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Rückzug
Anja Nora Schulthess, fotografiert von Hanna Freeman.

Rückzug

Der Besuch in einer Aussteigergemeinschaft in den italienischen Bergen bringt ein Paar an eine neue Grenze. Eine sommerliche Erzählung über schweisstreibende Wanderungen, butterige Ravioli und Schweigen beim Sex.

 

Eigentlich hiess er Karl. Ich nannte ihn nur K. Einerseits, weil ich den Namen «Karl» für ebenso verbraucht hielt wie seine Bedeutung: der «Freie» oder der Ehemann. Andererseits erinnerte mich K. an einen berühmten Prokuristen und die Initiale K. materialisierte eine bestehende Distanz zwischen uns, die mir insgesamt stimmig erschien.

 

*

Wir wussten nicht, wohin wir gingen oder was und wer uns in den kommenden Tagen erwarten würde. Wir hatten nur den Namen des Ortes, von dem wir nicht wussten, ob er überhaupt ein Dorf war oder ein Weiler oder nicht einmal das: Poggioreale Francavalle – ein solcher Name verlangte nach Skepsis, denn auch das Kap der Guten Hoffnung hiess einmal «Kap der Stürme» und wurde erst von einem grössenwahnsinnigen, hoffnungslos verlorenen Seefahrer schöngeredet. Weiter hatten wir eine Karte auf Google Maps, die den Ort offensichtlich nicht kannte, die Telefonnummer von K.s Freundin, von der ich nicht wusste, ob er mit ihr geschlafen hatte oder es allenfalls noch tun würde, und den Namen einer Bushaltestelle, die wir nun, nach einer kurvigen Fahrt und einigen Anstrengungen meinerseits, den Brechreiz zu unterdrücken, hinter uns gelassen hatten.

Mein Erbrechen sei psychosomatisch, meinte mein bester Freund, Lauri, weil ich immer erbräche, wenn mir etwas zuwider sei, etwa das Erblicken einer unerwünschten Person oder ein falsches Wort. Ich hielt den Brechreiz während der Busfahrt für den Beweis, dass mein Erbrechen nicht psychosomatisch, sondern auf einen empfindlichen Magen zurückzuführen war. Ein falsches Wort fiel die ganze Busfahrt über nicht. K. hielt nur meine Hand und sagte nichts, und ich fand, dass er mir insgesamt guttat.

Schon wenige Schritte von der Bushaltestelle entfernt rief K. seine Freundin an, weil er sich nicht sicher war, welcher der Wege, die nicht als Wege zu erkennen waren, zu unserem Ziel führte. Ich packte derweil meine Sonnencreme aus, rieb mich damit ein, bis mein Gesicht und meine Arme schneeweiss waren, und hielt ihm die Sonnencreme hin. Er wollte nicht. Er wollte braun werden und nahm ­damit in Kauf, knallrot zu werden. «Einfach da hoch», sagte er, nachdem er das Telefon wieder in seinen Rucksack ­gesteckt hatte, und zeigte hinauf zum Berg. Habe ich doch gesagt, dachte ich und schwieg. Ich bereute mein Schuhwerk und mein Seidenkleid, das ich oben angekommen schon von Brombeer- und anderem Gestrüpp zerrissen und zerfetzt sah. Ich bereute bereits, hierhergekommen zu sein, und stellte mir vor, dass wir triefend nass oben ankommen würden, an einem runden Tisch mit Hipstern in den Dreissigern und möglicherweise ein paar verlorenen Single-Vierzigern, die Eintopf assen und sich darüber unterhielten, wo das Gemüse, die Kräuter und der Tofu (ein mögliches Streitthema) herkämen. In Anbetracht dieses Szenarios schämte ich mich dafür, dass K. seinen Roll­koffer dabeihatte und diesen nun kurzatmig den Berg hinaufschleppte. Ich entschied mich jedoch dafür, dass mir ein Mann mit Rollkoffer hundertmal lieber war als einer, der seinen Fairtrade-Rucksack lässig über einer Schulter hängend zur Schau stellen musste.

