Schrittweise dem Alphabet entlang
Die Anziehungskraft der Kurzgeschichte, die in der Literatur der Schweiz vor allem im Werk Peter Bichsels prominent vertreten ist, gehe «von ihren nicht idealisierten Figuren – Durchschnittsmensch oder Aussenseiter – und der suggestiven, andeutenden Gestaltungsweise aus, also von ihrem strukturbildenden Komprimierungsprinzip», schreibt Leonie Marx, eine Expertin dieser Prosaform, in Walther Killys Literaturlexikon. Die Anziehungskraft der […]
Die Anziehungskraft der Kurzgeschichte, die in der Literatur der Schweiz vor allem im Werk Peter Bichsels prominent vertreten ist, gehe «von ihren nicht idealisierten Figuren – Durchschnittsmensch oder Aussenseiter – und der suggestiven, andeutenden Gestaltungsweise aus, also von ihrem strukturbildenden Komprimierungsprinzip», schreibt Leonie Marx, eine Expertin dieser Prosaform, in Walther Killys Literaturlexikon. Die Anziehungskraft der 100 Kurzgeschichten, die Gianni Kuhn unlängst vorgelegt hat, beruht noch auf einigen anderen Qualitäten – zum Beispiel auf der erstaunlichen Vielseitigkeit ihrer Sprachgestalt. Ausserdem war es eine wirklich gute Idee, die 100 Kurztexte in der alphabetischen Folge ihrer Titel zu präsentieren. Auch wenn, wie sollte es anders sein, nicht alle Geschichten gleichermassen überzeugen, liest man sich mit wachsendem Vergnügen durch von «Arbeitslos» bis «Zu Besuch». Nach dem Titel des mit dem fast klassischen Satz «An diesem Morgen geschah es» beginnenden Text Nummer 94 ist der Band benannt: «Wie atmet ein Fahrradfahrer?».
Den Überschriften kommt bei dieser Prosaform besondere Bedeutung zu. Ein Titel wie «Das Erdbeben» verrät fast schon zuviel. Charakteristisch für die Kurzgeschichte seien, sagt Marx, «knappe Einblicke in das Spannungsverhältnis zwischen scheinbar gewöhnlichen kleinen Konflikten oder Krisen des Alltags und der besonderen, vielleicht sogar tiefgreifenden existentiellen Bedeutung, die sie für das Leben eines Menschen annehmen können». Gianni Kuhns «Erdbeben» beginnt so: «Oben auf dem Dach des Spielcasinos stand Marietta, ein Glas Champagner in der Hand, die Flasche neben sich. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, war sie nun auf der Seite der Glücklichen.» Und der letzte Satz lautet: «Noch im Fallen sah sie die untergehende Sonne, die sich drehte wie eine Roulette-Kugel.» Wirkt das nicht wie eine bewusste Illustration der akademischen Definition des Genres, das mit diesem Buch eine variantenreiche und eindrucksvolle Wiederbelebung erfährt?
Dass Kuhn kein Dialogschreiber ist, zeigt sich einmal mehr, und die Helvetismen, mit denen er sich auch in diesem Buch den Weg zum grossen Erfolg jenseits der Landesgrenzen schwer macht, sind Legion. Ob «vor dem Eindunkeln», «ein freies Parkfeld» oder «hornte der Krankenwagen um die Ecke» – Gianni Kuhn will Schweizer Dichter bleiben, auch wenn seine Geschichten in Berlin, Wien, Venedig, Rom, London, Japan oder Island spielen. Die meisten Texte aber verzichten auf einen konkreten Schauplatz, der auch nicht nötig ist, wenn es, wie recht oft, um Existentielles geht, um Leben und Tod, um Arbeit, Freundschaft, Krankheit, Einsamkeit oder Schuld. Der Autor setzt den Leser einem rasanten Wechselbad zwischen harter Realität und romantischem Tagträumen aus. Immer wieder spürbar ist der melancholische Grundgestus, die Trauer über die Vergänglichkeit alles Irdischen.
Es ist ein abwechslungsreicher, reifer Kurzgeschichtenband, mit dem Kuhn seine Leser beschenkt, ein Buch voller Lebensweisheit und doch kein cooles, abgeklärtes oder allzuglatt poliertes Werk. Und ein Buch, für das sich auch Menschen erwärmen könnten, die glauben, nie Zeit zu haben, und die Literatur, wenn überhaupt, nur in kleinen Portionen zu sich nehmen. Gianni Kuhns 100 Textbissen werden ihnen munden.
Gianni Kuhn: «Wie atmet ein Fahrradfahrer? 100 Kurzgeschichten». Eggingen: Edition Isele, 2010