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Sagen Sie mal Volker Ranisch,

was ist der Reiz am Rezitieren?

 

So wie manch einer, der als Kind Probleme mit der Atmung hatte, sich später eine Profession sucht, bei der ausgerechnet der Atem eine gewichtige Rolle spielt – unter klassischen Sängerinnen und Sängern, aber auch unter Sportlern soll es überproportional viele Asthmatiker geben –, so ist auch meiner Passion, Dichtersprache in freier Rede zu rezitieren, ein Leidensweg vorausgegangen. Am Fusse des Erzgebirges geboren und aufgewachsen, war meine Aussprache mit einem Dialekt behaftet, der sich grundsätzlich wenig dafür eignete, der formvollendeten Sprache unserer grossen Meister auch nur annähernd zu genügen. Darüber hinaus wurde mein breites Sächsisch in herber Lieblichkeit von holländisch vernuschelten Zischlauten verziert – die Kriegswirren hatten die Mutter meiner Mutter von den Niederlanden her in diesen Landstrich verschlagen.

Besagte Grossmutter begegnete dem Sprachendilemma auf eigene Art und machte aus ihrer Not eine Tugend. Sie verstieg sich ins Deklamieren, was mich als Kind stark beeindruckt hat. Es wehte mich etwas von weiter Welt an, von Stil und Form. So wollte ich auch reden können. Die wirkliche Schönheit von Kunst, von Inhalten, brachte mir und einem Grüppchen Gleichgesinnter dann eine theaterbesessene Musikpädagogin näher, indem sie mit uns über Jahre hinweg einen kleinen Schülertheaterbetrieb am Laufen hielt.

Als solch gearteter Rohling sollte ich nun auf der Hochschule in Leipzig zu einem Schauspieldiamanten geschliffen werden. Es gelang. Und gelang doch nur halb. Warum? Die Sprache! Darf sie noch Pathos haben? Interessieren Inhalte noch? Interessieren Dichter? Natürlich tun sie das. (Merkt euch das, Banausen!)

Mich jedenfalls interessiert am Theater – beim Film nicht unbedingt – sehr wesentlich die Sprache. Es ist für mich ein lustvoll energetischer Vorgang, mir Texte anzueignen. Das heisst Sätze zu begreifen, mir Worte einzuverleiben, diese dann als gesprochene Sprache zu behandeln und zu erkennen, wenn zum Beispiel die musikalische Form der Sprache im wunderbaren Widerspruch zum Inhalt des Gesagten steht. Dabei kann es Situationen geben, die das Mass des sonst Erlebbaren übersteigen: ein Déjà-vu etwa, aber auch das Gegenteil – ein Jamais-vu-Erlebnis, bei dem das eben noch Vertraute fremd wird. Für einen Moment ist die Welt dann eine andere und wird vielleicht sogar ein wenig fassbarer, als sie eben noch war.

Ich «übe» nicht speziell. Die Texte begleiten mich ohnehin, sie sind da und warten darauf, wieder neu gedacht und gesprochen zu werden. Es gibt eine mir unbewusste Seite, die in ständigem Kontakt zu ihnen steht und sie scheinbar willkürlich aktiviert: beim Autofahren, nachts, tags, wann immer. Dann widme ich mich ihnen, um zu erfahren, was sie wollen. Manchmal wollen sie nur da sein.

Da ich also Texte nicht lerne, sondern bestenfalls auf geschilderte Weise erlebe, empfinde ich den Vorgang der Aneignung prinzipiell als eine Bereicherung. Ich lese Texte wie ein Musiker die Partitur. Sind mir deren Strukturen zu eigen geworden, kann ich mich darin frei bewegen und lade dazu ein, mir als Wanderer durch diese Landschaft zu folgen. Wie jeder passionierte Wanderer erkunde ich gern neue Landschaften, kehre aber auch gern an liebgewonnene Orte zurück. Übertragen auf die Texte heisst das, dass mein Repertoire stetig wächst. Derzeit bin ich mit sechs verschiedenen Theaterinszenierungen parallel unterwegs.

Nein, es wird mir noch immer nicht langweilig, immer dasselbe zu sagen – da es nicht immer dasselbe ist. Beständig wechseln Ort und Publikum; die Welt ist nicht die, die sie gestern noch war, und mit ihr ich; das macht etwas mit jedem Abend. Es gibt Gäste, die darauf schwören, dass ich damals, als sie den Abend zum ersten Mal gesehen haben, ganz andere Texte gesprochen hätte. Ich weiss es besser.

Nein, ich vermisse auch die sonst üblichen Bühnenpartner nicht, da ich bei diesen Veranstaltungen viel stärker als sonst im Dialog mit dem Publikum bin und dieses als meinen Partner empfinde. Ein Monolog ist es also ohnehin nicht. Darüber hinaus habe ich noch das Vergnügen, alle anfallenden Rollen selber spielen zu dürfen.

Was mich antreibt, sind die Lust und die Neugier auf etwas an sich Überflüssiges im besten Sinne des Wortes. Zu diesem Thema gibt es übrigens auch einen schönen Text, eine Novelle von Ludwig Tieck: «Des Lebens Überfluss». Daraus wird ein neuer Theaterabend entstehen. Achten Sie im Herbst auf die «Eisblumen».

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