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Scheiternde Elite

Der Zorn auf die politische und ökonomische Elite wächst, je länger die Krise anhält. Ob sie eine Schuld dafür trifft oder nicht – von jenen, die (sich) zur Elite zählen, wird erwartet, dass sie die Verantwortung übernehmen. Martin Wolf über den wichtigen Unterschied zwischen Opernsängern und Hedge-Fonds-Managern.

Scheiternde Elite
Martin Wolf, photographiert von Philipp Baer.

Wir haben uns vor drei Jahren schon einmal in St. Gallen getroffen. Sie erinnern sich?

Wir sprachen damals über das Schreiben und die Macht.1

Genau. Das ist auch unser Business. Wie viel gesellschaftliche Macht haben Publizisten?

Ich sage das Gleiche wie damals: eigentlich keine – Sie können niemanden zwingen, das zu tun, von dem Sie glauben, es sei das Richtige. Die publizistische Ohnmacht stört mich aber nicht. Ich schreibe nicht, um Einfluss zu nehmen. Ich schreibe, weil Schreiben ausserordentlich unterhaltend ist.

Unterhaltend für wen?

Zuerst einmal für mich selbst. Schreiben ist ein Handwerk, und wie ein Handwerker verspüre ich eine ureigene Freude an meinem Tun. Ich schreibe, weil ich meine eigenen Ideen strukturieren möchte; sind sie erst mal in strukturierter Form auf Papier gebannt, kann ich sie vergessen – und bin auf der Suche nach neuen Ideen. Mit meiner Arbeit verbinde ich die Hoffnung, dass die Leute meine Texte lesen, weil ihnen dies hilft, ihre eigenen Ideen zu ordnen. Das kann auch dadurch geschehen, dass sie sich Woche für Woche verpflichtet fühlen, dem zu widersprechen, was ich sage.

Sie üben sich in britischem Understatement. Lassen Sie uns über die heutige Rolle der Elite reden. Sie sind Teil davon.

Absolut. Ich schreibe für die «Financial Times», die definitiv eine elitäre Zeitung ist.

«Elitär» ist zu einem Reizwort geworden. Das klingt nach Geheimzirkel und selbsterkannter Exzellenz. Was ist das heute, die Elite?

Ich würde mal so beginnen: Man kann sie nicht definieren, aber man erkennt sie, sobald man sie sieht. In der modernen Gesellschaft sind die Grenzen ohnehin fliessend. Aber es gibt sie, die Elite, genauer gesagt, ganz verschiedene Eliten. Zum Beispiel künstlerische Eliten. Wir wissen, wer die musikalischen Eliten sind. Nämlich jene, die jedermann hört – es sind also die Rezipienten, die die Elite auswählen, und nicht umgekehrt. Ich agiere innerhalb der Elite von politischen Entscheidungsträgern im Bereich der Ökonomie. Dazu zählen Zen­tralbankchefs, Finanzminister, Nobelpreisträger der Ökonomie – und eben ein paar Publizisten, wobei ich nicht mal dran bin an der Spitze der Elite. Zur ökonomischen Elite gehören heisst heute oftmals weniger Originalität als vielmehr: bekannt sein, ein Publikum haben, gehört werden. Damit hängt zusammen, dass Eliten heutzutage auch nicht mehr hauptsächlich national geprägt sind, sondern eher global oder semiglobal. Damit einher geht zwangsläufig eine gewisse Abgehobenheit. Ich sage das nicht gerne, aber so viel Redlichkeit muss sein.

Wer in der Musik oder im Sport reüssiert, kann mit der Zustimmung der Leute rechnen, egal, wie viel er verdient, und unabhängig davon, was er in seinem Privatleben treibt. Warum rümpfen die Bürger eher die Nase, wenn es um Eliten aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft geht?

