnte zu früh dran ist, hat mit einer besonderen Mission zu tun, für die er die Hilfe seines Nachfolgers braucht. Es geht dabei um den Troja-Entdecker Heinrich Schliemann und dessen junge Frau Sophia, um den legendären Goldschmuck der Klytämnestra sowie um einen illegitim gezeugten Sohn und dessen spätere Tochter Bibi. Darin eingewoben ist der Freiheitskampf der Navajo-Indianer im amerikanischen Arizona und die Aufklärung eines von Weissen an den Indianern begangenen blutigen Massakers im Jahr 1938, das sich ebenfalls zeitgleich mit der Geburt des Erzählers ereignete.

Die genaueren Zusammenhänge dieser tollkühn erzählten Geschichte wiederzugeben, würde den Rahmen jeder Rezension sprengen und den Leser zudem um sein Lektürevergnügen bringen. Es sei aber verraten, dass es dem betagten Erzähler noch so eben gelingt, seine Geschichte zu Ende zu bringen, bevor Herr Adamson auch schon um die Ecke lugt. In seiner vor zwei Jahren in Frankfurt gehaltenen Poetikvorlesung erinnerte Urs Widmer daran, dass der Tod der Literatur immer im Nacken sässe und uns Leser mahnte, das Leben nicht zu verpassen. Schließlich ereilt uns alle, über kurz oder lang, der freundlich-bestimmte Ruf des Herrn Adamson: «Wir müssen jetzt.»

vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld

Urs Widmer: «Herr Adamson». Zürich: Diogenes, 2009

3 Er redet und redet und redet

Man nimmt sich ein paar Tage frei, schaut sich das Städtchen seiner Kindheit an, lässt Erinnerungen aufleben – was könnte normaler sein? Wer freilich sich dabei als angesehener Photograph ausgibt und dennoch in einer offenen Bootshütte nächtigt, die er notdürftig mit ein wenig Schilf ausgelegt hat, erweckt doch ein wenig Misstrauen. Wer dann in dieser Hütte spricht und spricht und spricht, damit nämlich die Marder nicht kommen, dem glaubt man wenig.

Schnell wird klar, dass der Landstreicher lügt, aus dessen Perspektive Otto F. Walter seinen Roman «Herr Tourel» überwiegend erzählt, der jetzt in einer Neuauflage erschienen ist, knapp ein halbes Jahrhundert nach seiner Erstveröffentlichung. Immer wieder kündigt dieser Tourel an, die Behauptungen seiner Verleumder zu widerlegen. Immer wieder liefert er dabei genau die Informationen, die sie bestätigen. Bald weiss man, welches Unheil Tourel ein Jahr zuvor in dem fiktiven Ort angerichtet hat, der durchaus zurecht den Namen Jammers trägt. Seine Erzählungen von der monatelangen Herumtreiberei, die zwischen den beiden Aufenthalten liegt, machen schnell klar, dass da kein anspruchsvoller Photograph sich einige Städte auf der Suche nach einem geeigneten Atelier anschaut. Vielmehr hält sich ein nicht besonders sympathischer Kleinkrimineller durch eine Reihe von Gemeinheiten über Wasser.

Da redet sich einer, der sich verteidigen will, um Kopf und Kragen, und das Vergnügen ist, ihn dabei zu durchschauen. Geredet wird überhaupt viel. Tourel gibt auch das wieder, was er auf seinen Gängen durch Jammers hört. Dies sind die sprachlich vielleicht stärksten Passagen des Romans: wie Walter ohne plumpen Naturalismus den Gestus des Mündlichen nachgestaltet, wie er allein durch den Rhythmus ihrer Sprachen die Charaktere vermittelt, das ist beispielhaft. Dies ist wohl der Grund, weshalb man diesem Tourel über fast 300 Seiten zu folgen bereit ist. Er ist ein autoritärer Hallodri (eine gar nicht so seltene Kombination), er ist Rassist, Dieb, Brandstifter, gewissenloser Verführer – aber er weiss zu beschreiben, die Menschen, die Situationen und den Ort. So lässt Walter seinen Tourel das Zementwerk schildern, das optisch und sozial die Stadt beherrscht. Die düster-schöne Fabrik gerät dabei so überzeugend wie man auch den Staub, den sie erzeugt und der den ganzen Ort bedeckt, beinahe vor sich sieht. Die sozialen Verhältnisse in der Produktion erscheinen ebensogenau: das Oben und Unten, und wie eine spontane, dezidiert antipolitische Revolte – in der Tourel eine unklare, doch jedenfalls destruktive Rolle spielt – zu einer Verschlechterung der Zustände führt.

