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Schmetterlingseffekt

Hans Ulrich Obrist ist viel unterwegs: im Zeichen der Kunst pendelt der Kurator zwischen den Metropolen. Im Gespräch spricht er über seine früh ausgeprägte Grossstadtsehnsucht, seine Schlafexperimente, das Prinzip «ordine e disordine» und Ai Weiwei.

Schmetterlingseffekt

Hans Ulrich, was macht die Kunst?

«Parallele Realitäten» umschreiben es wohl recht gut: in meiner Hauptaufgabe als Co-Director der Serpentine Gallery in London arbeite ich an den nächsten Ausstellungen von Lygia Pape und Hans-Peter Feldmann. Soeben schloss der Gartenpavillon von Peter Zumthor und der Garten von Piet Oudolf mit dem diesjährigen
Gesprächsmarathon, der sich dem Thema «Garten» widmete und so unterschiedliche Künstler, Architekten und Theoretiker wie
Richard Sennett, Dan Graham, Elizabeth Diller oder Wolfgang Tillmans zusammengebracht hat. Gerade bereite ich einen weiteren Gesprächsmarathon für Buenos Aires vor.

Was du in deiner Aufzählung nicht erwähnt hast: deine vielen Publikationen. Herrschen da auch parallele Realitäten?

Kann man sagen. Im Jahr sind es gut 10 bis 12 Publikationen. Zusammen mit Rem Kohlhaas habe ich eben ein Buch über die japanische Architekturbewegung Metabolismus herausgebracht. Derzeit schreibe ich an einem zweiten Buch über das Kuratieren und Anfang 2012 kommt ein Band zum Thema Interview und Künstlergespräch heraus. Daneben führe ich die monographischen Interviewbücher mit Walther König weiter, Dan Graham und SANAA sind als nächstes geplant.

Kürzlich kam dein Interviewband mit dem bis vor kurzem inhaftierten chinesischen Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei auf Deutsch heraus…

…richtig. Das Buch versammelt meine Interviews mit Ai Weiwei zu vielen Aspekten seiner Arbeit: Kunst, Architektur, Design, Blog, Poesie und auch Aktivismus. Leider kann Ai Weiwei zurzeit keine weiteren Interviews geben.

Das Künstlerinterview hat bisher eher ein Nischendasein gefristet. Du hast es zu einer populären Form der Kunstvermittlung, ja fast schon zu einer Kunstform erhoben.

Aus einem einfachen Grund: Ich wollte jeden Tag lernen. Es ging immer um Neugierde. Die kann nur gestillt werden, wenn ich Gespräche führe und neue Dinge herausfinde. Es ist wirklich fast eine existenzielle Notwendigkeit, ich kann ohne das nicht leben. Wichtig war mir auch immer, dass die Gespräche in die Vertikale und in die Horizontale wachsen: Dadurch, dass man mit denselben Künstlern über mehrere Jahre hinweg mehrmals spricht, erreichen die Interviews eine Nachhaltigkeit. Und: um die Kräfte der Kunst zu verstehen, muss man immer auch in andere Disziplinen hineinschauen. Deshalb spreche ich auch nicht nur mit Künstlern.

Du führst diese Interviews nun bereits seit über 15 Jahren, dein Archiv muss riesig sein.

Es umfasst über 2200 Stunden. Und es wächst…

Wie behältst du den Überblick über dein vielfältiges Schaffen – Ausstellungen, Bücher, Talks?

Was das Gesprächsarchiv betrifft, so halte ich es mit Alighiero Boetti: ordine e disordine. Das ist immer Ordnung und Unordnung zugleich. Es ist insofern organisiert, als es möglich war, darin relativ schnell die sieben Interviews zu finden, die ich im Verlauf der letzten 10 Jahre mit Ai Weiwei geführt habe, und daraus innert einer Woche ein fertiges Buch zu machen. Chronologisch oder sonstwie systematisch organisiert ist das Archiv aber nicht – und vieles muss auch noch digitalisiert werden. Ein Problem ist, dass ich so viel produziere, dass die Produktion der Archivierung davonläuft.

