Sachbuch
Reinhold Rieger Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertate christiana. Kommentare zu Schriften Luthers, Band 1 Tübingen: Verlag Mohr Siebeck, 2007 Die Bedeutung Martin Luthers für die europäische Freiheitsgeschichte wird unterschiedlich gewertet. Die einen sehen in ihm, der dem Kaiser ins Angesicht zu widerstehen wagte, einen Vorläufer der Aufklärung. Andere zitieren seine Schriften zum Bauernkrieg […]
Reinhold Rieger
Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertate christiana. Kommentare zu Schriften Luthers, Band 1
Tübingen: Verlag Mohr Siebeck, 2007
Die Bedeutung Martin Luthers für die europäische Freiheitsgeschichte wird unterschiedlich gewertet. Die einen sehen in ihm, der dem Kaiser ins Angesicht zu widerstehen wagte, einen Vorläufer der Aufklärung. Andere zitieren seine Schriften zum Bauernkrieg und bezeichnen ihn als reaktionär. Exemplarisch für die erste Sicht ist ein Diktum Heinrich Heines aus dem Jahre 1835, Luther habe der menschlichen Vernunft das Recht eingeräumt, die Bibel zu erklären, und habe sie damit als «oberste Richterin in allen religiösen Streitfragen» anerkannt. «Dadurch entstand in Deutschland die sogenannte Geistesfreiheit, oder, wie man sie ebenfalls nennt, die Denkfreiheit. Das Denken ward ein Recht, und die Befugnisse der Vernunft wurden legitim.» Gegenüber Eckermann äusserte sich Goethe schon vorher ähnlich: Dank Luther seien wir «frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit». Anders Karl Barth, nachdem er sich zur Zeit des Nationalsozialismus Luther als Kronzeugen eines freiheitsfeindlichen politischen Systems hatte um die Nase schlagen lassen müssen. Im noch vor Hitlers Machtergreifung erschienenen ersten Band von Barths Dogmatik war Luther der am häufigsten – zumeist zustimmend – zitierte Autor. Später hängte Barth demonstrativ einen indonesischen Wandteppich über das Büchergestell, auf dem seine Lutherausgabe stand. Im Dezember 1939 schrieb Barth nach Frankreich, das deutsche Volk leide «an der Erbschaft des grössten christlichen Deutschen», der «Hitlerismus» sei «der gegenwärtige böse Traum des erst in der lutherischen Form christianisierten deutschen Heiden».
Was ist davon zu halten? Am besten liest man Luther selbst. Dazu regt auch ein soeben erschienener, inhaltsreicher Kommentar des Theologen Reinhold Rieger an, der der wohl wichtigsten Schrift Luthers zum Stichwort Freiheit gewidmet ist, dem an Papst Leo X. adressierten Traktat «Von der Freiheit eines Christenmenschen» auf, lateinisch «De libertate christiana». Innerhalb weniger Tage verfasste ihn Luther im Oktober 1520, zuerst auf Deutsch und dann in der Sprache, die der Papst verstand – etwas weniger genial, dafür etwas ausführlicher und präziser. Um zu vermeiden, dass man die Schrift einseitig als Reaktion auf die päpstliche Bannandrohungsbulle verstand (in Wittenberg eingetroffen am 3. Oktober 1520), wurde sie auf den 6. September zurückdatiert. In unpolemischer Weise sollte sie Luthers Position darstellen – gewissermassen ein letzter Versuch, den definitiven Bruch mit Rom zu vermeiden. Zu Recht wurde das Werk «der vollkommenste Ausdruck» von Luthers «reformatorischem Verständnis des Christusmysteriums» genannt.
Diese Formulierung gibt zu denken und weist darauf hin, dass Luther nicht in einem äusserlichen Sinn als Vorläufer der Aufklärung und des modernen Liberalismus, aber auch nicht als Vertreter eines gesellschaftspolitischen Konservatismus vereinnahmt werden kann. Ohne jenes «Christusmysterium», d.h. ohne seinen religiösen Hintergrund, versteht man Luther nicht. Man kann die Ethik nicht ohne die Dogmatik lesen. Gewiss, über die Freiheit hat er Herrliches gesagt – und es auch gelebt: «Hier stehe ich, und kann nicht anders.» «Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan.» Freiheit ist gemäss Luther aber nicht ein Besitz des Menschen, eine angeborene Eigenschaft, sondern ein Geschenk, das mit der Tatsache begründet wird, dass wir als Brüder und Schwestern des Königs und Priesters Jesus Christus uns ebenfalls als Könige und Priester betrachten dürfen: «Wer kann nun ausdenken die Ehre und Höhe eines Christenmenschen? Durch sein Königsein ist er aller Dinge mächtig, durch sein Priestersein ist er Gottes mächtig, denn Gott tut, was er bittet und will…» Was kann es deshalb der Seele schaden, wenn «der Leib gefangen, krank und matt ist, hungert, dürstet und leidet»?