Interessante Frage. Lassen Sie mich mal kurz nachdenken. Wenn jemand ein grossartiger Opernsänger ist, erkennen die Leute sofort dessen Talent. Sie anerkennen, dass sie selber nicht können, was der andere vermag – und zollen ihm Respekt, manchmal auch Bewunderung. Zweitens bereitet ihnen der Opernsänger durch seine Tätigkeit Freude. Das ist auch der Grund, warum niemand etwas gegen Herrn Federer einwenden kann, ausser seine Gegner natürlich. Das Problem mit Eliten in Wirtschaft und Politik ist: sie haben Macht. Die Allgemeinheit mag Macht nicht, weil sie als etwas gesehen wird, das letztlich stets unverdient ist. Solange die Dinge funktionieren, muckst niemand auf. Zuweilen hegen die Leute sogar eine stille Bewunderung für die politisch-wirtschaftlichen Eliten. Die Zentralbanker standen vor dem letzten Crash hoch im Kurs, die Banker wurden in Wirtschaftsmagazinen abgefeiert als Akteure, die ihren eigenen Wohlstand, aber eben auch jenen des Mannes und der Frau von der Strasse mehren. Doch sobald sich die nächste Krise abzeichnet, werden die Eliten dafür verantwortlich gemacht. Die Leute sagen sich: Die angeblichen Eliten sind gar keine Eliten, sie haben ihre Macht missbraucht bzw. nicht genutzt. Sie haben einen schlechten Job gemacht – und anders als Federer können diesen Job eben auch andere erledigen. Mit den Eliten in Wirtschaft und Politik können sich alle vergleichen – und alle können das Gefühl haben, sie wären eigentlich besser geeignet, den Job zu übernehmen.

Und – haben die Leute recht?

Sie haben nicht recht, wenn sie glauben, sie könnten den Job besser erledigen. Aber sie haben insofern recht, als sie Eliten an das erinnern, was diese selbst von sich glauben: Wer sich den Erfolg einer Entwicklung zuschreibt, muss auch bereit sein, Verantwortung für den Misserfolg zu übernehmen. Vielleicht sind beide Zuschreibungen falsch – und das Glück spielt eine viel grössere Rolle als das individuelle Verdienst. Das spielt jedoch in diesem Fall keine Rolle. Was zählt, ist, dass sich die Leute an der Spitze Verdienste zuschreiben – und dass sie von anderen in schwierigen Momenten genau daran erinnert werden.

Sind moderne Demokratien aufgrund der herrschenden egalitären Ideologie nicht per se elitefeindlich?

In Demokratien besteht eine Art stillschweigender Vertrag zwischen Eliten und Volk: Die Leute akzeptieren, dass die Eliten eine Rolle spielen, und zwar unter einer Voraussetzung: Eliten handeln so, dass ihr Handeln der Mehrheit in der Gesellschaft zugute kommt. Wenn die Eliten gegen diesen Vertrag verstossen, wenn sie sich bereichern, während andere die Zeche bezahlen, nun, dann werden die Leute richtig wütend. Eliten sind also, ob sie wollen oder nicht, in Demokratien stets irgendwie rechenschaftspflichtig.

Auch Spitzenpolitiker, mittlerweile die beliebtesten Objekte medialer und öffentlicher Häme, sind nur Menschen. Inwiefern hängt deren Prestige auch davon ab, ob sie den Elitestatus gleichsam geschenkt bekommen oder sich selbst verdient haben?

Nehmen wir die britische Politik: Fast niemand, der in England in der Nachkriegszeit eine politische Karriere machte, war Nachkomme bedeutender Politiker. Natürlich genossen viele die Vorteile einer privilegierten Bildungslaufbahn und eines guten Elternhauses. Winston Churchill war Enkel eines wichtigen Staatsmannes, aber seine Karriere war überhaupt nicht vorgespurt. Kurz: wir hatten eine politische Elite, deren Status nicht vererbt worden war. Die Amerikaner hingegen hatten eine stark vererbte politische Elite – es sind einzelne Familien und Clans, die den Ton angeben. Wie haben die Leute reagiert? Eigentlich ziemlich identisch: mit stiller Bewunderung in guten und offener Ablehnung in krisenhaften Zeiten.

Das trifft auf die Politik zu. Doch gelten für Vertreter der Wirtschaftselite, die es aus eigener Kraft zu Wohlstand gebracht haben,
andere Regeln.

Zu Recht! Hier geht es um persönlichen Reichtum, nicht um öffentliche Macht. Vor allem in den USA geniessen Leute, die grosse Vermögen durch eigene Leistung geschaffen haben, ein ganz anderes Ansehen als solche, die das Vermögen geerbt haben. Die Menschen bewundern Personen wie Warren Buffett, Bill Gates oder Larry Page. Es verhält sich ähnlich wie im Falle des Ansehens von Roger Federer: Die Leute können die Leistung nachvollziehen, die hinter einem Turniersieg steckt. Sie verstehen, was es bedeutet, Risiken einzugehen, ein grosses Geschäft aufzuziehen und dank persönlichem Einsatz und Geschick ein Vermögen damit zu machen. Sie verstehen aber weit weniger, wie man als Fundmanager oder Vermögensverwalter riesige Geldsummen scheffeln kann. Als herauskam, dass Hedge-Fonds-Manager mehrere Milliarden Dollar pro Jahr verdienten, wollten die Leute nicht akzeptieren, dass dies in Ordnung sein soll.