In einem instruktiven Nachwort gibt Peter von Matt einen Überblick zu den verschiedenen Zeitebenen des Romans und informiert über die zeitgenössische Rezeption. Nachdem 1959 Walters Erstling «Der Stumme» von Kritik und Lesern beifällig aufgenommen worden war, stiess 1962 «Herr Tourel» auf einen eher reservierten Empfang. Zu hoch waren die Ansprüche, die der Autor an sein Publikum stellte.

Heute gelesen, leuchtet das nur teilweise ein. Die inneren Monologe einer von Tourel verführten Frau sind zwar zuweilen mühsam zu lesen, auch scheint hier die Erzählperspektive nicht immer ganz konsequent. Wirken diese Abschnitte wie eine mittlerweile altbacken gewordene Moderne, so stellen die harten Schnitte in der Wiedergabe des städtischen Geredes heute keine Schwierigkeit mehr dar. Die Neuausgabe bietet die Chance, ein seinerzeit unterschätztes Buch kennenzulernen.

vorgestellt von Kai Köhler, Berlin

Otto F. Walter: «Herr Tourel». München: Nagel & Kimche, 2008

4 Gräfin und Patrizier im Plauderton

In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts war der Basler Historiker und Diplomat Carl J. Burckhardt eine weit über die Landesgrenzen hinaus bekannte Persönlichkeit. Sein Briefwechsel mit Hugo von Hofmannsthal fand viele begeisterte Leser, und seine «Danziger Mission», der Bericht über seine Tätigkeit als Hochkommissar des Völkerbundes, galt als wichtiges historisches Dokument. Die Qualität von Burckhardts Werk war indes nie unbestritten. Im Jahre 1991 äusserte Paul Stauffer, ein Diplomat der jüngeren Generation, Zweifel an der Glaubwürdigkeit der «Danziger Mission». Diesen Zweifeln trat Marion Gräfin Dönhoff in der Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit» vehement entgegen. Sie sprach von «absurden Vorwürfen» und brachte Stauffers Kritik in Verbindung mit der «puristischen Lesebuch-Demokratie» der Schweizer, die es nicht ertragen könnten, wenn einer über den Durchschnitt hinausrage.

Carl Jacob Burckhardt und die Gräfin kannten sich seit der Zeit, als der Schweizer in Danzig und die Gräfin auf ihrem Familiensitz Schloss Friedrichstein in Ostpreussen lebte. Nach Flucht und Kriegsende trat Marion Dönhoff in die Redaktion der «Zeit» ein, und Burckhardt wirkte als Gesandter in Paris. Während die Gräfin zur Chefredaktorin und Herausgeberin aufstieg und zur grande dame des deutschen Journalismus wurde, lebte der achtzehn Jahre ältere Burckhardt auf seinem Landhaus in Vinzel über dem Genfersee und schrieb Essays zu Geschichte und Literatur, sowie Erinnerungen unter dem Titel «Memorabilien».

Während mehr als zwei Jahrzehnten standen Burckhardt und die Gräfin Dönhoff in Briefkontakt. Eine Auswahl dieser Briefe, den Zeitraum von 1952 bis 1974 umfassend, ist nun vom deutschen Historiker Ulrich Schlie herausgegeben worden. Es handelt sich um eine vorzügliche Edition, mit Kennerschaft eingeleitet und kommentiert, mit nützlichen Kurzbiographien ergänzt. Doch lohnen diese Briefe die Lektüre? Meist handelt es sich um Grussbotschaften ohne literarischen Anspruch und ohne sonderliche gedankliche Tiefe. Man erkundigt sich nach dem gegenseitigen Befinden und kommentiert die Zeit-ereignisse. Interessant ist die Korrespondenz dagegen als spontanes und ungeschminktes Zeugnis des Dialogs zweier prominenter Persönlichkeiten, die sich in ihrer patrizisch-aristokatischen Herkunft nah verwandt waren, den Herausforderungen der Gegenwart jedoch ganz unterschiedlich begegneten und die politischen Entwicklungen in vielem abweichend beurteilten.

