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Schweizer Altersvorsorge: Kartenhaus oder solide Konstruktion?

Die demographischen Veränderungen und die letzte Börsenbaisse haben die Frage nach der Sicherheit der Altersvorsorgesysteme aufgeworfen. Der folgende Beitrag nimmt die Nachhaltigkeit und Finanzierbarkeit, die Sicherheit und Stabilität, die Flexibilität, die Effizienz, die Einfachheit und Transparenz sowie die Allokationsneutralität kritisch unter die Lupe.

Umlageverfahren wie die AHV bieten Anreize, das System nicht nachhaltig, sondern als eigentliches Ponzi-System zu organisieren. Ponzi-Systeme zahlen mit dem Geld neuer Systemteilnehmer die bestehenden Teilnehmer aus. Sie kollabieren, sobald nicht mehr genügend neue zahlende Teilnehmer rekrutiert werden können. Ein Ponzi-Rentensystem lässt, mit Hilfe der Beiträge einer zunehmenden Anzahl neuer Versicherter, für die Versicherten der vorangehenden Generation zu hohe Rentenansprüche zu. In der wachsenden Gesellschaft funktioniert eine solche Ausgestaltung, weil das Ponzi-System obligatorisch ist und sich das demographische Wachstum recht zuverlässig voraussagen lässt. Erst wenn die Bevölkerung nicht mehr wächst, respektive das Verhältnis zwischen Arbeitenden und Rentnern sich verschlechtert, müssen die Beitragssätze so weit erhöht werden, bis das Nachhaltigkeitskriterium wieder erfüllt ist, bis also die Renten wieder vorfinanziert werden. Geht die Bevölkerung gar zurück, muss die arbeitende Bevölkerung die Renten überfinanzieren, d.h. die arbeitende Generation muss mehr Beiträge leisten, als sie selbst in der Zukunft an Renten erhalten wird. Eine Erhöhung der Lebenserwartung akzentuiert das Problem, da dadurch zusätzlich auch die nachhaltig berechneten Beitragssätze ansteigen.

Ist die Nachhaltigkeit und Finanzierbarkeit der heutigen AHV gewährleistet? Dazu existieren mittlerweile mehrere Studien, die den zukünftigen Finanzierungsbedarf unter verschiedenen Annahmen bezüglich der demographischen und der wirtschaftlichen Entwicklung prognostizieren. Im Jahr 2002 betrugen die Ausgaben der AHV 29,0 Mia. Franken für die regulären Leistungen und 1,5 Mia. Franken für Ergänzungsleistungen. Dies sind insgesamt 7,2 Prozent des schweizerischen Bruttoinlandproduktes (BIP) von 2002. Der sogenannte Altersquotient (Rentner im Verhältnis zur erwerbstätigen Bevölkerung) betrug 27,2 Prozent, d.h. 3,7 Erwerbstätige finanzierten jeweils eine Person im Ruhestand. Wird das Bevölkerungsszenario «Trend» des Bundesamtes für Statistik unterstellt, so erhöht sich der Altersquotient auf 34,5 Prozent im Jahre 2020 und auf 45,3 Prozent im Jahre 2040. Wird nun weiter unterstellt, dass die Reallöhne mit durchschnittlich 1 Prozent im Jahr ansteigen, errechnet sich ein jährlicher Finanzierungsbedarf von 48,0 Mia. Franken für das Jahr 2020 (9,1 Prozent des BIP) und 63,9 Mia. Franken (10,8 Prozent des BIP) für das Jahr 2040. Angegeben in Mehrwertsteuer-Äquivalenzpunkten wäre der Finanzierungsbedarf 11,0 MWST-Prozente im Jahre 2002, 13,8 Prozente im Jahre 2020 und 16,5 Prozente im Jahre 2040.

Diese Rechnungen sind allerdings rein mechanistischer Art und berücksichtigen allfällige volkswirtschaftliche Rückkoppelungen und Wechselwirkungen zwischen den Parametern sowie Strukturverschiebungen in den Beitrags- und Erwerbsquoten nicht. Volkswirtschaftliche Modelle, die solche Effekte berücksichtigen, sind ebenfalls erstellt worden, mit teilweise ähnlichen, teilweise aber auch divergierenden Prognosen. Alle Prognosen sind recht unsicher, da sie vom demographischen Szenario und der Annahme bezüglich des wirtschaftlichen Wachstums, insbesondere der Reallohnentwicklung, abhängen. Angenommen, der Reallohn steige nur um 0,5 Prozent, so resultiert ein Mehrbedarf von 9,5 Mehrwertsteuerprozenten im mechanistischen Modell.