Es ging steil den Berg hoch, zuerst über Trocken­wiesen, dann über Mauern und heruntergekommene Steintreppen. Ich ging mit meinem Tourenrucksack voraus, zuerst gemächlich, mit festem Schritt, um die Schlangen zu vertreiben, dann immer schneller und empfand Lust dabei, ihn hinter mir keuchen zu hören. Ob es gehe dahinten, rief ich ihm zu. «Ja!», sagte er. Ob ich ihm beim Tragen helfen solle. «Nein!», sagte er. Ich ging weiter und wartete da und dort auf ihn. Ich genoss es, ihn leiden zu sehen. Ich fühlte mich jung oder zumindest jünger als er, was ich auch war. Der Weg führte nun durch den Wald. Ich wippte leicht mit meinem Becken und sang The Buzzcocks: «Whyyyy can’t I touch it … Tell me whyyyy can’t I taste it.»

Als sich der Wald lichtete und Anzeichen von vereinzelter Zivilisation auftauchten – ein eingetretener Zaun, eingefallene Steindächer und zwei in die Jahre gekommene Hähne, die sich abwechselnd einen Wettkampf im Schreien lieferten –, tat es mir leid, dass ich K. mit meinem Singen, meinem Stechschritt und meiner Besserwisserei verärgert hatte. Auch tat es mir nun ein wenig leid, dass ich ihn mit meinem Verhalten insgeheim für den Streit im Zug (das war vor dem Brechreiz im Bus) bestrafte. In Sichtweite des verlassenen Weilers war ich mir nämlich sicher: Er würde an diesem Ort mein einziger Verbündeter sein. Ich blieb stehen, hob mein Kleid hoch und zeigte ihm meinen Arsch, drehte mich dann um und küsste ihn. «Baby!» sagte er. «Baby!», sagte ich.

 

*

K war der erste Mann in meinem Leben, dem ich nicht ­verbot, mich «Baby» zu nennen. Im Unterschied zu den ­anderen Baby-Sagern gestand ich ihm nämlich zu, dass er unser Liebesleben nicht mit einem Softporno aus den Siebzigern verwechselte. Ich entschied aber, es ihm solange gleich zu tun, bis er irgendwann selbst darauf kommen würde, dass das Wort «Baby» für eine dreissigjährige Frau, die Mutter war, eher unpassend war.

 

*

Ein Streit war es nicht. Es war eines dieser Gespräche, die sich in der Tendenz vom leichten und neckischen Tonfall hin zum Gehässigen entwickelten. Wir sassen im Zug über die Schweizer Grenze und ich war an den letzten Über­arbeitungen eines Essays über die «Gesellschaft des Spektakels» – ein alter Hut, den man entweder verdammt ernst nehmen oder sich in postmoderner, ironischer Manier ­aneignen musste (ebenfalls ein alter Hut). Ich hätte den Text bereits zwei Wochen vor unserem «Ausflug» abgeben sollen und ärgerte mich nun abermals über mich selbst, vor allem aber über die Kommentare des älteren der beiden Herren Herausgeber. Er hatte sie mit roter Schrift in den Text eingefügt, als hätte er noch nie etwas von einem ­Korrekturmodus gehört: «Unbedingt auf Marx’ Feuerbach-Thesen eingehen» – «Hegel (Renversement des Renversements, gerade für unseren Band von enormem Interesse)» – «Den Leser einladen, der Texttradition zu folgen (Feuerbach, Lukács, Rote Fahne Peking, Pariser Kommune, Machiavelli, Brief von Arnold Ruge an Marx)». Es folgte ausserdem eine halbe A-4-Seite mit Angaben zu «fakulta­tiver Sekundärliteratur», deren Titel etwa so vielversprechend klangen wie Gottlob Freges Ausführungen über den Wahrheitswert von Sätzen.

Ich habe nie verstanden, warum die Leute,

sobald sie sich über der 1000-Meter-­Grenze befinden,

glauben, sie ­müssten «herzhaft» essen und

noch das letzte Stück Karotte in Butter ertränken, um zu überleben.