Man kann nicht seriös über Luther schreiben, wenn man versucht, Jesus Christus und die Stichwörter «Wort» und «Glaube» zu vermeiden. Jenes Wort, das uns befreit, «ist nichts anderes als die Predigt, von Christo geschehen, wie sie das Evangelium enthält». In diesem hören wir, wie Gott uns sagt, dass unser Leben und unsere Werke nichtig vor ihm sind und dass wir mit allem, was in uns ist, dem ewigen Verderben anheim fallen müssten. «…die Seele kann alle Dinge entbehren ausser dem Wort Gottes, und ohne das Wort Gottes ist ihr mit keinem Ding geholfen. Wenn sie aber das Wort Gottes hat, so bedarf sie auch keines anderen Dinges mehr, sondern sie hat in dem Wort Genüge, Speise, Freude, Friede, Licht, Verstand, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gute überschwänglich.» Es ist der Glaube, der den Christenmenschen über alle Dinge erhebt. In immer neuen Wendungen schärft Luther ein, dass alles – es sei gut oder böse – mir «zu gut» dienen muss, wenn ich nur glaube. Der «blosse Glaube» ist die «christliche Freiheit».
Berührend ist, wie Luther das Verhältnis des Glaubenden zu Jesus Christus – und umgekehrt – beschreibt. Ein Wechsel oder Tausch findet statt: Christus vermählt sich mit der gläubigen Seele, übernimmt ihre Schulden und überträgt ihr seinen Reichtum. «Ist nun das nicht eine fröhliche Hochzeit, wo der reiche, edle, fromme [d.h. rechtschaffene] Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie entledigt von allem Übel, zieret mit allen Gütern.» Es handelt sich um eine originelle Abwandlung der Brautmystik, die im Mittelalter besonders in Frauenklöstern verbreitet war. Christus ist der Bräutigam, wobei die Braut in Anlehnung an Aussagen besonders der alttestamentlichen Propheten Hosea, Jeremia und Ezechiel nicht etwa als eine vornehme Dame, sondern als eine Prostituierte dargestellt wird.
Es gäbe noch viel über Luthers «Von der Freiheit eines Christenmenschen» zu berichten, über seine Konzeption vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen, vor allem aber von seinen Ausführungen zu einer christlichen Fundamentalethik im zweiten Teil der Schrift. Hier stellt er die guten Werke als eine Frucht des Glaubens dar. Es geht nicht darum, sich mit seinen Taten den Himmel zu verdienen, sondern man kann gut handeln – und wird unwillkürlich gut handeln –, weil einem in Christus der Himmel bereits geöffnet worden ist. Denn ein gläubiger Mensch ist «durch seinen Glauben … wiederum ins Paradies gesetzt». All unser Handeln wird sich deshalb an den Nöten der Mitmenschen orientieren, «dieweil ein jeglicher für sich selbst genug hat an seinem Glauben und alles andere Werk und Leben ihm übrig sind, seinem Nächsten damit aus freier Lieb zu dienen».
Vielleicht die überschwänglichste Stelle der ganzen Schrift ist die folgende, die hier ungekürzt wiedergegeben sei: «Wohlan, mein Gott hat mir unwürdigem, verdammten Menschen ohn alle Verdienste rein umsonst und aus eitel Barmherzigkeit gegeben durch und in Christo vollen Reichtum allen Frommseins [d.h. Rechtschaffenseins] und Seligkeit, so dass ich hinfort nichts mehr bedarf denn glauben, es sei also. Ei, so will ich solchem Vater, der mich mit seinen überschwänglichen Gütern so überschüttet hat, wiederum frei, fröhlich und umsonst tun, was ihm wohlgefällt, und gegen meinen Nächsten auch werden ein Christ[us], wie Christus mir geworden ist und nichts mehr tun, denn was ich nur sehe, dass ihm not, nützlich und seliglich sei, dieweil ich doch durch meinen Glauben alles Dinges in Christo genug habe. Sieh, so fliesset aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein frei, willig, fröhlich Leben, dem Nächsten zu dienen umsonst.»