Insgesamt präsentiert sich also ein eher düsteres Bild. Wenn auch nicht von einer eigentlichen Nichtfinanzierbarkeit gesprochen werden kann, so wäre die volkswirtschaftliche Belastung durch die Weiterführung der AHV im bisherigen Lei-stungsrahmen voraussichtlich doch sehr gross. Insofern muss bezüglich des Finanzierbarkeitskriteriums ein Fragezeichen gesetzt werden.

Die 2. Säule des schweizerischen Vorsorgesystems, auf dem Kapitaldeckungsverfahren beruhend, erfüllt das Nachhaltigkeitskriterium etwas leichter. Allerdings ist auch beim Kapitaldeckungsverfahren die Nachhaltigkeit nicht einfach gegeben. Besonders bei Leistungsprimatkassen besteht die Gefahr, dass Beitragssätze und Rentenversprechen nicht in Einklang stehen. Aber auch Beitragsprimatkassen kennen das Problem, besonders im Fall von Unterdeckung. Dann werden Pensionskapitalien oder Renten ausbezahlt, die nicht vollständig durch Kapital gedeckt sind. Solange nur ein kleiner Teil der Destinatäre einer Kasse Rentner sind oder vor der Pensionierung stehen, stellt dies für die Kasse keine unmittelbare Gefahr dar. Sie kann hoffen, mit der Zeit aus der Unterdeckung herauszufinden, beispielsweise durch höhere Erträge auf dem angelegten Sparkapital, als sie den Destinatären gutgeschrieben werden müssen. Trotzdem stellt diese Situation eine Form von Nichtnachhaltigkeit dar, da, ähnlich wie bei der AHV, die Renten nur mit Hilfe einer Umverteilung von den Arbeitenden zu den Rentnern ausbezahlt werden können.

Die Nachhaltigkeit in der 3. Säule (freiwillige gebundene und freie Vorsorge) ist immer gewährleistet, da nur das selbst angesparte Vermögen für die Vorsorgeleistung zur Verfügung steht. Umverteilungen finden keine statt. Die Finanzierbarkeit ist ebenfalls gewährleistet, da die Finanzierung nach individuellen Mitteln und Präferenzen erfolgt. Altersvorsorgesysteme sollten den Versicherten ein Minimum an Sicherheit bieten, da sie sonst nicht das Vertrauen der Versicherten erhalten. Auch die Stabilität und Robustheit gegenüber Krisen sollte gegeben sein.

Ein Umlagesystem wie die AHV ist zwar nicht immun gegen Finanzmarktkrisen, aber diesen gegenüber recht robust, da kein oder nur ein kleiner Kapitalstock vorhanden ist, der einem Finanzmarktrisiko ausgesetzt ist. Ein Risiko besteht gegenüber tiefgreifenden Wirtschaftskrisen, die das Lohnvolumen und somit die Beiträge beeinflussen. Hier braucht es allerdings wirtschaftliche Verwerfungen vom Ausmass der Depression der Dreissigerjahre, um ein Umlageverfahren ernsthaft zu gefährden. In den meisten Fällen werden Umlageverfahren viel eher durch strukturelle Probleme aufgrund von Nichtnachhaltigkeit bedroht.