K. starrte derweil stundenlang auf sein Telefon und las dann zur Abwechslung eine Kolumne, die ich über den ­Begriff «Frauenliteratur» geschrieben hatte.

«Das klingt, als würdest du mit allen Männern, mit denen du ein Gespräch führst, danach ins Bett springen», sagte er halbernst.

«Ich springe nur mit dir ins Bett, vorläufig. Und sowieso, das spielt überhaupt keine Rolle. Es ist ein literarischer Text.»

«Du zitierst mich mit Worten, die ich so nie gesagt habe.»

«Ich habe sie so gehört.»

Er verdrehte die Augen.

«Du hörst und siehst Sachen, die einfach so nicht stattgefunden haben oder so gesagt wurden», sagte er in pastoralem Ton (oder vielleicht hörte ich das nur so).

«Selbst wenn dem so wäre, bliebe mir die literarische Verfremdung», gab ich zurück mit Betonung des Wortes «Verfremdung».

«Aber musst du dazu mich benutzen?»

«Herrgott, K., das bist nicht du. Das ist im besten Fall von einer realen Uneinigkeit zwischen uns und Worten, die du in den Mund genommen hast, inspiriert. Bilde dir nicht zu viel darauf ein. Ich hätte auch irgendein anderes Gespräch aus dem realen Leben herbeizitieren können oder einen anderen Mann.»

«Ja, das ist mir schon klar. Mir ist einfach wichtig, dass wir uns nicht missverstehen und dass du nicht glaubst, ich denke das, was du schreibst, was ich vermeintlich denke.»

«Wir missverstehen uns ständig», sagte ich, klappte den Laptop zu, stand auf und ging zur Toilette, um diesem Gespräch ein Ende zu setzen.

Die erhoffte Bestätigung kam dann doch: «Ich finde den Text gut», sagte er, als ich zurückkam. «Dann ist ja alles gut, Baby», zitierte ich K. mehrfach, und wir stiegen aus.

 

*

K.s Interesse an meinem Schreiben war mir von Anfang an suspekt. Er war etwas zu ernsthaft interessiert, woran ich arbeitete, und wenn ich etwas geschrieben hatte, wollte er es unbedingt lesen, was ich ihm meistens verweigerte. Wenn er mich mit Lob überschüttete, hielt ich wahlweise ihn für verblendet oder mich selbst für eine Blenderin. Je länger wir uns kannten, desto mehr glaubte er, sich selbst oder eines unserer bislang harmlosen Dramen in meinen Texten zu erkennen, und sagte dann meistens: «Super, aber nicht gerade erbaulich.» Dass es vermessen war, dass er glaubte, jedes «er» in einem meiner Texte hätte irgendetwas mit ihm zu tun, behielt ich für mich. Ich hatte gelernt, im richtigen Moment zu schweigen und einem Mann seinen kleinen Grössenwahn zu lassen.

Sein Hauptinteresse galt ohnehin meinen «expliziten Texten», die ausnahmslos irgendwo in einer meiner grossen Zettelkisten verschwanden. Immer wieder kam er darauf zurück und wurde geradezu von der Idee besessen, ich würde ihm irgendwann «erotische» Literatur von mir vorlesen. In seiner Vorstellung vermutlich im Bett, nackt, nur eine Brille und ein schwarzes Höschen tragend (aber was wusste ich schon von seinen Fantasien. Darüber sprach er ja nicht). Ich sagte ihm, wir seien nicht Protagonisten eines französischen, pseudointellektuellen Erotikstreifens und überhaupt mache er sich vermutlich sehr falsche Vorstellungen, die sogenannt «expliziten Texte» seien dezidiert nicht pornografisch und darüber hinaus ebenfalls «nicht gerade erbaulich».

Ich befürchtete, ich würde nachts

unter Tausenden von ­Steinen begraben,

neben einem Mann, von dem ich genau

genommen nicht viel mehr wusste,

als dass er sich ein ­solides

Selbstbewusstsein antrainiert ­hatte,

einige harm­lose Neurosen ­besass

und behauptete, mich zu lieben.