Burckhardt war ein konservativer, kulturpessimistischer Geist, der den Untergang des Abendlandes herannahen sah, der dem monar-chistischen Ständestaat nachtrauerte und der Demokratie und dem von ihr erzeugten «Intellektuellenproletariat» skeptisch begegnete. Der Gräfin Dönhoff dagegen gelang es, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen und als politische Publizistin am Aufstieg der Bundesrepublik, an der Aussöhnung mit Polen und an der Vereinigung der getrennten deutschen Staaten mit beeindruckender Tatkraft mitzuwirken. In diesem Gegensatz von Charakter und Haltung, der eine enge freundschaftliche Beziehung nie gefährdete, liegt der Hauptreiz dieser Korrespondenz.

vorgestellt von Urs Bitterli, Zürich

Ulrich Schlie (Hrsg.): «Marion Gräfin Dönhoff und Carl Jacob Burckhardt. ‹Mehr als ich Dir jemals würde erzählen können›». Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008

5 Yoknapatawpha und der Vierwaldstättersee

Solide und leserfreundlich aufgemacht, 423 Seiten stark, mit zahlreichen erläuternden Abbildungen versehen und mit 17 aufschlussreichen Faltkarten garniert, präsentiert sich die überarbeitete Fassung der Basler Dissertation von Barbara Piatti. Ihre grundgescheite Studie ist ein engagiertes Plädoyer für eine «Geographie der Literatur». Simpler Dichtertourismus ist fortan passé.

Die Ausgangsfrage ist einfach: «Wo spielt Literatur und warum entscheidet sich ein Autor dafür, seine Geschichte an einem bestimmten Ort spielen zu lassen – oder auch nicht?». Literaturgeographie muss darauf bestehen, dass es eine referentielle Beziehung gibt zwischen inner- und ausserliterarischer Wirklichkeit. Ist das so? Auf die Frage «Wie verhält sich der literarische Raum zum empirischen?» gibt es keine einfache Antwort. Doch die Autorin weist überzeugend nach: Literatur schafft es immer wieder, auf ganz unterschiedliche Art und Weise freilich, einen real existierenden Ort oder eine Landschaft in einen fiktionalen Raum von höchster Symbolkraft zu transponieren. Das schlüssig zu belegen, ist schon viel. Aber Piatti will noch mehr, sie möchte eine «Konzeption von vergleichender Literaturgeschichte unter räumlichen Gesichtspunkten» entfalten, die die seit rund hundert Jahren im deutschsprachigen Raum existierende Literatur- und Literatengeographie von Grund auf revolutioniert.

Das klingt recht akademisch und ist es streckenweise auch. Wer kulturwissenschaftlichen Debatten generell wenig abgewinnen kann, darf die Lektüre auch auf Seite 123 beginnen. Da wird es dann richtig konkret. Als Modellregion dient Piatti die Gegend um den Vierwaldstättersee und das Gotthardmassiv, einer der «Hauptorte auf der europäischen Landkarte der Literatur» – der, vertraut man ihrer Zählung, zwischen 1477 und 2004 in nicht weniger als 150 literarischen Texten eine wichtige Rolle spielt. Fünf von ihnen werden genauer betrachtet: Friedrich Schillers «Wilhelm Tell» (1804) natürlich, der Roman «Auch Einer» (1878) des allmählich wieder ins kulturelle Bewusstsein rückenden Friedrich Theodor Vischer, «Albin Indergand» (1901) von Ernst Zahn, «Ursprung / Die Sendung» (1933) von Meinrad Inglin und «Pilatus» (2003) von Christina Viragh.

Der Schauplatz der Werke wird erkenntlich als eine im Text oft wie ein eigenständiger Protagonist agierende «Grauzone» zwischen Realität und Fiktion. Und weil sie gemeinsame Handlungsräume aufbauen und sich darin wechselseitig spiegeln, sich ergänzen oder einander widersprechen, stehen plötzlich Texte aus verschiedenen Literaturen und Epochen nebeneinander, «die sonst nie in einem Zusammenhang gesehen würden». Das eröffnet in vielen Fällen ganz neue Perspektiven, nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für den Literaturtourismus – für Experten beider Bereiche ist die Lektüre dieses Buches Pflicht.