Hat dieser Luther der heutigen Zeit noch etwas zu sagen, oder ist er hoffnungslos veraltet, weniger ein Ahnherr der Moderne als ein Ausläufer des Mittelalters (wie seinerzeit Ernst Troeltsch behauptete)? Die Antwort fällt nicht leicht und lässt sich vielleicht überhaupt nicht geben. Wer Luther liest, stösst auf fremde und befremdende Aussagen, zwar nicht eines politischen Reaktionärs, wohl aber eines Menschen, der den heutigen Zeitgeist stört und ihm widerspricht, indem er der Dogmatik die Priorität gegenüber der Ethik einräumt. Das Sein ist wichtiger als das Sollen. Offenbar glaubte er nicht daran, dass man nur wissen muss, was das Gute ist, und dann geschieht es auch. Wie viele hochqualitätvolle ethische Abhandlungen kranken doch daran, dass sie wenig oder überhaupt nicht darüber nachdenken, woher die Kräfte kommen, die das Projekt – beispielsweise einen Friedensplan – zur Verwirklichung gelangen lassen. Man wird Luthers Christozentrik heute nicht mehr ungeteilt vertreten können, da die heutige Welt religiös pluralistisch geworden ist. Nicht alle können zuerst an Christus glauben, um dann eine bessere Welt zu gestalten. Aber alle haben es vielleicht nötig, nach der Kraft zu fragen, aus der sie leben können.
Noch einmal eine Passage aus Luthers Freiheitstraktat: «Siehe, so müssen Gottes Güter fliessen aus einem in den anderen und gemeinsam [d.h. allen zugänglich] werden, dass ein jeglicher sich seines Nächsten so annehme, als wäre er’s selbst. Aus Christus fliessen sie in uns. … Aus uns sollen sie fliessen in die, so ihrer bedürfen.» «…ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christo und seinem Nächsten, in Christo durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe.» Egoismus – so der Kommentator Reinhold Rieger – «widerspricht der christlichen Freiheit». Ist es wirklich so einfach? Luthers – zugegeben fremde und viele wohl störende – Botschaft gibt jedenfalls zu denken.
besprochen von FRANK JEHLE,
geboren 1939, promovierter Theologe und Publizist.
Maurice Schuhmann
Die Lust und die Freiheit – Marquis de Sade und Max Stirner. Ihr Freiheitsbegriff im Vergleich
Berlin: Karin Kramer Verlag, 2007
Nur wenige Diplomarbeiten treten aus dem Schatten der Bibliotheksarchive hervor an die Öffentlichkeit. Maurice Schuhmann hat es geschafft, für seinen Erstling einen Verleger zu finden. Er bringt unter einem attraktiven Titel zwei europäische Denker des radikalen Individualismus zusammen: Marquis (eigentlich Graf) Donatien Alphonse François de Sade (1740–1814) und Johann Caspar Schmidt alias Max Stirner (1806–1856). Charakterlich verbindet die beiden wenig; auf der einen Seite steht barock, triebhaft und tobend der ausschweifende Libertin, auf der anderen Seite analytisch, zaghaft und spröde der bedächtige Verächter aller Schranken.
Die Schriften von de Sade sind vor allem wegen ihrer eingehenden Beschreibungen sexueller Eskapaden populär geworden – und geblieben. Seit Freiherr Richard von Krafft-Ebings Standardwerk über abweichendes Sexualverhalten ist de Sades Name in der Kategorie «Sadismus» verewigt. Seine philosophischen Ansichten wurden hingegen erst spät breiter rezipiert. Max Stirner wiederum gilt in der Philosophie eher als Randfigur, die bis dato kaum zur Kenntnis genommen wird. Maurice Schuhmann fragt nun in seiner vergleichenden Monographie nach den Übereinstimmungen und den Unterschieden im Freiheitsbegriff der beiden Freidenker und Radikalindividualisten.