Ich liess ab und zu, wenn ich wusste, dass er zu mir kam, eines oder zwei Exemplare der Sorte «explizite Texte» offen aufgeschlagen auf dem Tischchen im Eingang meiner Wohnung liegen, wie Minister D. in Der entwendete Brief. Er entdeckte sie nicht, vermutlich schaute er nicht einmal hin. Ich hätte sämtliche Liebesbriefe vergangener Liebhaber liegen lassen können oder aufgeschlagene Terminkalender mit einschlägigen Eintragungen (Treffen mit Gustav Hollmer zum Beispiel), ohne dass er davon Notiz genommen hätte. Ich entschied, dass er sich selbst entweder zu sicher fühlte oder dass sein Interesse an meinen Texten und an mir nicht so gross war, wie er vorgab. Oder beides und ich empfand es als kränkend. Die «expliziten» Texte landeten wieder bei den anderen in den grossen Zettelkisten. Ich entschied, dass er kläglich an meiner Prüfung gescheitert war – Ein so verhängnisvolles Schicksal / Wenn es nicht eines Atreus würdig ist, ist es eines Thyestes würdig –, und ich schloss daraus, dass es in Ordnung war, vor einem solchen Mann Geheimnisse zu bewahren und gewisse Fragen, schweigend ausharrend, vorbeiziehen zu lassen wie ein lästiges, aber harmloses Sommergewitter.

 

*

Die Häuser waren zerfallen, die Trampelpfade sahen aus, als wäre seit Jahren kein Mensch mehr vorbeigekommen. Efeu, Gras, Brombeergestrüpp und andere Dornen­gewächse hatten sich durch die Mauern gekämpft. Inmitten der eingestürzten Mauern einer Steinhütte ragte ein grosser Feigenbaum hervor, als gäbe es keinen geeigneteren Platz, um sich in die Höhe zu recken und Wurzeln zu schlagen. Von den etwa zehn Häusern sahen drei so aus, als würden sie ab und zu von Leuten bewohnt, die den Rückzug ins einfache Leben suchten. Hätten nicht die beiden alten Hähne geschrien, hätte man vermutet, sich in ein Geisternest verirrt zu haben. Wir spähten, neugierig wie zwei kleine Kinder, durch den eingetretenen Eingang eines mit Efeu überrankten Gemäuers. Mich überfiel für einen kurzen Moment die Vorstellung, dass dies ein romantischer Moment sein könnte. Aber K. neben mir stöhnte nur. Sein Gesicht war rot, Schweissperlen rollten über seine Stirn. Beim plätschernden Brunnen zog ich mein Kleid aus und legte mich ins kalte Wasser. K. pfiff anerkennend. Pfeifen konnte er immer, auch wenn sonst nichts mehr ging. Der Brunnen war mit Algen bewachsen, auf seinem Boden lag zentimeterdick Dreck, der sich nach und nach mit dem Wasser vermischte und auf grossen Flächen an meinem Körper haften blieb. Ein wenig Streetcredibility konnte nicht schaden, wenn man Aussteiger besuchte und darauf angewiesen war, Essen, ein Bett und genügend Alkohol zu bekommen.

«Und wenn das Haus, in dem wir wohnen, über Nacht einstürzt?», fragte ich K.

«Das passiert nicht.»

«Warum nicht?»

«Weil seit Jahrzehnten oder wahrscheinlich Jahrhunderten nichts passiert ist.»

«Umso mehr wäre es Zeit, dass es passiert.»

«Dir ist nicht zu helfen, Ada», sagte K. Er sagte meinen Namen nur, wenn er väterlich im Ton wurde. K. zog mich am Arm in Richtung eines Hauses, das nicht so aussah, wie es uns beschrieben wurde, aber es war das einzige, das mehr als Gestrüpp und verwesende Tiere versprach.