Barbara Piattis «Hilfswissenschaft der Literaturgeschichte» kann aber auch mit Texten umgehen, die wie «Harry Potter» an offensichtlich gänzlich erfundenen Schauplätzen spielen, deren Autoren imaginäre Räume wie «Yoknapatawpha County» durch detaillierte Karten anschaulich machen, oder die geographische Realien kaum beachten und falsch darstellen wie Kafkas «Verschollener». Aufregend! Wissenschaft könnte gerne öfter so daherkommen.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Barbara Piatti: «Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien». Göttingen: Wallstein, 2008

6 Cla Biert, rätoromanisch und übersetzt

«Für die Übersetzung von ‹Pangronds› danke ich Dir. Sie vereinfacht mir die Arbeit. Denn drucken konnte man dies nicht. Gell, Du weisst, dass es nicht nur aus persönlichem Ehrgeiz ist, dass ich versucht habe, eine bessere Übersetzung zu verfassen?», schrieb Andri Peer um 1950 seinem rätoromanischen Schriftstellerkollegen Cla Biert (1920–1981). Es ging um die ersten deutschsprachigen Veröffentlichungen von Erzählungen Bierts. Die beiden eng befreundeten Unterengadiner hatten in den Vierzigerjahren als Schriftsteller debütiert, und dank Andri Peers Kontakten wurde nun auch Cla Biert über den rätoromanischen Sprachraum hinaus bekannt. Der «Schweizer Spiegel» brachte im folgenden Jahrzehnt immer wieder die eine oder andere Erzählung auf Deutsch, zunächst in Übersetzungen von Andri Peer, später – nach einem durchaus schmerzlichen Ablösungsprozess – von Oscar Peer, Iso Camartin oder Cla Biert selbst.

Der zweisprachige Erzählband «Das Gewitter/Betschlas malmadüras», der dieses Frühjahr als Auftakt einer Neuausgabe der Werke Cla Bierts im Limmat Verlag erschienen ist, versammelt zwölf Erzählungen. Wenn man liest: «Es rückt gegen Mitte Juni; die Kälber können schon ganz artig fressen», wünscht man sich, die (deutschen) Texte wären für die Neuausgabe etwas entstaubt worden, doch so oder so sind die unprätentiösen und doch poetischen Erzählungen lesenswert. In den meisten Erzählungen sind Kinder und Jugendliche die Protagonisten, weniger Einzelpersonen als die Dorfjugend als Ganzes. Mit einer feinen ironischen Distanz heftet sich der Erzähler den Jugendlichen auf die Fersen, beobachtet ihr Handeln und Verhalten auf traditionellen Festen und im Alltag. Dabei werden die Traditionen, die oft das Hauptthema einer Erzählung sind, nicht erschöpfend erklärt, und gerade dadurch überträgt sich der Zauber der althergebrachten Feste auch auf die Lesenden. Es sind Erzählungen aus dem Engadin an der Schwelle zur Moderne, aus einer verschwundenen bäuerlichen Welt. Geschrieben zu einer Zeit, als die leichte Erotik mancher Erzählungen noch Widerstand und Abdruckverbote auszulösen vermochte.

vorgestellt von Barbara Sauser, Bellinzona

Cla Biert: «Das Gewitter/Betschlas malmadüras». Zürich: Limmat, 2009

7 Es läutet

Der Sechzehnjährige hat noch nie ein nacktes Mädchen gesehen. Um seine Neugier zu befriedigen, bietet er seiner Schwester Geld an, wenn er sie beim Waschen in der Küche beobachten dürfe. Scheinbar entrüstet, handelt sie ein höheres Entgelt aus, dann erlaubt sie ihm, durch das Schlüsselloch der Schlafzimmertür einen Blick auf ihre Schambehaarung zu werfen. Es bleibt nicht bei diesem einen Mal, bis er eines Tages feststellt, dass er betrogen wurde. Was das listige Mädchen ihm zeigte, war nur ein Katzenfell. Das war das einzige Mal, erzählt der inzwischen erwachsene Knabe Jahre später, dass er seine Schwester geschlagen habe. Die Enttäuschung liess ihn zur Gewalt greifen