Bei der kapitalgedeckten 2. Säule präsentiert sich die Situation anders. Hier haben die letzten drei Jahre deutlich gemacht, dass die Robustheit der 2. Säule geringer ist, als bisher erwartet. Dabei hat sich ein eigentlicher Konstruktionsfehler gezeigt, der Vorsorgeeinrichtungen gegenüber Finanzmarktkrisen verletzlich macht. Dieser Fehler besteht paradoxerweise gerade im vermeintlichen Schutz des Versicherten vor Finanzmarktrisiken. Pensionskassen geben nominelle Rentenversprechen ab, die sie mit ihren Kapitalanlagen zu erfüllen versuchen. Als Reserve zur Überbrückung von kürzeren Baisseperioden an den Finanzmärkten verfügen sie über Schwankungsreserven. In den letzten Jahren hat sich nun gezeigt, dass dieser Schutz der Destinatäre vor Finanzmarktrisiken unzuverlässig ist, da Pensionskassen nicht in der Lage sind, grössere Finanzmarktrisiken selbst zu tragen und somit die Versicherten davor zu schützen. Viele Pensionskassen gerieten in Unterdeckung, einige waren gezwungen, durch Sanierungsmassnahmen auf Kosten der Arbeitgeber und der Versicherten ihre Bilanz wieder zu verbessern. Und auch bei Kassen, die keine eigentlichen Sanierungsmassnahmen zu treffen hatten, waren letztlich die Versicherten die Risikoträger. Zukünftige Renditen über die minimale Gutschrift hinaus müssen nämlich zuerst wieder dafür eingesetzt werden, die Unterdeckung ab- und die Schwankungsreserven aufzubauen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass diese Renditen nicht den Versicherten zukommen werden.

Ein Altersvorsorgesystem sollte die notwendige Flexibilität aufweisen, um auch nicht-traditionellen Karrierewegen und Lebensformen gerecht zu werden. Zudem haben bezüglich Altersvorsorge nicht alle Personen die gleichen Präferenzen. Das Vorsorgebedürfnis und die entsprechende Bereitschaft, während des Arbeitslebens zugunsten der Altersvorsorge auf Konsum zu verzichten, sind individuell und sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ein Altersvorsorgesystem sollte auf solche individuellen Präferenzen Rücksicht nehmen, ohne falsche Anreize zu setzen. Falsche Anreize entstünden beispielsweise dann, wenn ein System so flexibel wäre, dass man ganz auf Vorsorge verzichten könnte, aber trotzdem eine implizite Versorgungsgarantie hätte, z.B. durch Sozialhilfe.

Die heutige Ausgestaltung der AHV und des BVG erlauben einige Flexibilität bezüglich modernen Arbeitsformen und Lücken in den Anstellungsverhältnissen. Sehr viel weniger flexibel sind die ersten beiden Säulen bezüglich der Ausgestaltung der Risikoversicherungen. Der Arbeitnehmer hat hier keinerlei Gestaltungsmöglichkeit, sondern bekommt und bezahlt standardisierte Produkte, ob er sie benötigt oder nicht. So ergeben sich für alleinstehende Personen Todesfall-, Witwen-, Waisen- und ähnliche Versicherungen, obwohl sie gar kein entsprechendes Risiko tragen. Da die Prämien nicht nach den entsprechenden Risiken erhoben werden, sondern pauschal entweder für alle Versicherten (AHV) oder für die Versicherten eines Arbeitgebers (BVG), entsteht hier eine beträchtliche Umverteilung zwischen Versichertengruppen, beispielsweise von Alleinstehenden zu Verheirateten.

Bei der zweiten Säule kommt hinzu, dass der einzelne Versicherte in aller Regel nicht nur keinen Einfluss auf die Deckung der Risikoversicherung hat, sondern auch keinen auf die Anlagestrategie für den Sparanteil. So besteht keine Möglichkeit, die Anlagestrategie gemäss eigenen Risikopräferenzen zu gestalten.

Die dritte Säule weist die höchste Flexibilität auf. Die Anlagestrategie kann, über die Auswahl der Produkte, durch den Versicherten selbst bestimmt werden. Es besteht zwar keine völlige Freiheit, da die Produkte BVG-konform sein müssen, also gewisse Grundsätze bezüglich Risikoverteilung erfüllen müssen, aber die Möglichkeit der freien Auswahl der Anbieter und der Risikokategorie ist gegeben. Auch allfällige Risikoversicherungen werden individuell abgeschlossen.

Altersvorsorgesysteme sollten das Ziel der Effizienz erreichen, indem sie für Administration und Bürokratie möglichst wenig ausgeben. Bezüglich Verwaltungskosten hat die AHV eine einigermassen effiziente Struktur. Bei den Pensionskassen ist die Situation unterschiedlich. Neben sehr effizient organisierten Einrichtungen mit geringen Verwaltungskosten gibt es Einrichtungen mit hohen Verwaltungskosten.