 

*

Der Tisch war schon gedeckt. Die anderen Gäste seien leider gestern abgereist, meinte K.s Freundin, die ihn mit einer innigen Umarmung unter alten Freunden empfing. Ich verstand das Wort «leider» in diesem Zusammenhang nicht, war aber vorerst erleichtert. K. war es auch. Barbara, so hiess die Frau, trug kurze Hosen, Bergschuhe und ein ausgeleiertes T-Shirt. Ihre kräftigen Beine waren von der Gartenarbeit zerkratzt, unter ihren Fingernägeln befand sich schwarzer Dreck und sie trug die Kochtöpfe auf den Tisch, als handelte es sich dabei um schwere, auf dem Feuer gebratene Tiere. Ihr Freund, Pan, war ein feinglied­riger, aber gut gebauter Ziegenhirt mit dunklen, lockigen Haaren, markanten Augenbrauen und blauen Augen. Er war, objektiv betrachtet, durchaus attraktiv, aber bieder und langweilig, sobald er den Mund aufmachte. Ein «Zierhampel», hätte meine Grossmutter wohl dazu gesagt.

Barbara machte sich über K.s Rollkoffer lustig. Ich lachte aus reiner Höflichkeit mit und erschrak über meine eigene Heuchelei. Dann schöpfte sie mit einer grossen Kelle von Butter und Rahm triefende Ravioli auf die Teller. Ich habe nie verstanden, warum die Leute, sobald sie sich über der 1000-Meter-Grenze befinden, glauben, sie müssten «herzhaft» essen und noch das letzte Stück Karotte in Butter ertränken, um zu überleben.

«Ich nehme gerne zuerst etwas Salat», sagte ich. Barbara bestrafte mich dafür mit einem überheblichen Blick, der in etwa besagte: «Ah, du bist von der Sorte Sissy-Frau, die nur Salat isst.» Der Ziegenhirt, Barbara und K. machten sich über die Ravioli her, während ich das Grünzeug zwischen meinen Zähnen hin- und herschob. Pan ass und schwieg. Ich tat, als würde ich essen, und schwieg, und Barbara und K. unterhielten sich über K.s Hipster-Band. Sie war offenbar ein ehemaliges Groupie, schloss ich aus dem Gespräch. Dann erzählte sie von dem Haus, das sie und Pan für 50 000 Euro gekauft hatten und nach und nach eigenhändig entrümpeln und sanieren würden, von der Ziegenherde und der im Aufbau begriffenen ökologischen Abwasserkläranlage, die Fäkalien und andere Körperabsonderungen per Belebtschlammverfahren zersetzte.

Barbara warf mir scharfe Blicke zu, abwechselnd sah sie auf meinen Teller mit Grünzeug, meinen Körper und mein noch halbnasses Kleid. Sie tat das subtil und so lange, bis ich mir aus reiner Resignation einen Teller Butter­ravioli schöpfte, nur damit sie damit aufhörte. Dann lächelte sie triumphierend, wie eine Übermutter, die ihren Nachwuchs durch Liebesentzug dazu brachte zu tun, wovon sie wusste, dass es einem guttun und einen gross und stark machen würde.

 

*

Ich erbrach die Ravioli und das Grünzeug hinter dem grossen Feigenbaum im Garten und deckte das Erbrochene mit Gestrüpp zu. Eine verwilderte schwarze Katze kam herbei und roch daran, unentschieden, ob es sich um etwas Essbares handelte. Der eindringliche Blick der Katze erinnerte mich an K.s seichte Metapher über das Vertrauen. Eine Katze, sagte er mir einmal, als ich auf ihm lag, würde ihr volles Gewicht erst abgeben, wenn sie einem Menschen vollständig vertraute. Es war eine dieser Bemerkungen, die mir zu verstehen geben sollten, dass ich grundlos misstrauisch, misanthropisch, für meine sich selbst erfüllenden Prophezeiungen selbst verantwortlich war und eine Therapie mir wohl nicht schaden würde. Ich sagte ihm, selbst wenn das auf Katzen zutreffe, die Analogie sei weit hergeholt und ich traue nicht einmal mir selbst.