Um Täuschung und Wahrheit geht es in Erwin Kochs schmalem, aber umso dichteren Roman «Nur Gutes». Sechsunddreissig Jahre, nachdem er während eines Urlaubs in Ligurien seine damalige Freundin und jetzige Frau Dagmar mit dieser Geschichte zum Lachen gebracht hat, arbeitet der evangelische Pastor Albert Mangold an seinem Predigtmanuskript, als es läutet. Vor der Tür steht Anna Baumer, eine frühere Freundin seines Sohnes Simon, die wahrscheinlich polizeilich gesucht wird. Vor vielen Jahren hat sie gemeinsam mit Simon eine reiche Bankiersgattin entführt, um deren Mann zu einem öffentlichen Schuldbekenntnis zu zwingen. Natürlich scheiterten die beiden ebenso naiven wie dilettantischen revolutionären Romantiker. Doch während Anna fliehen konnte, musste Simon eine Haftstrafe absitzen. Nun ist er Redaktor für Nachrufe bei einer regionalen Zeitung. Er lebt allein, schon vor längerer Zeit ist seine Frau mit den Kindern ausgezogen. An diesem Sonntag hatte er eigentlich vor, seine Eltern zu besuchen, doch dazu kommt es nicht. Niemand holt ihn vom Bahnhof ab, und es bleibt bei Telefongesprächen. Später kann er nur noch rekonstruieren, was geschehen ist; denn seine Eltern überleben den Tag nicht.

So werden all die Dialoge, Reflexionen und Erinnerungen, aus denen sich «Nur Gutes» zusammensetzt, zu einem grossen Nekrolog auf eine Familie, verfasst von einem Hinterbliebenen, der seine ganze Vorstellungskraft aufbieten muss, um erzählen zu können, was an jenem Sonntag geschehen sein mochte. Dabei lässt er die Besucherin wie einen Katalysator wirken; denn ihre Anwesenheit setzt einen Prozess in Gang, der das Unausgesprochene zwischen den Eheleuten offenlegt.

Es ist eine gewagte Erzählkonstruktion, die Erwin Koch für seinen Roman gewählt hat; doch sie hilft ihm, einen Stoff, aus dem gewöhnlich dickleibige Familienepen geschneidert werden, auf weniger als 160 Seiten zu komprimieren. So entsteht ästhetischer Mehrwert mittels einer virtuos angewandten Auslassungs- und Wiederholungstechnik, die nicht wenige Leser als Zumutung empfinden mögen, manche allerdings auch, ihr Berichterstatter eingeschlossen, in gleichem Masse als Auslöser einer nachhaltigen Verunsicherung. Und was könnte Literatur mehr bewirken wollen?

vorgestellt von Joachim Feldmann, Recklinghausen

Erwin Koch: «Nur Gutes». München: Nagel & Kimche, 2008

8 Mann trifft Frau, mal diese, mal jene

Seit seinem Débutroman «Agnes» (1998) hat Peter Stamm erzählerisch eindrucksvoll die Möglichkeiten eines glücklichen Zusammenlebens von Männern und Frauen erkundet und im permanenten Scheitern seiner Protagonistenpaare die Unhaltbarkeit des Glücks und die Illusion dauerhafter Liebe demonstriert.

