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Schlafende, zum Sprechen gebracht

Friederike Kretzen: «Weisses Album». Zürich: Nagel & Kimche, 2007.

Wer in Westdeutschland elf Jahre nach Kriegsende zur Welt kommt, ist nicht «geboren, sondern gestorben» – so stellt es sich zumindest für Elschen im Rückblick auf die Vergangenheit dar. Zusammen mit ihren Kindheitsfreundinnen Gitti und Hanna beschwört sie Jahrzehnte später Landschaften, Stimmungen und Ereignisse herauf, die sich in dreiunddreissig Traumbildern zu einer gemeinsamen Biographie verdichten, einer Biographie der Seele allerdings oder des Bewusstseins.

So erklärt sich auch, dass «Weisses Album», trotz einem dreistimmigen Ansatz, klingt wie ein – vielfach gebrochener, reich modulierter – Monolog. Wenn die drei Freundinnen von Geburt an ihr Leben in einer Art Dornröschenschlaf verbringen, so bedingt dieser Schlaf eine Durchlässigkeit des Bewusstseins. Und diese Durchlässigkeit für die Gedanken, Erfahrungen und Gefühle anderer erstreckt sich auf die Welt der Lebenden und der Toten, auf das – historisch – Vergangene wie auf die Gegenwart. Selten werden die Möglichkeiten des Traums in der aktuellen Literatur so schöpferisch, so bildkräftig genutzt wie im jüngsten Roman von Friederike Kretzen – einem Roman, bei dem das Bewusstsein eigentlicher Schauplatz ist und die Handlung aus einem kommunikativen Erinnerungsprozess heraus entsteht, der von Anfang bis Ende die Züge eines Traums trägt – auch wenn Hanna, von den Dreien vielleicht die Protokollantin, die das zeiten- und weltenumspannende Gespräch auf Papier bannt, an einer Stelle sagt: «Wir haben nie geträumt. Wir kamen nicht dazu. Standen nur da und nannten es Traum. Mitten am Tag und ohne Aussicht.» Diesen negativen Traumbegriff assoziiert Hanna mit einer Kindheit, in der sie und ihre Freundinnen, mehr oder weniger implizit, zur Passivität, zum Stillhalten, zum Nichtfragen angehalten werden; das führt zu diesem langen Lebensschlaf, in dem alle Zeit- und Bewusstseinsebenen ineinander übergehen, in dem Märchen, Heiligenlegenden, skurrile Anekdoten und die Schrecken des Krieges von gleichem Wirklichkeitsgehalt sind. Nicht von ungefähr verkörperten Gitti, Elschen und Hanna im Schultheater die «Drei Schwestern» von Tschechow – geradezu berüchtigte Träumerinnen, denen das ersehnte Leben versagt blieb. Wenn einem das Leben aber tatsächlich versagt bleibt, so lässt die Lektüre des «Weissen Albums» keinen Zweifel daran, dass die Gründe dafür noch vor der Geburt zu suchen sind, in einer menschen- und lebensfeindlichen Geschichte.

besprochen von Patricia Klobusiczky, Berlin

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