Zur Effizienz gehören aber nicht nur Verwaltungs- und Betriebskosten, sondern bei kapitalgedeckten Systemen auch die Anlagestrategie. Eine Anlagestrategie kann dann effizient sein, wenn sie den Risikopräferenzen und dem Zeithorizont des Anlegers angepasst ist. Beides ist im Rahmen einer kollektiven Anlage nicht möglich, da die Anlagestrategie höchstens der Risikopräferenz und dem Anlagehorizont des durchschnittlichen Versicherten gerecht werden kann, niemals aber allen Versicherten des Kollektivs. Die 2. Säule versucht dieses Problem zu lösen, indem sie die Versicherten vom Anlageerfolg isoliert und einen fixen Zinssatz vorschreibt, der mehr oder weniger unabhängig vom Anlageerfolg der Kasse ist. Diese Lösung ist aber eine eigentliche Schönwetter-Lösung. Sie funktioniert nur dann, wenn die Schwankungen um den gutzuschreibenden Zinssatz nicht zu stark sind. Sind während mehrerer Jahre die Anlagerenditen negativ, so nimmt die Unterdeckung der Kasse zu, bis Sanierungsmassnahmen notwendig werden, die dann von den Versicherten und ihren Arbeitgebern getragen werden müssen. Sobald das Anlagekapital deutlich an Wert verliert, zeigt sich, dass letztlich die Versicherten das Risiko tragen.

Vorsorgelösungen bei Versicherungsgesellschaften wiederum weisen andere Probleme auf. Hier sind Aktionäre vorhanden, mit deren Eigenkapital Anlagerisiken getragen werden können. Sie sind allerdings dazu kaum bereit, zumindest nicht, wenn sie nicht die mit dem Tragen der Risiken verbundenen Erträge selbst erhalten. Eine Versicherungsgesellschaft wird deshalb eine prozyklische Anlagestrategie verfolgen, also bei Wertverlust auf dem Portfolio das Risiko reduzieren, oder generell ein sehr tiefes Risiko wählen. Es ist zu bezweifeln, dass solche Anlagestrategien für die Versicherten effizient sind. In der dritten Säule gibt es solche Probleme nicht, da die Anlagestrategie individuell bestimmt wird und die Risiken explizit durch die Versicherten selbst getragen werden.

Ein Altersvorsorgesystem sollte den Kriterien der Einfachheit und Transparenz genügen. Hochkomplexe Systeme sind zu vermeiden, bei denen nur noch ein kleiner Kreis eingeweihter Experten den Überblick behält. Die Systeme müssen so einfach strukturiert und transparent sein, dass der Zusammenhang zwischen Beitragszahlung und Rentenansprüchen ersichtlich ist.

Die AHV wird als vergleichsweise einfaches System wahrgenommen. Da durch das Umlageverfahren, durch staatliche Zuschüsse und durch die massive Umverteilung der Zusammenhang zwischen individuellen Beiträgen und Ansprüchen ohnehin nur sehr lose ist, kommt der Transparenzfrage für den einzelnen Versicherten eine untergeordnete Bedeutung zu. Man bezahlt die AHV-Beiträge als eine Steuer und erwartet umgekehrt die Renten als eine staatlich garantierte Leistung, für die der Staat ohne Rücksicht auf die eingenommenen Beiträge einzustehen hat. Aus der Sicht der Versicherten erscheint die AHV deshalb als ein sehr transparentes und einfaches System, obwohl der Zusammenhang zwischen nachhaltiger Finanzierung und Leistung bei einem Umlageverfahren recht komplex ist.