Das soziale Empfinden ist aus Ihrer Sicht also intakt: Die meisten Leute vermögen zwischen den Leistungen derer zu unterscheiden, die auf eigenes Risiko handeln, und jener, die mit fremdem Geld hantieren.

Ich bin hier in der Tat ziemlich optimistisch. Sie nicht?

Um ehrlich zu sein: nicht wirklich. Wer nie unternehmerisch unterwegs war, kann sich kaum vorstellen, was es bedeutet, auf eigene Rechnung zu wirtschaften – der existenzielle Stress ist beträchtlich. Und er ist es ja, der zu Höchstleistungen anspornt.

Klar, Unternehmer gehen das Risiko des Totalverlusts ein. Aber sie sind nicht die einzigen, die existenziellen Stress verspüren – ich denke, das tun wir alle. Deshalb können die meisten Menschen auch nachvollziehen, was es bedeutet, richtig ins Risiko zu gehen.

Machen es sich viele Bürger nicht zu leicht, wenn sie «denen da oben» die Verantwortung für die missliche Lage in die Schuhe schieben? Wer anderen die Schuld gibt, kann so tun, als sei er selbst nicht mehr Teil des Problems.

Ich stimme Ihnen zu. Und ich verbinde dies sogleich mit einer Selbstkritik: Weil ich die Finanzkrise nicht kommen sah, war ich ganz klar auch Teil des Problems, in dem wir nach wie vor stecken. Wenn sich die Geschicke der Welt zum Schlechten wenden, gibt es zwei mögliche Ursachen dafür. Die eine ist Pech. Die andere ist, dass jemand Fehler gemacht hat. Wenn die Dinge wirklich übel laufen, nehmen die meisten Leute an, es sei eine Kombination beider Ursachen. Nur, wie gesagt: die Elite hat den Leuten zuvor immer wieder erklärt, dass sie es verdient hätten, die Elite zu sein. Sie stehen an der Spitze, weil sie sagten, sie könnten das Schiff steuern; sie wurden befördert, weil sie behaupteten, sie wären qualifizierte und brillante Geschäftsleute. Lassen Sie mich Klartext reden: Diese Leute behaupteten, sie würden das System durchschauen und beherrschen. Haben sie aber nicht. Wenn man also beabsichtigt, Teil der Elite zu werden, ist es absolut unerlässlich, dass man einen Teil, um nicht zusagen einen Grossteil der Verantwortung übernimmt für Dinge, die schlecht laufen. Und dies selbst dann, wenn man keine unmittelbare Schuld daran hat. Das ist hart – aber so ist es nun mal.

Das ist uns zu einfach. Die anonyme Öffentlichkeit tritt gerne als selbstgerechte Richterin auf. Doch zuvor hatten die Leute Spass am billigen Geld, am Konsum und am Leben auf Pump, das die Elite ihnen ermöglichte. Daran hat sich niemand gestört.

Stimmt. Das ändert aber nichts an der von mir geschilderten Lage.

Ein guter Publizist hat auch die Aufgabe, seine Leser an ihre Mitverantwortung am Desaster zu erinnern.

Auch das stimmt. Die Frage ist nur, ob jemand zuhört.

Sie gehören zur politisch-ökonomischen Elite. Und Sie haben auf ihre semiglobale Verfassung hingewiesen und darauf, dass sich ihre Vertreter an eigenen Veranstaltungen und Parties treffen. Wie abgehoben leben sie? Nehmen sie den Groll wahr, der ihnen
entgegenschlägt?

