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Mathias Binswanger, zvg.

Schlanke Schleckmäuler

Die Schweizer Bevölkerung konsumiert viel Zucker. Trotzdem ist Übergewicht im Vergleich zu anderen Ländern wenig verbreitet. Das spricht gegen drastische staatliche Eingriffe.

 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass ein überhöhter Zuckerkonsum zu den grossen Feinden der menschlichen Gesundheit zählt. Der vielen Lebensmitteln im Übermass zugesetzte Zucker gilt als wesentliche Ursache für Fettleibigkeit und Folgeerkrankungen wie Diabetes. Die WHO empfiehlt deshalb, den Konsum von Zucker auf maximal 10 Prozent der Energiezufuhr einzuschränken. Wird von einer täglichen Zufuhr von 2000 Kilokalorien ausgegangen, dann entspricht dies einer täglichen Ration von 50 Gramm Zucker. Der tägliche Konsum von Zucker in der Schweiz liegt heute gemäss dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) aber weitaus höher: Er wird auf 110 Gramm pro Person und Tag geschätzt. Der Bundesrat hat deshalb beschlossen, den Zuckerkonsum der Bevölkerung schrittweise einzudämmen.

2015 unterzeichneten zehn Schweizer Firmen, darunter Migros, Coop, Nestlé und Emmi, auf Initiative des Innendepartements von Bundesrat Berset die Erklärung von Mailand. Mit der Unterschrift verpflichteten sie sich, die Rezepturen ihrer Produkte zu überprüfen und wo möglich den Zucker in ihren Joghurts und Frühstückscerealien im Verlauf der nächsten Jahre schrittweise zu reduzieren. Zwei Jahre später schlossen sich vier weitere Firmen der Erklärung an, unter anderen der Müeslihersteller Kellogg Schweiz. Eine erste Analyse aus dem Jahr 2019 bewertet das Abkommen als Erfolg. Im Zeitraum von 2016 bis 2018 wurde der zugesetzte Zucker in Joghurts um 3,5 Prozent und in Frühstückscerealien um 13 Prozent reduziert. Das ist zwar zumindest bei den Joghurts kaum der Rede wert, aber geht immerhin in die erwünschte Richtung. Mit der Unterzeichnung einer Fortsetzungserklärung im Jahr 2019 versprachen die beteiligten Unternehmen weitere Schritte: Bis 2024 soll der zugesetzte Zucker in Joghurts um 10 Prozent und in Frühstückscerealien um 15 Prozent reduziert werden.

Grundsätzlich ist gegen eine Förderung gesunder Ernährung nichts einzuwenden. Wir wissen alle, dass wir nicht zu viel Zucker, Salz, Fett, Fleisch, Alkohol, Kaffee oder Burger konsumieren sollten. Aber soll der Staat deshalb Kampagnen zur Reduktion des Konsums von Zucker, Salz, Fett, Alkohol, Kaffee oder Junkfood lancieren? Die meisten Menschen sind wahrscheinlich der Meinung, dass der Staat sich nur dann in das Ernährungsverhalten der Menschen einmischen soll, wenn dieses Verhalten nachweisbare gesundheitliche Schäden verursacht. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Schweizerinnen und Schweizer tatsächlich zu viel Zucker konsumieren, wie dies Studien nahelegen.

Schweizer mögen Zucker

Betrachten wir den Zuckerverbrauch in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern, dann lag dieser gemäss Zahlen der International Sugar Organization im Jahr 2019 bei 39 Kilogramm pro Kopf und Jahr, während er in der EU bei 35 und in den USA bei 31 Kilogramm pro Kopf lag. Nach diesen Zahlen wäre der Verbrauch in der Schweiz tatsächlich relativ hoch. Nimmt man allerdings Zahlen des Schweizerischen Bauernverbandes, dann liegt der Zuckerkonsum pro Kopf auch in der Schweiz nur bei rund 35 Kilogramm pro Jahr und damit etwa gleich hoch wie in der EU. Die Diskrepanz in den Zahlen zeigt, dass bei internationalen Vergleichen des durchschnittlichen Zuckerkonsums Vorsicht geboten ist. Es existieren verschiedene Zahlen, die auf unterschiedlichen Schätzungen beruhen.

Grossandrang an einem heissen Sommertag im Mai 2017 vor der Gelateria di Berna in Zurich. Bild: Walter Bieri/Keystone.

