Russland und der Westen
Die frühere Sowjetunion stellt für den Westen keine Bedrohung mehr dar – heute will das Land vor allen Dingen Partner sein. Während die Russen die Europäische Union zunehmend positiv beurteilen, bleibt ihre Skepsis gegenüber den USA.
Die Konfrontation mit dem Westen gehörte lange Zeit zu den Merkmalen der russischen Geschichte, was nicht ohne Auswirkungen auf das Bild des Westens in der heutigen russischen Gesellschaft bleiben konnte. Voraussetzungen für diese Konfrontation enthält bereits die orthodoxe Eschatologie. Der Widerstand der Ostkirche gegen den Katholizismus trug zur Entstehung einer «Welt-Antiwelt»-Konzeption, zu einer «Spiegelbild-Wahrnehmung» des Westens bei. Das Konzil von Florenz 1439 sowie der Verlust von Konstantinopel 1453 wurden im damaligen Russland als Zeichen der nahenden Apokalypse wahrgenommen, was die Vorstellung von der Aussenwelt als eines reziproken Modells der eigenen Welt verstärkte. Daraus resultierte eine Diffamierung, wenn nicht Verteufelung des Westens; Ende des 15. Jahrhunderts betrachtete sich Russland als einzigen Beschützer der Ostkirche gegen die «basurmane» (Mohammedaner) sowie gegen die «latinjane» (Lateiner).
Russland hat sich historisch-politisch hartnäckig nach eigenen Gesetzen entwic-kelt, auch wenn es von Europa und den USA beeinflusst wurde. Nach der beinahe vollständigen Isolierung unter Iwan dem Schrecklichen, setzte sich anfangs des 18. Jahrhunderts unter Peter dem Ersten die Erkenntnis durch, dass der Westen über Technologien, Kenntnisse und Fertigkeiten verfüge, die für die Entwicklung Russlands lebenswichtig seien. Der Westen blieb dadurch zwar feindlich und fremd, galt aber nicht mehr als nutzlos. Er war Widersacher und gleichzeitig Vorbild für technische und kulturelle Errungenschaften. Diese Ambivalenz ist auch im 21. Jahrhundert noch nicht überwunden, sie ist vielmehr Bestandteil der politischen Kultur Russlands geworden.
Die Beziehungen des postsowjetischen Russland zum Westen waren in der zweiten Amtsperiode Jelzins deutlich abgekühlt und erreichten während der Nato-Intervention im Kosovo im Frühjahr 1999 einen Tiefpunkt. Das Image der USA bei der russischen Bevölkerung – ein wichtiger Indikator des Bildes vom Westen – schien sich dadurch zu verschlechtern. Seit Jahren stellt das Meinungsforschungsinstitut Levada in Moskau die Frage «Wie ist Ihre Einstellung zu den USA?». Während 1997 noch 71 Prozent der Befragten diese Einstellung als positiv bezeichnet hatten, waren es Ende 2003 noch 59 Prozent. Viele Russen erwarteten deshalb von Jelzins Nachfolger Putin, dass er in den Beziehungen zum Westen – und insbesondere zu den USA – eine Gegenmachtbildung und im postsowjetischen Raum eine Hegemonie Russlands anstreben würde.
Wider Erwarten übte der neue Präsident zwar Kritik an der unipolaren Tendenz der amerikanischen Aussenpolitik, zeigte jedoch eine deutliche Koopera-tionsbereitschaft mit dem Westen. Auf den 11. September 2001 folgte die demon-strative Solidarisierung mit den USA. Am 28. Mai 2002 kam es in Rom zur Unterzeichnung der Deklaration «Beziehungen Russland-Nato: Neue Qualität», durch die unter anderem auch ein neues Organ – der Russland-Nato-Rat – geschaffen wurde, sowie eines Abkommens über die Zusammenarbeit in den Bereichen Terrorismusbekämpfung, Rüstungskontrolle und Katastrophenschutz. Die USA haben lange schon erkannt, dass gerade bei der Bekämpfung neuer Bedrohungsformen im 21. Jahrhundert der russische Beitrag unentbehrlich ist.
Es entspricht auch Putins Überzeugung, dass der russische Weg in die Moderne nur über eine Öffnung zur Aussenwelt und die Kooperation mit dem Westen führt. Zum ersten Mal in seiner Geschichte erlebt Russland dabei eine solche Öffnung, die mehr als nur Teile der russischen Elite umfasst. Auch die russisch-orthodoxe Kirche scheint den Prozess zu befürworten, was unterstreicht, dass die Änderungen in breiten Volksschichten wahrgenommen werden. Im rus-sischen Danilow-Kloster in Moskau hat am 18. Mai 2004 ein Treffen stattgefunden, das ohne jede Übertreibung als historisch bezeichnet werden darf. Erstmals nach 80 Jahren der Spaltung trafen sich das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche im Ausland, der Metropolit Lawr (New York) und der Patriarch von Moskau (und ganz Russlands), Aleksij II.