Diese Situation ist in der 2. Säule anders. Durch das Kapitaldeckungsverfahren und die Unabhängigkeit vom staatlichen Haushalt wäre ein direkter und transparenter Zusammenhang zwischen den einbezahlten Beiträgen und dem Vorsorgekapital, respektive den Rentenansprüchen möglich. Dass dieser transparente Zusammenhang trotzdem nicht gegeben ist, liegt an der gewählten Ausgestaltung des Systems. Eine Kombination historisch bedingter Gegebenheiten, regulatorischer Vorgaben und Freiheiten der einzelnen Vorsorgeeinrichtung in der Prämien- und Leistungsgestaltung führte zu einem sehr komplexen und selbst für Fachleute mittlerweile unübersichtlichen System. Darin ist in vielen Fällen der Zusammenhang zwischen den Beiträgen und den Leistungen nicht mehr transparent, obwohl alle Versicherten jährlich einen Versicher-ungsausweis erhalten, auf dem auf den Franken genau zu lesen steht, mit wieviel Rente dereinst zu rechnen sei. Dieser Versuch, den Versicherten Sicherheit zu suggerieren, wenn in Tat und Wahrheit das Kapital der Pensionskassen grossen Anlagerisiken unterworfen und im Fall von autonomen oder teilautonomen Kassen nicht durch Eigenkapital von Aktionären gesichert ist, wird immer wieder zu Problemen führen. Die vermeintliche Klarheit des Versicherungsausweises entpuppt sich spätestens dann als intransparent und irreführend, wenn die Deckung der Kasse nicht mit den Verbindlichkeiten übereinstimmt und Sanierungsmassnahmen notwendig werden.

Die 3. Säule hingegen ist transparent, da ein individuelles Konto besteht. Das Kapital erzielt einen Sparzinssatz oder kann in BVG-konformen Fondsprodukten angelegt werden, wobei der Kontoinhaber das Anlagerisiko in der Form von Wertschwankungen der Fonds vollständig selbst trägt. Falls ein Versicherungsbedarf besteht, kann bei einer Versicherung ein Sparplan mit Versicherungskomponente abgeschlossen werden.

Altersvorsorgesysteme sollten die Anreiz- und Allokationsneutralität sicherstellen. Das heisst, sie sollten keine negativen Verhaltensanreize (moral hazard) setzen und Allokationsverzerrungen möglichst vermeiden. Allokationsverzerrungen sind beispielsweise Anreize zur Reduktion der Arbeitsleistung oder der Arbeitsmenge (z.B. Frühpensionierung) durch die Versicherten oder die Arbeitgeber aufgrund des Altersvorsorgesystems. Daneben ist eine Vielzahl von Verzerrungen denkbar, insbesondere wenn bei Beiträgen und Leistungen Umverteilungen («Solidaritäten») zwischen Versichertengruppen stattfinden, so dass die Beiträge für gewisse Versicherte teilweise die Form von Steuern annehmen.

Die 1. Säule des schweizerischen Altersvorsorgesystems ist nicht anreizneutral, da sie eine ausgeprägte Umverteilungskomponente enthält. So haben die AHV-Abzüge bei Arbeitseinkommen über 75’960 Franken die Wirkung von Einkommenssteuern, weil sie nicht mehr rentenbildend sind. Umgekehrt erhält auch jemand mit sehr geringem Einkommen die Minimalrente. Die Minimalrente kann zudem noch mit Ergänzungsleistungen aufgebessert werden, wenn ein Bedarf geltend gemacht wird. Mit diesen Regelungen wird das Sozialziel der Gewährleistung des Existenzminimums für alle Rentnerinnen und Rentner verfolgt. So ergeben sich durch die 1. Säule bedeutende Allokations- und Anreizwirkungen, wobei die Belastung des Produktionsfaktors Arbeit über Lohnprozente und direkte Steuern besonders negativ wirkt.

Auf der anderen Seite sind die Auszahlungen der Renten, abgesehen von den Ergänzungslei-stungen, nicht an einen nachzuweisenden Bedarf geknüpft, sondern kommen allen Beitragszahlenden nach Massgabe von Dauer und Höhe ihrer Beiträge zugute. Hier werden zumindest keine Anreize gesetzt, im Alter über möglichst wenig Vermögen oder Einkommen zu verfügen, um so einen Rentenanspruch zu begründen.