Sollen dem einzelnen in der Verfolgung seiner egoistischen Ziele Schranken gesetzt werden? Muss das Individuum bei der Befriedigung seiner Lüste auf soziale Normen Rücksicht nehmen? Die beiden gegenübergestellten Denker würden diese Frage wohl im Duett mit einem lautstarken Nein beantworten; die Freiheit des einzelnen steht in beider Konzeptionen über einem wie auch immer gearteten Allgemeininteresse. Beide setzen die Freiheit des Individuums absolut. Eine überindividuelle Macht kann es bei ihnen nicht geben, die absolute Subjektivität des Individuums darf aus dieser Sicht keiner Allgemeinheit im Sinne einer allgemeingültigen Moral oder des Staates geopfert werden.
«Von Natur aus ist uns rein gar nichts verboten», schreibt de Sade. Oder: «Sprengt euere Fesseln, die Natur will es; erkennt keine anderen Schranken mehr an als die eurer Neigungen, keine anderen Gesetze als einzig eure Begierden, keine andere Moral als die Natur» – nachzulesen in seiner Propagandaschrift «Franzosen, eine Anstrengung mehr, wenn ihr Republikaner werden wollt!».
Bei der Ausdehnung des individuellen Handlungsspielraums gibt es keine Aus-Linie, keine andere Motivation als die Befriedigung der eigenen Lust. Die Freiheit hört bei de Sade auch dort nicht auf, wo die Freiheit des anderen beginnt, sondern wird nur durch die eigenen Potentiale begrenzt. Damit wird sie zu einem Privileg der herrschenden Klasse, was de Sade als Aristokrat durchaus schichtspezifisch zum Ausdruck bringt. Er kritisiert dabei am Liberalismus, dass dieser die abstrakte Freiheit einer Allgemeinheit einfordere, d.h. eines ganzen Volkes, und er für das Individuum deshalb die gegenteilige Wirkung habe: «Je freier das Volk, desto gebundener der einzelne.»
Der zentrale Unterschied zwischen beiden vorgestellten Denkern liegt gemäss Schuhmann in der unterschiedlichen Einschätzung des freien Willens. Bei de Sade wird der freie Wille negiert. Jegliches Verhalten wird letztlich mit der Natur begründet. Bei Stirner hingegen ist der freie Wille dasjenige Konzept, das den abstrakten Begriff der Freiheit konkretisiert. Im Gegensatz zu dem Streben der Libertins, die natürlichen Triebe auszuleben, setzt Stirners «Eigner» auf eine gewisse Aneignung der natürlichen Triebe und somit auch auf eine gewisse Kontrolle. Aber auch Stirners «Eigner» anerkennt kein Gesetz, jedenfalls keines, das er sich nicht selber geschaffen hat.
«Die Freiheit lehrt nur: Macht euch los, entledigt euch Alles Lästigen!» Gegen die Freiheit sei nichts einzuwenden; aber Stirner wünscht sich mehr als Freiheit. Er verwirft den liberalen Freiheitsbegriff seiner Zeitgenossen und stellt diesem den Begriff der Eigenheit, als einen praktischen und positiven Begriff, entgegen. «Du müss-test nicht nur los sein, was du nicht willst, du müsstest auch haben was du willst.»
Wie auch bei de Sade, sind bei Stirner die politischen Freiheiten lediglich von untergeordneter Bedeutung: Er betrachtet die politischen Freiheiten als «oktroyierte Teilfreiheiten», die einer Allgemeinheit gewährt werden und damit jeweils eine neue Art der Herrschaft mit sich bringen. Der Staat steht bei Stirner dem souveränen Individuum und seiner individuellen Freiheit im Weg, da er es unter die Herrschaft «fixer Ideen» bringt. Der Staat sei ein Gewebe und Geflecht von Abhängigkeit und Anhänglichkeit, das immer nur den Zweck habe, den einzelnen zu beschränken, zu bändigen, zu subordinieren, ihn irgendeinem Allgemeinen untertan zu machen. «Darum sind wir beide, der Staat und ich, Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl der menschlichen Gesellschaft nicht am Herzen, ich opfere ihr nichts, ich benutze sie nur.» Anstelle des Staates setzt Stirner die Vision eines «Vereins von Egoisten», der über keine Satzung oder Statuten verfügt, sondern eine jederzeit kündbare, freie Vereinbarung einzelner ist.