 

*

Es folgte die obligatorische Hausführung, begleitet von langen Barbara-Monologen: abermals Ausführungen über den eigenhändig errichteten ökologischen Klärabwassertank, der selbstredend auch jährlich eigenhändig entleert werden musste, die Parzellen des Weilers, die Erbberechtigten und die Komplexität des römischen Erbgesetzes, die Nachbarn (es gab offenbar noch andere), die nachhaltigen Materialien des Sanierungsbedarfs, den Hausrat der verstorbenen Vorbesitzer, Pro specia rara, das Lagern von Zwiebeln und Kartoffeln, die Ziegenherde und ihre syphilis­ähnlichen Krankheiten, den Zustand des Bodens und des Steindachs. K. nickte im Minutentakt höflich, machte ein interessiertes Gesicht und streute da und dort eine Frage ein, als wäre er bei einem Vorstellungsgespräch. Ich war unentschieden, ob ich ihn dafür bewundern oder verachten sollte. Meine Aufmerksamkeit galt vor allem den Messern, die an der Mauer über dem Schüttstein nach ihrer Grösse geordnet aufgereiht waren. Ich fragte mich, ob es irgendwo im Haus noch einen Karabiner oder eine andere funktionstüchtige Schusswaffe gab. Es war immer gut zu wissen, wo sich die Waffen befanden, wenn man sich in der Fremde aufhielt (dass die Fremde überall ist, braucht man nicht zu sagen).

K.s Interesse oder eher Besorgnis galt der nicht vorhandenen Dusche und der improvisierten Toilette im Freien. Ich klinkte mich wieder ein, als es um das Steindach ging. Ich befürchtete, ich würde nachts unter Tausenden von Steinen begraben, neben einem Mann, von dem ich genau genommen nicht viel mehr wusste, als dass er sich ein solides Selbstbewusstsein antrainiert hatte, einige harmlose Neurosen besass und behauptete, mich zu lieben.

«Marc-Andrea und Pan haben das Steindach in den letzten Monaten saniert. Marc-Andrea ist Architekt. Er kennt sich aus. Seine Frau hat auch Architektur studiert. Sie haben das Haus ganz hinten am Ende des Weilers von Marc-Andreas Grossvater übernommen, er hat alles selbst renoviert, es ist wunderschön», sagte Barbara, «wir müssen sie unbedingt besuchen.»

K. warf mir einen Blick zu (siehst du!).

«Einfach die umgebenden eingestürzten Hausteile sollte man nicht betreten», fügte Barbara hinzu. «Ab und zu kann es schon vorkommen, dass ein Stein herunterfällt.»

Ich warf K. einen vorwurfsvollen Blick zu (siehst du!).

«Sag das Ada nicht», sagte K. zu Barbara, lächelte und kniff mich mit zwei Fingern in den Oberarm. «Sie hat Angst, dass nachts das Steindach über ihr zusammenfällt.»

Barbara lachte. «Es gibt keinen Grund zur Sorge», sagte sie mit ihrem Übermutterlächeln. Ich zwang mir ein Lächeln ab und bestrafte K. mit einem bösen Blick. Ich hasse es, wenn man von mir in der dritten Person spricht.

«Ihr seid sicher müde», sagte Barbara, «ich zeige euch das Zimmer, fühlt euch wie zu Hause!»

 

*

Wir bezogen das Zimmer, das düsterer und staubiger war als die Altstadtmansarde meines Grossvaters, der dort, nachdem er meine Grossmutter mit den drei Kindern verlassen hatte, bis zu seinem Tod als ärmlicher Einsiedler ­gelebt hatte, nur dass er im Unterschied zum ärmlichen Einsiedler heimlich ein paar Zehntausend Franken anhäufte und Frauenbesuch empfing.

Immerhin liessen die kaputten Fensterscheiben etwas Luft herein. Ich riss das Fenster auf und liess mich unter einem tiefen Seufzer, Gesicht voran, auf die Matratze fallen. Staub wirbelte auf.

«Ich hab’s mir anders vorgestellt», sagte K. und legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich.

