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Schöne, neue Unsicherheit

Und die AHV? Hat unser Wohlfahrtsstaat Zukunft? Diese Frage lässt die «Schweizer Monatshefte» nicht los.* Dabei ist klar: in seiner heutigen Form hat er keine. Das ist gut so. Überlegungen eines jungen Realisten.

Wer von der jüngeren Generation glaubt noch daran, dass er dereinst eine AHV-Rente erhalten wird? Ich nicht. Entspringt diese Haltung einem weitverbreiteten Pessimismus? Nicht unbedingt. Eher einem neuen Realismus. Und vielleicht auch einem neuen Optimismus. Aber der Reihe nach.

Es ist wie in der Physik. Solange kein äusserer Einfluss auf einen Körper wirkt, verharrt dieser im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung. Solange kein äusserer Impuls auf uns wirkt, gibt es keinen Anlass, die eingeschlagene Richtung zu ändern – selbst wenn das Bewusstsein vorhanden ist, dass die eingeschlagene Richtung in eine Sackgasse führt. Dies ist der Fall mit den Bewohnern des ausufernden Wohlfahrtsstaats. Sie wiegen sich gerne in der absoluten wirtschaftlichen Sicherheit, die er ihnen verspricht. Doch braucht man weder ein Schwarzmaler noch ein Prophet zu sein, um zu sehen, dass der demographische Wandel früher oder später zu einer kaum mehr zu schliessenden Finanzierungslücke bei den Sozialwerken führt.

Der Wohlfahrtsstaat als Rundumversicherungsunternehmen – das widerspricht eigentlich seiner historischen Bedeutung. Das Fürsorgesystem des Staates ist konzipiert worden, um die Schwächsten und Hilfsbedürftigen zu stützen – jene, die nicht in der Lage waren, sich selbst zu helfen und die nicht durch private oder kirchliche Netzwerke getragen wurden. Aber eben, das war einmal. Die Nachkriegsgenerationen sind in einer Zeit des materiellen Überflusses grossgeworden und haben in diesem Rahmen ein enggeknüpftes Netz sozialer Sicherheit ausgespannt.

Heute hängt ein Grossteil der in- und ausländischen Bevölkerung direkt oder indirekt am Tropf staatlicher Leistungen. In Deutschland standen im Jahr 2001 30,8 Millionen Transferempfänger (Rentner eingerechnet) 25,7 Millionen Lohnsteuerzahlern gegenüber. Derartige Zahlen für die Schweiz gibt es nicht. Aber der kontinuierliche Anstieg der Sozialausgabenquote in den letzten Jahrzehnten zeigt, dass auch in unserer Alpenrepublik die Anzahl derer weiterwächst, die von staatlichen Transferzahlungen profitieren.

Das fundamentale Problem des allumfassenden Sicherheitsnetzes ist, dass es ein uneinlösbares Versprechen darstellt. Das ist für meine Generation völlig klar. So desillusionierend dies klingen mag, es hat auch seine guten Seiten: den frühen Abschied vom paternalistischen Versicherungsmodell und die Wiederentdeckung der Unsicherheit als Produktivitätsfaktor. Denn der Glaube und die Erwartung, dass der Sozialstaat jeden einzelnen auf jeden Fall tragen werde, schafft eine geistige Abhängigkeit, die lähmend wirkt. Weil wir wirtschaftliche Unsicherheit nicht abschaffen können, gilt es, sie zu akzeptieren. Um sie zu nutzen.

Gewiss, das Bedürfnis nach Sicherheit ist legitim. Sicherheit ist die grösstmögliche Abwesenheit von Gefahren, die man nicht selber gewählt hat. Doch muss unterschieden werden zwischen wirtschaftlicher und physischer Sicherheit. Letztere soll durch den Staat gewährleistet sein. Unbestrittenermassen. Problematisch wird es dagegen, wenn das Bedürfnis nach wirtschaftlicher Sicherheit darauf hinausläuft, auch diese an den Staat zu delegieren.

Man verstehe mich nicht falsch. Diese Überlegungen auf die Dritte Welt und Schwellenländer anzuwenden, wäre zynisch. In Zimbabwe herrscht ein grosses Mass an wirtschaftlicher Unsicherheit. Weil dort aber jegliche Grundlagen der Rechtssicherheit und marktwirtschaftliche Institutionen fehlen, kann die Unsicherheit ihr Potential als produktive Kraft nicht entfalten. Im Gegenteil. Wo physische Sicherheit fehlt, wird wirtschaftliche Unsicherheit entweder in Gewalt oder Lähmung münden. Das ist in der Schweiz anders.

Wir kalkulieren täglich Risiko und treffen Entscheidungen innerhalb unsicherer Rahmenbedingungen. Kalkulieren heisst, einen angemessenen Umgang mit dem vorhandenen Risiko zu finden. Die Schweiz weist eine der weltweit höchsten Versicherungsquoten pro Kopf auf. Schweizer geben pro Jahr knapp 7’000 Franken für ihre Sicherheit aus – AHV, IV und ALV nicht mitgerechnet. Dies spricht dafür, dass sich die Risikofreude hierzulande in eher engen Grenzen hält. Der entscheidende Punkt ist aber, ob das Auslagern von Unsicherheit aus freiem Willen geschieht oder ob es systemisch durch den Staat geregelt ist. Letzteres führt zu systematischer Abstumpfung der individuellen Leistungsfreude.

Es macht uns träge und fett. Damit schaden wir uns selbst. Darum: machen wir aus der Not eine Tugend. Begrüssen wir die Unsicherheit als positive Grösse. Wir können sie fruchtbar machen, indem wir sie in einen Faktor der Motivation für Produktivität und Kreativität ummünzen.

* Zuletzt SMH-Ausgabe 973 (Roland Baader: «Wie wir uns betrügen»).

Florian Rittmeyer, geboren 1982, hat Internationale Geschichte und Politik in Genf studiert und absolviert ein Praktikum in der Redaktion der «Schweizer Monatshefte».

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