Als in Frankreich im 18. Jahrhundert die Armen nicht einmal mehr Brot kaufen konnten, soll Marie-Antoinette gesagt haben: «Lasst sie Kuchen essen.» Um ehrlich zu sein: es ist heute nicht viel anders als damals – und wird es wohl niemals sein. Als ich im Frühjahr 2008 vor rund 60 wichtigen Bankleuten ein Referat über die Reputation des Bankengeschäfts hielt, hielt ich ihnen den Spiegel vor. Ich sagte: Ihr wisst gar nicht, wie verhasst ihr sein werdet. Das war vor dem Höhepunkt der Krise. Sie waren komplett schockiert über meine Worte. Sie hatten keine Ahnung, was ich meinte. Absolut keine.

Bankenbashing ist in…

… was ich eben erzählt habe, gilt für alle Eliten. Sie verkehren zumeist unter ihresgleichen. Das tun die Handwerker ja auch, ebenso wie die Lehrer oder Staatsangestellten. Der einzige Unterschied: die Wirtschaftselite lebt in einer globalen Welt und hängt nicht an nationalen Gemeinschaften. Sie versichern sich wechselseitig ihrer Verdienste – wie die Handwerker auch. Das ist natürliches menschliches Verhalten. Wir alle haben grösste Mühe damit, uns ein schlechtes Bild von uns selbst zu machen. Ich weiss nicht, ob Sie verheiratet sind. Aber wenn man mit dem Ehepartner einen Streit hat, ist es natürlich, davon überzeugt zu sein, dass man selbst im Recht ist. In der Hälfte der Fälle ist dies aber nicht sehr wahrscheinlich.

Lassen Sie uns zum Schluss einen Blick in die Glaskugel wagen. Wie sehen Sie die nahe Zukunft der avancierten europäischen Gesellschaften? Wird die soziale Unrast zunehmen?

Für unsere Gesellschaften präsentiert sich die Lage nicht allzu besorgniserregend. Das allgemeine Älterwerden macht uns je länger, je weniger revolutionär. Die kontinuierliche Prosperität unserer Gesellschaften, die Stabilität, der Umstand, dass unsere Regierungen gewählt werden, stimmen mich zuversichtlich. Zudem haben wir ziemlich kompetente Eliten – wir sprechen hier nicht über die französische Aristokratie im 18. Jahrhundert, sondern von insgesamt sehr fähigen und gebildeten Leuten. Wenn es Druck gibt auf unsere Systeme, führt das zu politischen Veränderungen. Die Politiker werden populistischer, mit xenophoben und protektionistischen Programmen lassen sich wieder Leute mobilisieren. Die Immigrationspolitik mag restriktiver werden, möglicherweise erhöhen sich die Steuern. Aber am Ende des Tages glaube ich, dass unsere demokratischen westlichen Systeme in Europa und Nordamerika ziemlich robust, flexibel und anpassungsfähig sind.

Sie geben also Entwarnung. Und dies, obwohl Millionen von jungen Leuten in den Ländern Südeuropas ohne Arbeit sind. Obwohl diese
Generation längst von sich behauptet, sie sei eine verlorene Generation. Da ist aus unserer Sicht einiges an revolutionärem Potential vorhanden.

Das sehe ich anders. Wir werden keine Revolution erleben, sondern nur mehr oder weniger öffentlich geäusserten Zorn. Die grundlegende europäische Ordnung wird Bestand haben.

Würden Sie darauf wetten, dass das demokratische System in der heutigen Form überlebt?

Die Demokratie kann solche Zornäusserungen absorbieren. Ob hingegen die Eurozone überleben wird, scheint mir doch um einiges fragwürdiger zu sein. Ich kann mir auch Ereignisse vorstellen, die zu einem radikalen Rückgang von Prosperität führen. Zum Beispiel massive Preiserhöhungen für Energie, das Ende des technischen Fortschritts, was sehr unwahrscheinlich, aber möglich ist. Dennoch würde der Lebensstandard vergleichsweise hoch bleiben. Und schauen Sie: Sofern ein Land hart von der Krise getroffen wurde, haben alle politischen Führungskräfte ihre Posten verloren. Weltweit wurden fast alle Bosse der wichtigen Finanzinstitute ausgewechselt. Das ist doch ausserordentlich und zeigt: Das demokratische System funktioniert also. Wir haben aus den 1930er Jahren gelernt. Wir leiden nicht an einer Depression, nur an einem grossen Durcheinander.


1 Gespräch mit Martin Wolf. «Ich bin furchtbar britisch-pragmatisch». In: Schweizer Monat 990. Oktober 2011. S. 33–36.

 

Dieses Gespräch kam dank der freundlichen Unterstützung durch das St. Gallen Symposium zustande.

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