Stamms neuer, vierter Roman «Sieben Jahre» zeigt sich als eine breiter angelegte, über einen längeren Zeitraum sich erstreckende ungewöhnliche Variation der vertrauten Handlungskonstellation komplizierter, scheiternder Liebesbeziehungen. Stamm konfrontiert seinen Ich-Erzähler, den Münchner Architekten Alex, mit zwei vollkommen unterschiedlichen Frauen. Sonja ist eine schöne und kluge Tochter aus gutem Hause, eine selbstbewusste Architektin, die Alex in seiner Münchner Studentenzeit kennen und, nach anfänglichen Unsicherheiten, lieben lernt, die er heiratet und mit der er ein schon bald prosperierendes Architekturbüro eröffnet. Ihr drastisches Gegenbild ist die unattraktive und langweilige Polin Iwona, zu der sich Alex, ohne Liebesambitionen, in sexueller Obsession immer wieder hingezogen fühlt – eine Beziehung, der durch seine Heirat mit Sonja anscheinend ein Ende gesetzt wird. Nach sieben anscheinend harmonisch verlaufenen Ehejahren, allerdings vom unerfüllten Kinderwunsch getrübt, sieht Alex Iwona, die ihn noch immer liebt, in ärmlichen Verhältnissen wieder. Sie schlafen miteinander, Iwona wird schwanger, willigt nach der Geburt des Kindes ein, dass dieses, Sophie, von Alex und Sonja adoptiert wird. Doch das eheliche Glück ist damit keineswegs gerettet. Am Schluss trennt sich das Ehepaar. In Stamm-typischer Weise bleibt das Roman-Ende offen; «leicht und wach» schaut der verlassene Ich-Erzähler zum «leeren Himmel», der ihm «auf fast absurde Weise schön zu sein schien».

Peter Stamm entfaltet in den beiden konträren, parallel verlaufenden Liebesgeschichten seines Ich-Protagonisten die Macht des Liebenden und des Geliebten. Während Alex mit Sonja die perfekte Ehe zu führen scheint, sich dabei jedoch einer immer unerträglicheren Erwartung ausgesetzt fühlt, empfindet er in seiner Liaison mit Iwona eine befreiende Macht, die ihm allerdings immer mehr entgleitet angesichts Iwonas «vollkommener Hingabe» und ihrer «bedingungslosen Liebe», so dass sich das Machtverhältnis der beiden schliesslich umkehrt.

Wie «Agnes» ist «Sieben Jahre» ein beeindruckendes Zeugnis für die Entstehung und die Eigenart einer Geschichte. «Im Grunde», so erkennt der Ich-Erzähler Alex, «war meine Beziehung zu Iwona von Anfang an nichts als eine Geschichte gewesen, eine Parallelwelt, die meinem Willen gehorchte und in die ich mich begeben konnte, wann immer ich wollte, und die ich verliess, wenn ich genug von ihr hatte.» Und er erinnert sich plötzlich an das Glück seiner Kindheit, als er «spätnachts oder an einem regnerischen Nachmittag … eine Geschichte zu Ende gelesen hatte». «Ich war in Sicherheit, ich lag auf dem Bett und kehrte in Gedanken noch einmal zurück in die Geschichte, die jetzt mir gehörte, die nie zu Ende sein würde, die wuchs und zu einer eigenen Welt wurde. Es war eine von vielen Welten, in denen ich damals lebte, bevor ich anfing, mir meine eigene zu bauen und all die anderen zu verlieren.»

Wie in früheren Werken gelingt es Peter Stamm auch in seinem neuen Roman, in den Brüchen des Lebens und der Liebe die Schönheit des glücklichen Augenblicks zu erspüren. «Sieben Jahre» erzählt eine verstörende Geschichte über das Unverlierbare des zerbrechenden Glücks.

vorgestellt von Hartmut Vollmer, Münster

Peter Stamm: «Sieben Jahre». Frankfurt a.M. S. Fischer, 2009

9 Scheinbar Unscheinbares in Versen

Ariane Braml legt einen neuen Gedichtband vor: «Bild mit leichten Dingen». Die Autorin geht mit diesem Band ihren Weg weiter, wie seit Jahren schon, unbeirrbar, leise, sehr konsequent, still und ausdrucksstark. Leicht tupft sie hin, was sie gespeichert hat, macht Unscheinbares präsent, wie Morandi, dem, fast wie ein Programm fürs eigene Schreiben, wenige Zeilen gewidmet sind: Der Mund/ ohne Dunst/ das langsame Fliessen/ der Schale über dem Grund.// Bild/ mit leichten/ Dingen/ Drei Vasen/ Stelen fremder Sinne.

Es ist Teilnahme und Anteilnahme, ein Horchen und Schauen und Antwortgeben: Formen im Wort, in der Flocke, um die sich vielleicht der Schnee ballt. Oft ist es das, was, kaum bemerkt, da ist und vergeht, ohne eine Spur zurückzulassen, und nur in den gelungenen Versen eine Bleibe findet: Im Zinnober/ glüht die Nacht/ die Winde schweigen// Mit schnellen Segeln/ schwinden die Tage/ Boote ohne Last. Was schwindet und verschwindet wird gerufen, in Lauten, in «Kinderabzählreimen».