«Grösser?», sagte ich lachend.

«Nein, einfach anders», sagte er.

Ich versuchte mich unter seinem schweren Körper aufzubäumen, um ihn von mir abzustossen. Nach einigen Versuchen liess ich mich erschöpft vor Anstrengung sinken und gab auf.

«Aber hältst du’s aus hier? Barbara ist nett, oder?»

«Ja», seufzte ich, «sie ist nett.»

«Komm jetzt endlich her», sagte K., packte mich, drehte mich um und begann mich zu küssen, mein Gesicht, meinen Hals, und biss mich in den Nacken. Ich stöhnte auf. «Psst…», sagte K. Ich verdrehte die Augen, verhielt mich dann aber zunächst widerwillig, dann trotzig so leise wie möglich. K. zog sich aus, dann mich und wir machten weiter wie immer, ausser dass wir die Matratze nicht verliessen, die Stellung nicht änderten und ich mich leise verhielt. Er verhielt sich immer leise beim Sex, so leise, dass ich oft nicht einmal merkte, wenn er zum Orgasmus kam. Anfangs empfand ich das als irritierend, weil ich es anders gewohnt war. Mit der Zeit schätzte ich seine ruhige unprätentiöse Art zu kopulieren, und noch dankbarer war ich, dass er mir während dem Sex nicht irgendwelche abgedroschene Pornophrasen ins Ohr flüsterte.

«Komm in mich rein», sagte ich, leise natürlich.

«Aber ich weiss nicht, wo ich das Kondom nachher entsorgen soll. Und es gibt keine Dusche.» Er musste an meinem verächtlichen Gesichtsausdruck gemerkt haben, wie lächerlich er war, und vielleicht zum Beweis, dass er nicht ganz so kompliziert war, drang er in mich ein. Relativ schnell und heftig dafür, dass er versuchte, so leise und ­unbemerkt wie möglich Sex im Nebenzimmer eines Aussteigerpärchens zu haben. Er wurde noch härter in mir. Vermutlich waren es das Heimliche, die offenen Fenster und die Missionars­stellung, die ihn antrieben. Kurz vor dem ­Orgasmus zog er seinen Schwanz raus. Das warme Sperma verteilte sich über meinen Unterleib und der eigentümliche Geruch von frischem Sperma verbreitete sich im Raum. «Du schiebst alles auf, ausser deine Ejakulation», dachte ich.

Ich formte das Sperma auf meinem Unterleib zu einer Herzform (ein Witz). K. lachte laut und begann mich dann zu lecken. Die Tatsache, dass mir das Wort «Schwanz» im Gegensatz zu Wörtern für das weibliche Geschlechtsorgan, die entweder verniedlichend oder abwertend waren, so leicht über die Lippen ging, liess mich einmal mehr an meinem Selbstverständnis als Frau zweifeln.

Ich schloss die Augen und sah dabei zu, wie Hollmer mich in der Umkleidekabine des Seebads auf die Holzbank hob, mir mein nasses, schwarzes Badekleid im Schritt zur Seite schob, begann, mich zu lecken, und schliesslich von hinten in mich eindrang, während ich mich an den Holzleisten der nach frisch gestrichener Farbe riechenden Wand festkrallte. Gleichzeitig konzentrierte ich mich ­darauf, keinen Ton von mir zu geben. Ich kam, schob K.s Kopf weg und drehte mich zur Seite.

«Was ist los?», fragte K.

«Ich mag es nicht, wenn du mit der Zunge weitermachst, wenn ich gekommen bin.»

«Du bist gekommen?»

«Hast du’s nicht gemerkt?»

«Nein. Du warst so leise.»

«Du hast gesagt, ich solle leise sein.»

«Ja, aber man muss es ja nicht übertreiben.»

Ich verdrehte die Augen und er küsste mich auf die Stirn, schmiegte sich dann von der Seite her an mich und umschloss mich mit seinen grossen Armen. Das Sperma war inzwischen eingetrocknet und spannte auf meiner Haut.

«Aber war es gut für dich?»