Wer wacht über dieses Archiv?

Ich schicke immer eine Kopie von allem – von jeder Einladungskarte und jeder Pressemeldung – an zwei Orte. Einerseits an mein eigenes Archiv und andererseits zu Joseph Grigley, einem amerikanischen Künstler, der in einem Werk einen Kurator thematisieren wollte und deshalb begonnen hat, meine ganze Bibliographie zu erstellen. Das sind bis heute etwa 300 bis 350 Bücher und rund 200 bis 250 Ausstellungen. Ich glaube selber, dass es erstickend ist, wenn man sich selbst zu sehr mit seinem Archiv beschäftigt. Man wird schnell zum Verwalter der eigenen Vergangenheit und produziert keine Zukunft mehr. Da muss man aufpassen, denn: man ist immer nur so gut, wie das nächste Interview oder die nächste Ausstellung.

Diese Disziplin kann nur durch ein gutes Zeitmanagement aufrechterhalten werden. Es gibt Legenden über dich, die besagen, dass du pro Nacht nur 3 Stunden schläfst, dafür aber am Tag rund 50 Tassen Kaffee trinkst. Was ist dran an diesen Geschichten?

Heute spielt der Kaffee keine Rolle mehr. Wie du siehst, trinken wir hier Tee. In den 90er Jahren gab es aber tatsächlich mal diese 50 Tassen am Tag. Ich war fasziniert von Honoré de Balzacs Output an Büchern und habe gelesen, dass er von sehr viel Kaffee angetrieben war… das war der Auslöser. Eine Zeitlang habe ich auch mit dem Schlaf experimentiert und nach dem sogenannten «Da-Vinci-Rhythmus» gelebt – 15 Stunden wach, 3 Stunden schlafen, dann wieder 15 Stunden wach. Das liegt aber weit zurück. Auf Dauer lässt sich so etwas nicht durchhalten. Ich schlafe nun verhältnismässig normal: also 5 bis 6 Stunden pro Nacht.

Und was geschieht tagsüber: Wie sieht ein Arbeitstag von HUO aus?

In den 90er Jahren bin ich 350 Tage im Jahr durch die Gegend
gefahren, oft in Nachtzügen und oftmals war mein Koffer das Büro, alles war in Bewegung. Seit 2000 hat sich das geändert: ich habe nun ein festes Büro samt Sekretärin. Ich stehe zwischen 5 und 6 Uhr auf, schreibe ein bisschen, gehe dann in den Park laufen und gegen 8 für etwa rund 12 Stunden ins Büro. Der Tag endet dann wieder mit Schreiben. Normalerweise bin ich wochentags in London und an Wochenenden auf Recherchereise für freie Projekte. Harald Szeemann hat mich einst auf die Möglichkeit einer Mischexistenz vom abhängig-unabhängigen Kurator aufmerksam gemacht: man kann in einem Museum arbeiten und gleichzeitig auch unabhängige Ausstellungen machen.

Wie gehst du auf diesen Recherchereisen vor, was passiert da?

Wie ein Architekt dort arbeitet, wo seine Gebäude entstehen,
arbeite ich dort, wo meine Ausstellungen entstehen. Wenn ich unterwegs bin, ist das immer sehr fiebrig, weil die Reisen jetzt kürzer sind. Das sind verschachtelte, komplexe Tage mit Dutzenden von Meetings und Atelierbesuchen. Eigentlich sind meine Recherchen Marathons: innert kürzester Zeit möglichst viel über einen Ort lernen, das ist die erste Methode. Die zweite ist, ein möglichst breites Recherchenetzwerk zu haben und mit vielen Leuten aus verschiedenen Kontexten zu sprechen: Künstlern,
Galeristen, Kuratoren, Kritiker etc.

Wie kamst du zur Kunst? Was war das Initialerlebnis? Deine ersten Helden?