Es sind die alten Themen der Lyrik, die in diesen Versen anklingen, die Geheimnisse der Natur, die Mythen und Mysterien, die vergessenen und ungeträumten Träume. Sie werden in Bildern gebannt, werden in Sprache zu Sinnbildern, auch für das Leben, das seine Schönheit ebenso erweist wie seine Brüchigkeit, seine Vergänglichkeit, seine Nähe zum Tod: Charon/ setzt über/ ohne Last/ Hölle drüben/ rotundschwarz. Leise, wie die Stimmungen, die sie besingt und beschwört, ist die Sprache von Ariane Braml, die geradezu das Unscheinbare sucht und formt und es unscheinbar in ihren Versen glimmen lässt. Das Vergehen, das Vergängliche scheint auf, die Tage/ die Wolken/ die welken/ wie Gras. Aber gerade in diesen Bildern, im Rhythmus der Sprache, findet das Vergängliche des Draussen in der Schönheit des Verses seine Unvergänglichkeit, mit «Zauberstab und Leier» wird es verwandelt in Poesie. Das Gedicht erscheint als Membran, das die Schwingungen des Draussen aufgenommen hat und sie im Klang der Sprache weiterträgt. Es ist eine eigene Welt, die da entsteht, Abbild im Werden und Vergehen, ein von eigenen Gesetzen geprägter Kosmos.

Wer sich heute noch auf Lyrik einlässt, sich dem überlässt, was Sprache vermag, der schafft es leicht, herauszutreten aus dem lärmig-aufdringlichen Alltag und ein anderes Land, ein Märchen- und Hexenland zu betreten, mit Zauber und Zauberei und alten Liedern. Das ist Grenzgang, Übergang, Verwandlung. Die neuen Gedichte von Ariane Braml laden ein zu solcher Grenzgängerei, schaffen mit ihren Bildern neues Land, einen lyrischen Kosmos, der Gegenwelt ist, in dem die Zeit oft stillsteht: «Still horcht/ das Kind/ und schweigt/ in fernen Reichen.»

vorgestellt von Urs Faes, Zürich

Ariane Braml: «Bild mit leichten Dingen». Zürich: Littera Autoren Verlag, 2009

10 / 11 Die Flucht führt im Kreis herum

Der Solothurner Soziologie, Künstler und Autor Urs Jaeggi wartet gleich mit zwei neuen Romanen auf. Nach längerer, fast zwanzigjähriger Pause markiert der Roman «Weder noch etwas» einen literarischen Neuanfang. Der Fall der Mauer verhilft dem Ingenieur Franz Behnke zu einer Neugeburt, deren Folgen nicht ohne Komplikationen sind. In der DDR aufgewachsen und mit der Tochter eines bekannten Schweizer Regisseurs verheiratet, erschien ihm die neu gewonnene Freiheit nach der Wende zwiespältig. Im ICE pendelt er heute als Speisewagenkellner zwischen Berlin und Basel, wohnhaft ist er auf halber Strecke in Fulda. Ein französischer Journalist bringt ihn während der Reisen zum Reden.

Urs Jaeggi schildert einen verstörten Menschen, der bedrohlich zwischen Aufruhr und Resignation schwankt. Behnke versteckt illegale Flüchtlinge in seinem Gartenhaus vor der Polizei, und hasst sich zugleich für diese selbstlose Tat. Auch wenn er nostalgische Gefühle für sein altes Leben hegt, wird er nicht zum Verklärer der DDR. Aber es schmerzt ihn, wenn er in der Fuldaer Nachtkneipe als Ossi beschimpft wird, der besser drüben geblieben wäre.

Behnke ist ein Getriebener, der in einem Speisewagen gestrandet ist. Seine fiebrige Unruhe überträgt sich auf den Erzählduktus. Als beobachtender Autor variiert Urs Jaeggi den Gefühlstumult seines Helden, sprachlich gekonnt, im Wechselspiel von Pausen und Redeschwall, Hoffnung und Resignation. Ein kleines Fragezeichen setzt lediglich die allzuopulente Ausstattung Behnkes mit kulturellem, vorab literarischem Wissen, das der einstige Ingenieur souverän herbeizitiert. In Behnke steckt wohl ein Quentchen zuviel Jaeggi.