Es gelingt Schuhmann, sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede in der Freiheitsauffassung seiner beiden Autoren herauszuarbeiten. Die Gegenüberstellung von de Sades Konzeption des Libertins und jener von Stirners «Eigner» ist nicht nur von ideengeschichtlichem Interesse, sondern auch ein Thema der aktuellen Liberalismusdebatte. Auf die Ähnlichkeit der Denkgebäude wurde in der Philosophiegeschichte zwar schon vielfach hingewiesen. Maurice Schuhmann nimmt aber eine systematische und differenzierte Aufarbeitung dieser These vor und findet sie weitgehend bestätigt. Seine Diplomarbeit eröffnet darüber hinaus einen neuen Zugang zu den Werken des Marquis de Sade, jenseits des Voyeurismus, und für viele wohl auch eine durchaus lohnende (Wieder-?)Entdeckung von Max Stirner.
besprochen von ANDI NEF, geboren 1979, Student der Geschichte in Lausanne und Zürich.
Peter Sloterdijk
Derrida ein Ägypter – Über das Problem der jüdischen Pyramide
Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp, 2007
Der Berg hat keine Maus, sondern höchst artifiziell eine Pyramide geboren, die im Verlauf der Lektüre allerdings handlich und leicht wie eine Maus wird. Aus Maus wird (Maus-olé!) Mausoleum, wobei eine Pyramide als Monumentalmausoleum ja auch ihren Superman, den Pharao, noch klein wie eine Maus erscheinen lässt.
Der Berg, den Peter Sloterdijk da so kunstvoll ausmisst, dass eine Pyramide daraus wird, ist «la montagne Derrida». Sein später Nachruf auf den französischen Topphilosophen mit jüdischen Wurzeln trägt den pikanten Titel «Derrida ein Ägypter – Über das Problem der jüdischen Pyramide». In der Höhle des toten Löwen, im Mauso-Leo, hat nun die Maus an der grossen Katze vorbei sieben Leben und die Leseratte sieben Kapitel, in denen Sloterdijk sieben weitere Titanen mit Derridas Werk in Verbindung bringt.
Von Niklas Luhmann und Jacques Derrida etwa wird als dem doppelten Hegel des 20. Jahrhunderts gesprochen, wobei der Franzose das Werk des Deutschen (anders als umgekehrt) reichlich primadonnenhaft einfach ignorierte. Nicht verleugnet hat Derrida die Psychoanalyse. Laut Sigmund Freud hat «Moses, ein Ägypter» das Volk Israel in einen Exodus geführt, der laut Sloterdijk die Juden zu den besseren Ägyptern gemacht hat, wobei sich die religiösen Monumente in Schriftrollen verwandeln mussten, um transportierbar zu sein, so dass selbst die Pyramide noch ins Handgepäck passte.
Da wird die Papyrus-Pyramide zum grandiosen Akt der Dekonstruktion, der «Différance», und bleibt als Pyramide selbst doch eine Pièce de Résistance, jener «undekonstruierbare Rest einer Konstruktion, die dem Plan des Architekten zufolge so gebaut wird, wie sie nach ihrem Einsturz aussehen würde».
Besser als in Cambridge, wo Jacques Derrida bei der Ehrenpromotion von 18 Professoren als Taschentrickspieler ausgepfiffen wurde, packt Prof. Sloterdijk seinen Frère Jacques um so pfiffiger ins 73seitige Taschenbuch. Und so – «Frère Jacques, dormez-vous?» – wacht Derrida flugs an der Seite von Traumdeuter «Joseph und seine Brüder» in jener Thomas-Mann-Romantetralogie auf, die Sloterdijk als «das heimliche Hauptwerk der modernen Theologie» hochpreist.
Denkspieler Sloterdijk lässt in der Folge gar Hegel, diesen «letzten Pharao der Metaphysik, von ihrem letzten Joseph» (Derrida!) psycho(logo)analytisch begutachte(r)n.