Auf den ersten Blick enthält die 2. Säule deutlich weniger Anreizprobleme als die 1. Säule, da die Vorsorgeleistung aus den einbezahlten Beträgen und der darauf erzielten Anlagerendite gewährt wird. Bei genauerer Betrachtung bestehen allerdings auch in der 2. Säule unter Umständen beträchtliche Umverteilungen mit entsprechenden Anreizwirkungen. Umverteilt wird z.B. von Alleinstehenden zu Familien, indem Versicherungsleistungen für Angehörige eines Versicherten vorgesehen sind, die Prämien aber nicht vom Familienstand und somit dem versicherungsmathematischen Risiko abhängig gemacht werden. Von Jung zu Alt wird umverteilt, indem die Spargutschriften für ältere Versicherte höher sind als für jüngere. Zudem besteht eine ganze Reihe von weniger offensichtlichen Umverteilungsmöglichkeiten, deren Nutzung von der einzelnen Pensionskasse abhängt. So wurden und werden beispielsweise Frühpensio-nierungen gefördert, indem eine verminderte anstatt die versicherungsmathematisch korrekte Leistungsreduktion vorgenommen wird. Die Frühpensionäre werden also auf Kosten der länger Arbeitenden bevorzugt behandelt. Auch mit der Bildung und Auflösung von Schwankungsre-serven wird immer zwischen Versichertengruppen umverteilt, ebenso beim Eintritt und Austritt aus Kassen, die eine Über- oder Unterdeckung aufweisen oder über Schwankungsreserven verfügen. Der Umverteilungen sind so viele, dass es schwierig sein kann, den Überblick zu bewahren. Weil viele dieser Umverteilungen unsystematisch und nicht dauerhaft sind, bleiben aber möglicherweise die dadurch ausgelösten Verhaltensanreize eher gering.

Die dritte Säule ist bezüglich Anreizwirkung am klarsten strukturiert. Hier sind keine direkten Umverteilungswirkungen im Spiel. Insofern sind auch keine negativen Anreize und Allokationsverzerrungen erkennbar. Indirekte Umverteilungen und Anreizwirkungen könnten sich allenfalls über die Besteuerung ergeben.

Selbstverständlich sind die diskutierten Kriterien zur Beurteilung eines Altersvorsorgesystems nicht vollständig. Zudem darf nicht jede Säule gesondert für sich beurteilt werden. Vielmehr ist entscheidend, dass sich die verschiedenen Säulen des Vorsorgesystems sinnvoll ergänzen. Was zählt, ist das Portfolio. Zudem besteht auch bei einer durchdachten Ausgestaltung eines Einzelsystems immer ein gewisses Risiko, dass das System sein Ziel nicht in allen Situationen oder für alle Versichertengruppen erreichen kann oder dass es unerwünschte Nebenwirkungen erzeugt. Es ist deshalb grundsätzlich wünschbar, nicht nur auf ein System zu setzen, sondern die Risiken zu diversifizieren.

Aus dieser Sicht erscheint es gerechtfertigt, Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren zu kombinieren. Auch kollektive und individuelle Vorsorgesysteme sind zu kombinieren, wobei kollektive Systeme für die Grundsicherung und individuelle Systeme für die weitergehende Sicherung vorgesehen werden sollten. In der Schweiz dominiert allerdings die kollektive Form der Altersvorsorge (AHV und BVG), deren Angemessenheit zumindest für die weitergehende Sicherung im Rahmen des BVG-Überobligatoriums in Frage gestellt werden kann.

Das schweizerische Altersvorsorgesystem mit seinen drei Säulen weist neben unbestrittenen Stärken auch deutliche Schwächen auf. Am besten schneidet in der Analyse die dritte Säule ab, bei der keine fundamentalen strukturellen Schwächen erkennbar sind. Von den anderen Säulen kann dies leider nicht gesagt werden. Allerdings muss auch erkannt werden, dass die Ausgestaltung eines Vorsorgesystems mit explizitem Sozialziel wie die AHV nach ökonomischen Kriterien deutlich schwieriger ist als die Ausgestaltung einer freiwilligen Zusatzvorsorge. Deshalb wäre auch der Schluss unzulässig, die ersten beiden Säulen wegen ihrer Mängel zugunsten eines Ausbaus der dritten aufzugeben. Allerdings muss die Frage gestellt werden, ob es nicht gerechtfertig wäre, die ersten beiden Säulen nur zur Abdeckung eines Minimalbedürfnisses vorzusehen und alle darüber hinausgehenden Vorsorgebedürfnisse über andere, problemlosere Systeme, wie die 3. Säule, zu regeln.

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