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Schweiz in Sicht

Der Grazer Dichter Alfred Kolleritsch ist, man mag das bedauern oder nicht, als Herausgeber der seit 1960 bestehenden Literaturzeitschrift «manuskripte» wahrscheinlich bekannter denn als hochsensibler Lyriker und eleganter Stilist. Die Literaturfehden und politisch-intellektuellen Erregungen der frühen Jahre, auf die die Zeitschrift selber mehrfach zurückgeblickt hat (zuletzt zu ihrem 40. Geburtstag in Heft 149), sind mittlerweile […]

Der Grazer Dichter Alfred Kolleritsch ist, man mag das bedauern oder nicht, als Herausgeber der seit 1960 bestehenden Literaturzeitschrift «manuskripte» wahrscheinlich bekannter denn als hochsensibler Lyriker und eleganter Stilist. Die Literaturfehden und politisch-intellektuellen Erregungen der frühen Jahre, auf die die Zeitschrift selber mehrfach zurückgeblickt hat (zuletzt zu ihrem 40. Geburtstag in Heft 149), sind mittlerweile Thema akademischer Dissertationen. Andere Zeitschriften gingen unter oder gerieten ins Abseits eines auf Events und Sensationen fixierten Literaturbetriebs, der derartige Experimentierbühnen voller poetischer Zaubereien und Verzauberungen zunehmend für entbehrlich hielt. Die «manuskripte» jedoch machten unverdrossen weiter – was Schritt für Schritt dazu führte, dass sie mittlerweile bei vielen Freunden der Gegenwartsliteratur, modisch gesagt, «Kult» sind. Auch wenn österreichische Themen und Autoren naturgemäss im Vordergrund stehen – seit Jahrzehnten gilt Kolleritschs Zeitschrift auch anderswo als eine der feinsten Adressen für jegliche nicht unbedingt auf «Realismus» eingeschworene Poesie und Literatur. In der Schweiz allemal, und nicht nur im deutschsprachigen Landesteil. Schon 1963 veröffentlichte dort – erstmals ausserhalb der Landesgrenzen übrigens – Peter Bichsel. Ein paar Jahre später publizierte Kolleritsch auch Texte von Franz Wurm, E.Y. Meyer, Gertrud Leutenegger und Erica Pedretti. Im Lauf der Jahre kamen viele andere Schweizer Poeten hinzu. Man traf sich bei gemeinsamen Symposien und anderen Austauschveranstaltungen. Felix Philipp Ingold, Jürg Laederach und Urs Widmer bekamen sogar den «manuskripte»-Literaturpreis der steiermärkischen Landesregierung. Man kennt sich also – und entdeckt gerade deshalb ständig Neues.

Im Juni fand in Graz die mehrtägige Veranstaltungsreihe «Schweiz in Sicht» statt, und zu diesem Anlass legen die «manuskripte» jetzt ein dickes Heft mit Schweizer Gegenwartsliteratur vor, ein bemerkenswertes Heft voller Überraschungen. Nach den einleitenden Essays, von denen man Roman Buchelis «Gedanken und Stichworte zur neueren Schweizer Literatur» mit dem schönen Titel «Angenommen, es gibt sie» allen am Thema Interessierten empfehlen kann (für die Fachleute ist dieser Aufsatz einfach Pflichtlektüre), versammelt das spannende Heft eine Fülle neuer literarischer Texte aus der Schweiz. Praktischerweise sind sie alphabetisch nach Autorennamen geordnet, von Kurt Aebli bis Martin Zingg – Melinda Nadj Abonji, die aus der Vojvodina stammende Zürcherin und eine der wenigen hier vertretenen Schweizer Autorinnen nichtdeutscher Muttersprache, findet man übrigens unter «M». Die Auswahl der aufgenommenen Schriftsteller ist durchaus repräsentativ für die Schweizer Gegenwartsliteratur, wenngleich man natürlich, wie bei jeder Auswahl, das Fehlen mancher wichtigen Stimme bemängeln kann – hier seien lediglich Ruth Schweikert und Gianni Kuhn genannt. Die meisten Texte lohnen die intensive und gründliche Lektüre. Mit angehaltenem Atem liest man zum Beispiel «Dinten», endlich einmal wieder poetische Prosa von Reto Hänny, verfasst zu sechs Blättern von Markus Raetz. Wer Gedichte schätzt, kommt bei Ralph Dutli, Christian Haller, Jürg Halter, Armin Senser oder Raphael Urweider auf seine Kosten. Allein schon die literarisch absolut perfekte, wunderbar aufmerksame und zugleich anrührend traurige Erzählung «Der Ausweg» von Pascal Mercier lohnt die Anschaffung des ganzen Heftes. Die Prosa von Ilma Rakusa, Hugo Loetscher, Franz Hohler, Klaus Merz oder Giuliano Musio, zwei Seiten aus einem entstehenden Roman von Jürg Beeler, die Reflexionen von Samuel Moser über das zeitweilige oder endgültige Verstummen vieler Schweizer Autoren, Werner Morlangs Gespräch mit dem nicht nur von Roman Bucheli ausserordentlich geschätzten Gerhard Meier, Adolf Muschgs feinsinniger dramatischer Dialog «Friedrich und Henriette, oder Die Nasen der Klassik» – man möchte nicht aufhören mit den Empfehlungen.

Doch jeder Leser wird sich seinen eigenen Weg durch diese Textsammlung bahnen. Er wird etablierten Schriftstellern begegnen, aber garantiert auch interessanter Literatur von noch nicht so bekannten Dichtern, der nicht unkomplizierten und doch bezaubernden Prosa von Ralf Winnewisser vielleicht oder der dichten, überraschenden Erzählung «Flusslandschaft» von Christian Zehnder. Und er wird darüber staunen, wie sehr das hier so kundig und anregend Versammelte Roman Buchelis differenziertem Einleitungsessay entspricht, in dem es einmal heisst: «Wir haben mehr Poesie – und müssen dennoch nicht auf die Politik verzichten. Wir stellen zwar eine grössere Geschichtsferne fest, lesen aber vermehrt Geschichten, die uns freilich nicht nur um ihrer selbst willen erzählt werden.» Lesen also! Ganz frisch: Literatur aus der Schweiz!

«manuskripte. Zeitschrift für Literatur», Heft 168 (2005): Literatur aus der Schweiz. (www.manuskripte.at)

KLAUS HÜBNER, geboren 1953, promovierte in Germanistik und lebt als Publizist und Redaktor der Zeitschrift «Fachdienst Germanistik» in München.

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