Sloterdijks Derrida wird so umgänglich, dass er auch für die Kardinalfrage nach dem Sinn von Sein jenes Kardinals Heidegger wieder zugänglich wird, der laut Derrida just damit (als Sinnflüsterer) die Metaphysik nicht wirklich verlassen hat. Mit Franz Borkenau und Régis Debray besteht aber Derrida selbst dene Sloterdijkschen Lackmustest nicht, weil auch er letztlich Metaphysiker bleibt im Banne der Pyramide und ihres Immortalitätsanspruchs bis in die jüdischen und christlichen Fortschreibungen hinein. Ist Derrida trotz seinem Widerspruch halt doch ein «jüdischer Mystiker», wie Jürgen Habermas mutmasste? Derrida war als Postmoderner wohl zu wenig hart für die Moderne und die Antike, die, anders als Pyramide, Synagoge und Kirchturmspitze, ohne Jenseitsspekulationen auskamen. An Boris Groys vorbei, der in der Pyramide die Urzelle des bombensicheren Archivs sieht, balanciert Sloterdijk Derridas Grabkammer auf die Spitze der Pyramide, damit sie «an einen hohen Himmel rührt» – ein rührender Metaphysiker auch er noch, Petrus Sloterdijk?
besprochen von ROGER GASTON SUTTER, geboren 1954, Publizist in St. Gallen.
Samuel Weber
Gelegenheitsziele. Zur Militarisierung des Denkens
Zürich: Diaphanes Verlag, 2006
«Die Gedanken sind frei» – so lautet der Anfang der ersten Verszeile eines Liedes, das Walther von der Vogelweide zugeschrieben wird. Doch wenn es nach dem amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschafter Samuel Weber geht, wiegt sich der mittelalterliche Liedermacher in falscher Sicherheit. In seinem neuen Buch stellt Weber die Freiheit des abendländisch-logischen Denkens und seines Mediums – der Sprache – prinzipiell in Frage. Er sieht das Denken geprägt durch lebensweltliche Strukturen, ökonomische Zwänge – und durch Machtverhältnisse.
Wissen ist Macht. Und so wird der notwendige Prozess der Orientierung in der Welt, nach Weber, zum strategischen Zug. Jeder Gedanke, jedes Wort wird zu einem Ziel; jede Definition wird zum Punktesieg über das Bezeichnete, zum Schlussstrich unter eine Rechnung.
Doch was passiert, wenn der Rahmen zu eng gefasst und zu einseitig ist, den der militarisierte Denker für seine Definition ansetzt, mithin das zu Bezeichnende sich der Definition entzieht? Er schiesst an der Realität vorbei und trifft sein Gegenüber nur teilweise. Weber versucht dies zu verdeutlichen, indem er seine These von der Militarisierung des Denkens mit der aktuellen amerikanischen Politik in Verbindung bringt. Ob dieser Konnex dabei empirisch erhärtet sei, scheint dabei von untergeordnetem Interesse – hier fehlt dem nichtmilitarisierten Denker Weber zuweilen die Trennschärfe.
In ihrem Krieg gegen den Irak versuche die amerikanische Regierung – so der Autor – dem schwer fassbaren Feind ein Gesicht zu geben und damit den eigenen Machtanstrengungen eine Legitimation. Wahlweise bezeichnet sie ihn als «Achse des Bösen», als «Terroristen» oder ganz konkret als «Saddam Hussein». Und doch bleiben die Kriegsstrategen eine eindeutige Bezeichnung des Feindes schuldig. Weil es sie nicht gibt, handelt es sich doch bei dem Feind um ein Geflecht von Beziehungen: zerstreute, nicht einmal durch eine Ideologie geeinte Kleingruppen, die die neuesten Kommunikationsmittel nutzen, um über grössere Distanzen hinweg spontan koordiniert zu handeln.
Denken und Sprache als Orientierungshilfe und Schutzschild versagen vor einer vernetzten Welt, die zunehmend ungreifbar erscheint. Tausende von Definitionsmöglichkeiten, die ergriffen werden können, locken den Denker und führen ihn immer wieder in die Irre. Doch was anderes kann der Mensch als Gefangener von Sprache und Denken tun, als sich definierend und zuschreibend in der Welt zu verorten und zu orientieren?
Verantwortungsvoll denken, lautet der Vorschlag Webers. Denn Freiheit erreiche erst, wer sich seiner Motive bewusst werde – und sein Denken und Sprechen den vernetzten Strukturen der Realität anpasse, von der aggressiven und bilanzierenden Definition hin zu einer offenen Form des Sprechens in Erzählform. Ob diese erzählerische Freiheit, die alle Möglichkeiten zur Bezeichnung nutzt, allerdings nicht zu gross ist für den Alltag des Menschen oder für politische Prozesse, darüber schweigt Samuel Weber sich aus. Ebenso darüber, welche Fallstricke ein Sprechen im Erzählstil auslegt.
besprochen von KARIN KONTNY, geboren 1976, Journalistin in Tübingen.