«Schauspieler der Gefühllosigkeit»
Zum 200. Geburtstag Mérimeés Bekannt ist Prosper Mérimée vor allem durch seine von Bizet vertonte Novelle «Carmen» geworden. Doch auch anderes lohnt sich zu lesen: Ein Abriss seines Lebens im Second Empire und seiner vom Ästhetizismus geprägten Werke.
Die Gedenktage an Victor Hugo und Zola wurden letztes Jahr mit einigem publizistischem Aufwand begangen: Giganten der Literatur, Klassiker zwischen Romantik und Moderne, bürgerliche Republikaner, Demokraten, Humanisten, Kämpfer gegen Autoritarismus und für soziale Gerechtigkeit. Über den am 28. September 1803 in Paris geborenen Prosper Mérimée, den die Geschichte noch immer zu den grossen, wenn auch nicht wie jene zu den grössten Autoren des 19. Jahrhunderts zählt, kann man das alles kaum sagen.
Opportunist oder Ästhet?
Zwar gab sich der junge Jurist und Homme de lettres liberal. Auch den Causeur und Schürzenjäger verstand er recht gut zu spielen, obwohl er im Grund ein Einzelgänger war, sich als aufgeklärten Rationalisten in Szene setzte und seine Sensibilität mit Spott tarnte. Die Brüder Goncourt waren von seiner wenig menschenfreundlichen Kälte, seiner «boshaften Ironie» unangenehm berührt, nannten ihn einen «Schauspieler der Gefühllosigkeit». War es Zufall, dass er auf seiner ersten Spanienreise mit der Familie des Grafen Montijo bekannt wurde, aus der die künftige Kaiserin der Franzosen hervorgehen sollte? Jedenfalls schien ihm nach dem Staatsstreich des Louis Bonaparte vom 2. Dezember 1851, für den er kein Wort der Missbilligung aufbrachte, eine Rolle als Trabant des neuen Autokraten durchaus zu behagen. Der Kaiser schätzte ihn als Gesellschafter und Gelehrten, hielt ihn oft in seiner Nähe, belohnte den bereits unter Louis-Philippe zum Inspecteur général des Monuments historiques und Académicien Ernannten mit neuen Ehrentiteln. Für Eugénie durfte er als schöngeistiger Hofnarr – er signierte selbst als «fou de S. M. l‘Impératrice» – Figur machen, er gehörte zu den Mitspielern im Theater des Empire, dessen schmähliches Ende ihn seine längst angegriffene Gesundheit nur um wenige Wochen überleben liess. Opportunist, Karrierist, kulturelles Alibi einer Diktatur? Oder nur Ästhet und Belletrist, Liebhaber alter Kirchen und interessanter Dienstreisen, der sich nicht um Politik kümmerte? Ein Komödiant war er zweifellos. Die Publikation, die ihn ins Licht der Öffentlichkeit brachte, war eine mit Vorbedacht arrangierte literarische Täuschung, «Le Théâtre de Clara Gazul», Stücke einer mysteriösen spanischen Emigrantin, hinter der sich der junge Autor verbarg. Bald darauf folgte ein weiterer Coup, eine Sammlung angeblich in Illyrien gesammelter anonymer Balladen unter dem Titel «La Guzla», in dem die Kenner bald das Anagramm der Gazul erkannten, vor allen anderen Goethe, der Mérimée als «ganzen Kerl» bezeichnete und ihn 1828 in seiner Rezension «Über Kunst und Altertum» sogar ersuchte, «uns mit dergleichen eingeschwärzten Kindern, wenn es ihm irgend beliebt, aufs neue zu ergötzen».
Ein Romantiker bestimmt, . . .
Mit beiden Büchern und mit dem historischen Roman «Chronique du règne de Charles IX» hatte sich Mérimée als origineller Romantiker ausgewiesen. Nun fand er zu der ihm am meisten gemässen Literaturgattung, der Novelle, die ihm dauernde Anerkennung einbrachte. Die traditionell geschlossene Form des Berichts ungewöhnlicher Ereignisse kam seinem künstlerischen Purismus entgegen, und die Haltung des die Fiktion und das naive Leserverständnis hinterfragenden, letztlich unbeteiligten Erzählers entsprach seinem Willen zur Distanz. Im Dienst dieser objektivierenden Darstellung steht ein rational strukturierter Stil, eine sorgfältige, normierte Sprache, die seine Prosa auch im Ausland zum Modell für gutes Französisch machte. So rechnet Karl Hillebrand in einem Aufsatz von 1872 seine Novellen «zum Vollendetsten, das die französische Literatur hervorgebracht», und ihr Verfasser ist «ein schönes Exemplar des feingebildeten und edelgesinnten Franzosen» einer «besseren Zeit», ein Konservativer, der sich nicht verleugnet. Heute freilich mag auf Leser, denen es mehr um den Stilwandel des bürgerlichen Jahrhunderts als um erzählerisches Können geht, der romantische Klassizismus eher antiquiert wirken, im Gegensatz zu den Zeitgenossen Flaubert, Baudelaire oder auch Stendhal.