Als 10jähriger habe ich in einer Thurgauer Papeterie Postkarten von Picasso, Braque und Renoir entdeckt. Die eigentliche «epiphany» verdanke ich aber dem Schweizer Künstlerduo Fischli/Weiss. Als ich in deren Atelier ihren Film «Lauf der Dinge» sah, wusste ich: mit dem will ich im Leben zu tun haben. Wenig später kamen dann die ersten Begegnungen mit Gerhard Richter und Christian Boltanski. Und anfangs 20 habe ich die Kuratoren Kasper König und Suzanne Pagé getroffen. Sie wurden meine Mentoren. Einen ganz entscheidenden Einfluss hatte auch Alberto Giacometti.

Interessant, inwiefern?

Ich war als Jugendlicher magnetisch von diesen dünnen langen Figuren angezogen und immer wieder nach Zürich gefahren, um sie mir im Kunsthaus anzuschauen; ich habe alles über ihren Schöpfer gelesen. Irgendwie war es so logisch, dass ich eines
Tages selbst nach Paris ging. Für Giacometti war die Grossstadt ausschlaggebend, und da habe ich mir überlegt, dass es für meine Arbeit als Vermittler auch wichtig sein müsste, die Schweiz zu verlassen. Ich fühlte, dass ich, um wirklich vermitteln zu können, die Verbindungen und die Komplexität einer Grossstadt brauche. Interessanterweise wurde Giacometti dann in Paris auch zu meiner ersten Museumserfahrung, als mich Suzanne Pagé eingeladen hat, einen Katalogtext über Giacometti und die Gegenwart zu schreiben. Das war zugleich auch der Anfang des Interviewprojekts: wir haben Zeitzeugen, die Giacometti gut gekannt haben, für den
Katalog befragt: Henri Cartier-Bresson, Balthus, Serge Brignoni und andere.

Dir war damals schon klar, dass du die Schweiz Richtung Paris verlassen wirst?

Mir war schon mit 12 klar, dass ich die Schweiz verlassen will. Sie ist zwar ein Paradies für Kunst – es gibt eine sehr reiche Museumslandschaft –, und trotzdem hat etwas immer gefehlt: die Grossstadt. Auch deshalb habe ich im Gymnasium begonnen, sechs Sprachen zu lernen: um die Reise vorzubereiten. Andererseits ist meine Utopie flexibel. In einer komplexen Welt muss man das Unvorhersehbare auch einbeziehen. In diesem Sinne gab es nie einen Karriere-plan, es gab immer nur eine Dringlichkeit und eine Notwendigkeit und die Idee, dass man alles an einem Tag zu machen versucht, denn es kann ja sein, dass es der letzte ist.

Wenn es keinen Masterplan gab: Wie hast du dann konkret den Schritt raus aus der Schweiz geschafft?

Die Giacometti-Geschichte in Paris ist nicht aus heiterem Himmel gekommen; ich hatte zuvor aufgrund meiner Ausstellung «world soup» 1991 in meiner St.Galler Studentenwohnung ein Stipendium der Cartier-Stiftung erhalten. Mit ganz vielen Büchern bin ich dann nach Paris gefahren und habe begonnen, zu schreiben und Hunderte von Ateliers zu besuchen. Diese Recherchen haben mich mit Suzanne Pagé vom Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris zusammengeführt. Daraus entstand zunächst eine freie Mitarbeiterschaft, ab 2000 wurde ich fester Kurator und ein paar Jahre später kam der Ruf nach London an die Serpentine Gallery.

Auf deinem Parcours hast du über 200 Ausstellungen an ganz unterschiedlichen Orten – vom Säntis bis zur Kläranlage – kuratiert. Gibt es einen Ort oder ein Gefäss, das dich nach all den Erfahrungen noch reizt?

Ja, sonst müsste ich ja gleich aufhören. Es gibt eine grosse Anzahl von Dingen, die ich machen will, ich habe nie den Eindruck, an einen Punkt zu gelangen, an dem nichts mehr folgt – andernfalls müsste man das Medium wechseln. Denn Routine ist der grösste Feind der Aussteller. Es muss immer sein wie bei der ersten Ausstellung, es muss Begeisterung im Spiel sein –  wenn die weg wäre, dann würde ich sehr wahrscheinlich mit dem Ausstellungmachen aufhören.