Man kann sich aber auch fragen, ob solche Verbrauchszahlen pro Kopf überhaupt relevant sind. Nicht der Zuckerkonsum an sich ist nämlich gemäss gesundheitspolitischem Fokus das Problem, sondern die unnötig hohe Konzentration an Zucker in bestimmten Lebensmitteln, also in Produkten wie Süssgetränken oder Joghurts. Deren Konsum lässt sich international nur schwer vergleichen, da die verwendeten Kategorien von Land zu Land differieren. Es liegen aber Befragungen vor, welche das Ernährungsverhalten von Jugendlichen im Alter von 11, 13 und 15 Jahren erfassen. Diese Daten publiziert die WHO in einem Bericht unter dem Titel «Spotlight on Adolescent Health and Well-Being». Die dort publizierten Daten zeigen, dass Schweizer Jugendliche im Vergleich zu anderen Ländern relativ häufig Süssgetränke zu sich nehmen. Allerdings sind Schweizer Jugendliche auch Weltmeister im Zähneputzen: In keinem anderen Land werden die Zähne noch häufiger geputzt, wodurch zumindest die kariesfördernde Wirkung der Zuckerkonsums entschärft wird.

Folgeschäden halten sich in Grenzen

Wie steht es aber um die vermuteten Folgeschäden eines überhöhten Zuckerkonsums in der Schweiz? Lässt sich in der Schweiz eine überdurch­schnit­tliche Anzahl von Men­schen mit Übergewicht oder Fett­leibigkeit feststellen? Die von der OECD veröffentlichten Zahlen deuten darauf hin, dass der Anteil in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern tief und seit 2012 weitgehend stabil ist. Der Anteil ist niedriger als in allen umliegenden Ländern und viel niedriger als in den USA. Auch bei Jugen­dlichen ist der Anteil der Übergewichtigen im inter­nationalen Vergleich gering, wie die Daten aus der WHO-Publikation zeigen.

«Eine hohe Steuer auf Zucker hiesse,

mit Kanonen ­auf Spatzen zu schiessen.

Und eine geringe Steuer ­würde

nur zu Bürokratie führen,

ohne dass damit eine zwingende

Wirkung verbunden wäre.»

Insgesamt deuten die vorliegenden Zahlen darauf hin, dass Übergewicht in der Schweiz kein stark verbreitetes Phänomen ist. Drastische Massnahmen wie Steuern oder Verbote zur Eindämmung des Zuckerkonsums drängen sich somit nicht auf. Das gilt insbesondere für die auch hierzulande immer wieder kursierende Idee, eine Zuckersteuer einzuführen. Eine hohe Steuer auf Zucker hiesse, mit Kanonen auf Spatzen zu schiessen. Und eine geringe Steuer würde nur zu weiterer Bürokratie führen, ohne dass damit eine zwingende Wirkung verbunden wäre.

Das heisst nicht, dass der Staat sich gar nicht um den Zuckerkonsum kümmern soll. Doch es geht nicht darum, den Zuckerkonsum an sich einzudämmen, sondern spezifische Formen des vermeidbaren Überkonsums. Im Zentrum steht dabei die Reduktion von un­gesund hohen Zuckerbeimischungen bei verschiedenen Lebensmitteln. Die erwähnte Erklärung von Mailand, eine freiwillige Vereinbarung zwischen dem Bund und Lebensmittelherstellern, dient gerade diesem Zweck. Es ist zu begrüssen, wenn der Bund die schon für Joghurts und Frühstückscerealien geltenden Massnahmen auch auf Süssgetränke, Milch- sowie Quarkprodukte ausdehnt. Ein runder Tisch zwischen Vertretern des Bundes und der Lebensmittelindustrie hat Anfang November letzten Jahres stattgefunden, laut Presseberichten ist bei Süssgetränken eine Reduktion des Zuckers um 20 Prozent angedacht.

Suche nach dem Optimum

Es bleibt aber die generelle Frage, inwieweit der Staat die Bevölkerung zu gesundem Ver­halten bewegen oder sogar zwing­en soll. Wo beginnt Pater­nalismus und ab wann wird er zum Zwangsregime? Dis­kussionen über dieses Thema sind wichtig, da in immer mehr Ländern Anstrengungen unternommen werden, den Bürgerinnen und Bürgern ein gesundes Leben vorzuschreiben. Doch was ist über­haupt ein gesundes Leben? Aus der Glücks­forschung wissen wir: Weder ein ungesundes noch ein übertrieben gesundes Leben macht die Menschen glücklich. Eine zu starke Fixierung auf die Gesundheit hindert daran, das Leben zu geniessen. Es geht darum, das Optimum an Vorsorge zu finden und nicht einer Gesund­heitsobsession zu verfallen. Auch in der aufgeladenen Zuckerdebatte.

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