. . . fasziniert von unkonventionellen Frauen
Unter der glatten Oberfläche der Werke Mérimées vibriert eine Spannung, die durch Ironie und auktoriale Überlegenheit kaum gemildert wird. Das wird schon in den Themen deutlich. Mérimée war fasziniert von Randfiguren, Aussenseitern, oft unkonventionellen und gefährlichen Frauengestalten, in denen sich sein problematisches Verhältnis zum anderen Geschlecht spiegelt: Carmen ist eine Zigeunerin, Colomba eine vom Gedanken an die Blutrache besessene Korsin, Arsène Guillot eine Prostituierte, Tamango ein deportierter Negersklave, Matéo Falcone wiederum ein Korse, der dem Gastrecht sein geliebtes Kind opfert. Wenn er, mehr oder weniger ernsthaft, mit bekannten Namen der Vergangenheit manipuliert, sind ihm dubiose Protagonisten, ruchlose Liebende wie Don Juan («Les Ames du Purgatoire») und Lukrezia Borgia («Il Vicolo di Madama Lucrezia») gerade recht. In der im Baltikum angesiedelten Schauergeschichte Lokis (1869), die bei der Vorlesung im Kreis der Kaiserin begreiflicherweise auf wenig Zustimmung stiess, spielt er sogar mit der doppelten Identität eines gediegenen Gutsbesitzers und blutrünstigen Bärenmenschen. Die erst postum gedruckte, in das noch kaum kolonisierte Nordafrika verlegte Erzählung «Dijoûmane» schliesslich bringt in einer Traumvision die ideale Frau mit einer Riesenschlange zusammen.
Damit erfüllt Mérimée nicht einfach die Forderung der novellistischen Poetik nach dem Ausserordentlichen. Ebenso wenig handelt es sich bloss um romantischen Exotismus und pittoreskes Lokalkolorit, so sehr er mit seiner Vorliebe für ethnologische Sonderformen und kaum bekannte Literaturen, für Länder wie Spanien oder Korsika und in seiner historisch bedeutenden Tätigkeit als Vermittler und Übersetzer russischer Autoren, einer zeitgenössischen Tendenz zu folgen scheint.
Was ihn fesselt, ist das Fremde an sich, das Andere als Schock, als Bedrohung, als Versuchung, als Symbol eigener Doppelbödigkeit. Und zweideutig ist auch die Persönlichkeit des Kaisers, dem er folgt, ein Machtmensch und Schwächling, ein Grosshans und Zauderer, ein Realist und Träumer. Auch die ganze, von unserer Gegenwart vielleicht nicht allzu verschiedene Epoche des Second Empire, der er angehört, ist zugleich demokratisch und autoritär, modern und historisierend, sozial und kapitalistisch, ehrlich und verlogen, schöpferisch und banal, stabil und unsicher. Mérimée konnte, wie viele seiner Kollegen, solchen Gegensätzen den Rücken kehren, als Angehöriger der Oberschicht einem Kunstethos frönen; aber seine Arsène Guillot gibt der noblen Wohltäterin zu bedenken: «Eine Dame wie Sie weiss nicht, was man tun kann, wenn man keinen Rappen mehr besitzt. (…) Ich wäre ehrenhaft gewesen, wenn ich die Mittel dazu gehabt hätte.» Mérimée wusste, wider Willen, dass die perfekte Form nicht alles ist.
Mordende Mamorstatue
In der Novelle «La Vénus d‘Ille» (1837) steckt der junge Alphonse gedankenlos den Trauring seiner Verlobten an den Finger der antiken Statue, die im Olivenhain seines Vaters ausgegraben wurde. Der Ring lässt sich nicht mehr abziehen, und in der Hochzeitsnacht hört der Erzähler, der vom bösartigen Ausdruck der vollendet schönen Figur von Anfang an beunruhigt war, im Haus merkwürdige Schritte, später Schreie, und man findet Alphonse tot auf dem Bett. Zunächst wird der Racheakt eines beleidigten Spaniers vermutet, doch die junge Witwe behauptet, die Venus sei nachts in das Zimmer gekommen und habe den Gatten umgebracht. Der Staatsanwalt schenkt dem Bericht keinen Glauben, aber die Leute wissen es besser, sie haben nie daran gezweifelt, dass die Statue des Teufels ist. Die Novelle gilt als Meisterwerk der phantastischen Literatur. Sie erscheint uns auch als emblematische Umsetzung all dessen, was der Ästhetizismus Mérimées und seiner Zeit an Gefahren in sich schliesst, ja geradezu als genial vorweggenommene Kritik an der schönen Fassade des künftigen Regimes und des ganzen Jahrhunderts.
Der Tuilerienpalast, zu dessen Gästen Mérimée gehörte, wo sich das Empire mit Eleganz und Prunk selbst gefeiert hatte, geriet 1871, während des Aufstands der Kommune, in Brand; auch das private Wohnhaus des Schriftstellers mit seiner Bibliothek und sämtlichen Schriften wurde damals zerstört.
Manfred Gsteiger, geboren 1930, war von 1981 bis 1996 Ordentlicher Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Lausanne. Zuletzt erschien von ihm «Die Schweiz von Westen. Beiträge zum kulturellen Dialog», Lang, 2002.