«Ja, es war gut.»

«Aber weniger als sonst?»

«Nein, nicht weniger gut, einfach anders.»

«Manchmal denke ich, du machst mir etwas vor.»

Ich begann laut zu stöhnen und K. hielt mir die Hand vor den Mund.

 

*

K. war mit seinem Telefon beschäftigt und ich dabei, meine Bücher auszupacken, als Barbara an die Tür klopfte und wissen wollte, ob wir Lust hätten auf einen Apéro und wie es sei mit dem Essen, man könne Risotto kochen oder Polenta oder es gäbe noch frische Tomaten aus dem Garten und Cima di Rapa, ob wir das mögen. Ich war auf jeden Fall für den Apéro und dagegen, dass diese Person an unsere Tür klopfte, um ihre Gastfreundschaft, die allmählich in Unterwürfigkeit zu kippen drohte, zur Schau zu stellen. K. war ebenfalls für den Apéro und lächelte nett und meinte, wir würden gleich runterkommen. «Wir fühlen uns wie zu Hause», murmelte ich vor mich hin. «Was sagst du?», fragte K. «Nichts», gab ich zurück und stapelte die Bücher neben der Matratze übereinander. Zuerst der Tractatus Suicidalis, einen Roman («Frauenliteratur») und eine philosophische Abhandlung über die Frage der Gewalt und ihre ethischen Implikationen, die Gegenstand meiner ­Doktorarbeit oder eher eines Exposés zu meiner angehenden Doktorarbeit war. K. empfand die Tatsache, dass ich den Tractatus Suicidalis mit mir herumtrug, ebenso als Provokation wie mein Interesse am Karabiner seines Grossvaters, der sich auf dem Dachboden seiner Wohnung befand. «Du machst mir Angst, Ada» oder «Du bist wahnsinnig, Baby», pflegte er zu sagen. «Wahnsinnig» war eines dieser Worte, die er gebrauchte, wenn etwas sein Vorstellungsvermögen überstieg oder er insgesamt überfordert war. «Easy» war das Gegenstück dazu und er streute es überall dort ein, wo er glaubte, dass ich eine Gefahr, einen Betrug, ein Drama oder das Ende witterte.

 

*

Pan verabschiedete sich gerade von Barbara, als wir die Treppe herunterkamen. Wie er das tat, bekräftigte meine These, dass die beiden keinen oder keinen guten Sex hatten, und ich fragte mich, ob die beiden Kinder wollten, so jung war sie auch nicht mehr. Er müsse für ein paar Tage nach Bern, um als Tontechniker an einem Festival zu arbeiten. Ich liess es bleiben, ihn zu fragen, ob das mit seiner Aussteigerkarriere vereinbar sei und ob die angereisten World-Music-Gäste ihre Flugmeilen mit einer Baumpatenschaft wiedergutmachen würden. Ich widmete mich meinem Cynar, den ich hastig austrank, um mir den nächsten einzuschenken, bevor Barbara die Flasche wieder versorgte. K. und ich sassen draussen auf der Bank, während sie in der Küche fuhrwerkte. Ich hatte ihr dreimal, beim dritten Mal in fast schon flehendem Ton, angeboten, selbst zu kochen oder ihr wenigstens mit den Rüstmessern zur Hand zu gehen, aber sie hatte freundlich abgelehnt. Wir seien sicher müde und sollten uns doch erst mal entspannen und richtig ankommen.

Wir «entspannten» uns also draussen auf der Bank.

Ich blinzelte in die Sonne, die bald hinter der Bergkette verschwinden würde, und beobachtete ein paar Eidechsen, die sich auf den Steinmauern wärmten. Eine hatte ihren Schwanz verloren und ich versuchte, mir in Erinnerung zu rufen, wie das genau war mit den Eidechsen und den Schwänzen und zu welchem Zweck diese Eidechsen ohne Schwänze weiterlebten und wie ein solch schwanzloses Leben sich von dem eines Lebens mit Schwanz unterschied. Aber ich konnte mich nicht mehr erinnern.

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