Was wäre so ein Wunschprojekt?

Da ist etwa der Palast der unrealisierten Projekte, ein transdisziplinärer Fun-Palast, der Wissenschaft, Kunst, Musik und Literatur in einem Ort vereinen würde. Auch gibt es den grossen Wunsch, eines Tages mit Jean-Luc Godard eine Ausstellung zu machen… und mir fehlt die Lebenserfahrung in der nichtwestlichen Welt. Ich war zwar sehr häufig ausserhalb Europas, habe aber nie mein Lebenszentrum dorthin verlegt.

Und auf der Haben-Seite: Welche früheren unrealisierten Projekte hast du in den letzten Jahren fertigstellen oder in Angriff nehmen können?

Lange Zeit habe ich vornehmlich in der Kunstwelt für die Kunstwelt mit der Kunstwelt kommuniziert – das hat sich stark verändert. Seit ich in London bin, arbeite ich viel stärker nach der «maya»-Idee.

Das heisst?

«Most advanced yet acceptable» – wie die Künstler zur Zeit der nouvelle vague und des nouvel roman, die darauf bedacht waren, experimentelle Projekte zu realisieren, aber dennoch eine breite Öffentlichkeit anzusprechen. So versuche ich, experimentelle Kunst zu zeigen und gleichzeitig ein Publikum zu erreichen, das über die enge Kunstwelt hinausreicht.

Wie erfolgreich gelingt dir dieser Spagat zwischen Experiment und Mainstream?

Die Serpentine Gallery hat 800 000 Besucher pro Jahr. Wir hatten letztes Jahr bei der Wolfgang- Tillmans-Ausstellung einen Rekord von 210 000 Besuchern, was für eine Gegenwartskunst-Schau viel ist. Unser temporärer Sommerpavillon wird von 150 000 bis 200 000 Menschen besucht, das sind so viele wie an der Architekturbiennale in Venedig. Kurz: Das ist wirklich Kunst für alle. Und gleichzeitig trotzdem ein Programm, das versucht, experimentell zu sein, eben: «maya». Ich glaube, dass das für unsere jetzige Zeit sehr wichtig ist: Experimente machen und stabile «Passerellen in die Gesellschaft» bauen, wie Félix Fénéon sagte.

Welche Themen, Tendenzen oder Medien kristallisieren sich für dich derzeit in der zeitgenössischen Kunst heraus?

Wir leben in einer Zeit der post-medium-condition, wo Künstler oft verschiedenste Medien parallel einsetzen. Die Praxis auf ein einziges Medium zu reduzieren, ist sehr schwierig geworden. Man kann aber feststellen, dass es Gegenstände und Themen gibt, die spartenübergreifend auf verschiedenen Feldern eine Rolle spielen. Philippe Parreno meint etwa, dass «Widerstand» ein grosses Thema unserer Zeit sei, und von Matthew Barney habe ich mitgenommen, wieder vermehrt über die Liveerfahrung nachzudenken. Die Kunstprojekte im Rahmen des Manchester International Festival sind eine Folge davon. Temporalität ist auch bei meinen Vortragsmarathons ein zentrales Merkmal, ebenso bei den Pavillons im Hyde-Park. Weitere zentrale Zeitthemen sind Ökologie und Nachhaltigkeit. Es ist sicher kein Zufall, dass so viele Künstler zurzeit an Gärten arbeiten.

Wie sieht es mit der Nachhaltigkeit der Kunst selber aus?

Es ist sehr erstaunlich, wie sich grosse Kunstwerke immer wieder neu aufladen können. Wer sich Francisco Goya oder Nancy Spero anschaut, denkt heute dabei vielleicht auch an Libyen! Und: du kennst sicher den Schmetterlingseffekt. Ähnlich verhält es sich in der Kunst: sie kann durchaus die Welt verändern. Oftmals in ganz kleinen Dingen, die sich dann in der longue durée als sehr bedeutend erweisen.

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