Anders präsentiert sich «Wie wir». Der Roman besteht aus drei stilistisch ungleichen Texten, deren jeder andere Wahrnehmungen der Welt dokumentiert. In «outback» sucht ein Erzähler in Australien einen Neuanfang als stummer Säulensteher, nachdem ihm zuvor in einer Bar der Bauch aufgeschlitzt worden war. «Vol Terra» lässt uns eintreten in eine psychiatrische Klinik, in der die Patienten von allen guten Geistern, auch von ihrem medizinischen Beistand verlassen sind. Unter der geheimen Patronage des verrückten Dichters Antonin Artaud – den auch Behnke wiederholt zitiert – herrscht hier eine tobende Ordnung, die die Rolle des Erzählers fein in der Schwebe lässt. In «Beobachter der Beobachter der Beobachter» schliesslich – an Dürrenmatts berühmte Novelle erinnernd – scheint jegliches Toben gebändigt. Rings um vier Türme sitzen Beobachter, die sich gegenseitig beäugen und darauf warten, dass in den für die Aussenwelt völlig uneinsehbaren, mysteriösen Türmen endlich irgendetwas passiert.

In drei Variationen erschliesst uns der Phantast Jaeggi hier eine Welt, die kein Entrinnen kennt. «Die Flucht führt im Kreis herum und die Fliehenden wissen es.» So kapituliert das Ich und spinnt sich in den eigenen Sprachkokon ein. Vielleicht liegt darin eine letzte Hoffnung.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

«Ursino III», aus «Progetto Siciliano», Acryl auf Leinwand, 120 x 120, 2003

Urs Jaeggi: «Weder noch etwas». Klagenfurt: Ritter, 2008

Urs Jaeggi: «Wie wir». Frauenfeld: Huber, 2009

12 Dramolett längs sozialer Phobie

«Die Angst ist mein ständiger Begleiter», sagt Felix am Anfang und stellt am Ende fest: «Bis jetzt kenne ich ja nur Angst und die Angst vor der Angst.» Auf den 160 Seiten dazwischen entwickelt der praktizierende Psychoanalytiker und Autor Jürg Acklin die Fallstudie einer pathologischen Störung. Besagter Felix, ein verhätschelter, unselbständiger, an den Rollstuhl gefesselter Endvierziger steigert sich in den Wahn, sein Bruder als engste Bezugsperson liebe ihn nicht mehr und versuche sogar, ihn loszuwerden. Angst umklammert sein Denken, Angst vor der eigenen Hilflosigkeit packt ihn, Angst vor Veränderungen, Angst vor Verlust, bis schliesslich nackte Todesangst sein Handeln bestimmt. Der Lehrbuchtext geht allerdings distanzierter an das Thema heran, als diese Zeilen denken liessen; er zählt detailliert die Impulse und Symptome auf, erklärt Schritt für Schritt die Vorgeschichte und endet weit vor der angedeuteten Eskalation.

Damit diese Analyse nicht zum Schattendasein in wissenschaftlichen Zeitschriften verdammt ist, hat sich der Zürcher Acklin die typografisch abgesetzte Geschichte eines Vaters ausgedacht, der sein Kind aus den Armen der durchgeknallten Mutter befreit, die in den inneren Zirkel einer religiösen Sekte gerutscht ist. Dieses arg schlichte Dramolett wird neben die arg schlaue psychologische Untersuchung einer sozialen Phobie gestellt, mit der Absicht, zwei parallele Handlungsstränge zu bilden. Eine Eigenart der Parallelen aber ist bekanntlich: sie überschneiden sich erst im Unendlichen. «Vertrauen ist gut» wiederum hat – wie oben erwähnt – nur endliche 160 Seiten, und so redlich Acklin sich auch müht, in diesem Buch kann er nicht zusammenführen, was nicht zusammengehört.

vorgestellt von Michael Harde, Schalkenbach

Jürg Acklin: «Vertrauen ist gut». Zürich: Nagel & Kimche, 2009

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