Eine entscheidende Rolle bei diesem Öffnungsprozess in Russland spielt die Entwicklung des Internets. Während die russische Web-Site www.yandex.ru im September 2002 das russische Internet-Auditorium auf über 8,8 Millionen Personen bezifferte, sprach eine Studie des soziologischen Instituts «Stiftung Öffentliche Meinung» im Frühjahr 2004 bereits von 14,9 Millionen Internet-Benutzern. Die Analysten der US-Rating-Agentur «Johnsons & Partners» kommen in ihrer Studie auf ein jährliches Wachstum der russischen Internetnutzer von annähernd 40 Prozent. Die Anzahl der Internet-Benutzer unter den Erwachsenen überstieg in Russland im Frühjahr 2003 erstmals zehn Prozent. Nach der Meinung massgeblicher Internet-Experten bedeutet dies, dass der Weg offen ist für das Vordringen des Internets in alle Lebensbereiche; damit wird es zu einem zentralen Faktor der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes.
Neuere Umfragen belegen, dass die Hälfte der Russen vor allem Westeuropa als einen aussichtsreichen Partner betrachten; die USA stehen mit 31 Prozent der Befragten weit hinter den westeuropäischen Ländern, die man, im Gegensatz zu den USA, nicht als weltpolitische Rivalen wahrnimmt.
Die Kooperation mit den USA scheint vor allem durch die Nato-Ost-erweiterung belastet. Für Irritationen sorgte insbesondere ein AWACS-Überwachungsflug, der im Rahmen des Programms «Partnerschaft für den Frieden» über den baltischen Staaten nahe der russischen Grenze erfolgte und eine Luftaufklärung bis tief ins nordwestliche Russland ermöglichte. Die russisch-europäische Kooperation hingegen ist eine Erfolgsgeschichte. Die Europäische Union und die russische Regierung konnten sich im Mai 2004 in Moskau auf einen Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) einigen. Dabei wurde im Beisein von Wladimir Putin und Romano Prodi ein Protokoll mit den Ergebnissen der insgesamt sechsjährigen Verhandlungen unterzeichnet. Die EU hatte eine Zustimmung wegen der russischen Subventionen für den einheimischen Energie- und Landwirtschaftssektor wäh-rend längerer Zeit verweigert. Die noch strittigen Fragen betrafen vor allem den Gas-Preis. Russland, das immerhin ein Viertel des Gasverbrauchs der Europäischen Union deckt, kennt einen Binnenpreis von etwa 30 Dollar pro 1000 Kubikmeter Gas. Nach Europa indessen exportiert man Gas zum fünffachen Preis. Was Wunder also, wenn die EU erreichen wollte, dass Moskau seinen Binnenpreis deutlich heraufsetzt, während Russland die niedrigen Preise als unerlässlichen Wettbewerbsvorteil betrachtet, der dem Status des weltweit grössten Gasproduzenten entspreche.
Das unterzeichnete Abkommen ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum WTO-Beitritt Russlands. Dieser Beitritt steht allerdings noch nicht endgültig fest. Weitere bilaterale Abkommen, insbesondere mit den USA, Japan, Südkorea und China, müssen noch folgen.
Da die russische Aussenpolitik in erster Linie vom Präsidenten bestimmt wird, kann man für Putins zweite Amtszeit eine Fortführung der bisherigen Politik erwarten. Putins verstärktes aussenpolitisches Engagement – wie die neu aufgebauten Beziehungen zur EU und zu den USA, sowie die strategische Partnerschaft Nato-Russland – lässt für viele Russen die ungelösten Probleme der russischen Innenpolitik in den Hintergrund treten. Die Ergebnisse einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada vom 18. bis März 2004, mit 1600 Befragten in 40 russischen Regionen zum Thema «Putins Errungenschaften», zeigten, dass das Thema «Verbesserung des internationalen Images Russlands» bei insgesamt 26 Fragen an die fünfte Stelle der Rangliste der Antworten vorrückte.
In seiner Rede vom 12. Juli 2004 im russischen Aussenministerium stellte Putin vor etwa 130 russischen Botschaftern und Diplomaten fest, die Vorstellungen über Russland seien im Ausland manchmal weit von der Realität entfernt. Dies hätte negative Auswirkungen sowohl für Russland als auch für die russischen Unternehmen. Er erteilte den Diplomaten die Weisung, in ihren Gastgeberländern aktiv für das Image Russlands zu werben und dabei das gute Investitionsklima im Land hervorzuheben.
Alexander Schrepfer-
Proskurjakov, geboren1969 in Tambov,
Russland, studierte Geschichte und Politik-wissen-schaften an der Staatlichen Pädagogischen Hochschule in Tambov und promovierte 2003 an der Universität Konstanz.