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Rückzug statt Protest

Viele Jugendliche nehmen die sozialstaatliche Umverteilung einfach hin. Widerstand ist nicht in Sicht. Überlegungen zur Jugend in einer Gesellschaft, in der die Babyboomer ihre Privilegien verteidigen.

Zu den grundlegenden Randbedingungen für Jugendliche hierzulande gehören erstens die fortgeschrittene (und fortschreitende) Individualisierung, zweitens die Alterung der Gesellschaft und schliesslich die Globalisierung mit ihrer Neuverteilung von Chancen und Risiken.

Die Individualisierung bedeutet, dass für den einzelnen durch wachsenden Wohlstand und die damit verbundene Reduktion gesellschaftlicher und ökonomischer Zwänge immer mehr Wahlmöglichkeiten entstehen. Diese Erweiterung der Möglichkeiten und das damit verknüpfte Ziel der Selbstverwirklichung wird von kulturkritischen Beobachtern, aber offensichtlich auch von einem Teil der Jugendlichen, als Belastung oder gar Bedrohung empfunden. Das Verhalten der Jugendlichen wird daher als Reaktion auf diesen «Druck» interpretiert. Dabei muss unterschieden werden zwischen kollektiven Anpassungs- oder Ausdrucksformen – im Sinne jugendlicher Subkulturen, Jugendbewegungen etc. – und individuellen Verhaltensweisen (die selbstverständlich auch

en masse auftreten können).

Es scheint, dass in den letzten Jahren individuelle gegenüber kollektiven und introvertierte gegenüber extrovertierten Formen der jugendlichen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft wichtiger wurden. Dies steht nicht unbedingt im Widerspruch zur aktuellen Klage über die angebliche Zunahme der Jugendgewalt; denn diese ist medial einfach viel sichtbarer als eine introvertierte Form der Auseinandersetzung. Jugendgewalt und die medienwirksamen Einzelfälle könnten gerade auch eine individuelle Antwort darauf sein, dass sich jugendliche «Energie» weniger organisiert oder weniger kollektiv, beispielsweise in Vereinen, entladen kann. Auch der gesellschaftliche Rückzug Jugendlicher scheint an Bedeutung zu gewinnen.

So wird in Japan über das Phänomen der «Hikikomori» diskutiert, junger Menschen, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschliessen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Zu diesen jugendlichen Verweigerern gehören gemäss dem japanischen Gesundheitsministerium 50’000 Personen. In der Schweiz könnte man etwa den starken Anstieg jugendlicher IV-Bezüger mit diesem Phänomen assoziieren.

Die Alterung der Gesellschaft ist in erster Linie ein europäisches und asiatisches Phänomen. In zahllosen Kommentaren – von Frank Schirrmachers «Methusalem-Komplott» bis zur publizistischen Charakterisierung der Babyboom-Generation als «greedy generation» – wird die Frage nach der Umverteilung zwischen Jung und Alt diskutiert. Aber ein sozialpolitischer Generationenkampf wird in Ermangelung einer organisierten Interessenartikulation der Jüngeren kaum irgendwo ausgetragen. Die demographische «Verknappung» von Kindern und Jugendlichen bedeutet eben auch, dass der Marktwert der Jugend steigt. Dies wirkt sich nicht nur in steigenden Bildungsinvestitionen pro Kopf aus, sondern vor allem auch in deutlich verbesserten Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der sich zu einem Verkäufermarkt wandelt. Die insgesamt besseren Mobilitätschancen für Jüngere relativieren die erwähnte «Ausbeutung» der Jüngeren durch die Älteren.

Es scheint somit offen, wie sich die zunehmende «Alterslast» auf Verhalten und Einstellung der Jugend auswirkt. Man ist versucht, gewisse Vermeidungshaltungen Jugendlicher mit der quasi-ohnmächtigen Verliererrolle in der sozialstaatlichen Umverteilung in Verbindung zu bringen. Das Aufschieben oder gar die «Verweigerung» der Reproduktion könnte als emphatische, aber durchaus rational-ökonomische Antwort auf die Benachteiligung junger Familien gegenüber einer vermögenden Rentnergeneration angesehen werden.

Auch auf kulturellem Feld könnte die demographische Verschiebung zu Konflikten zwischen Jüngeren und Älteren führen. Der erwähnte gesellschaftliche Reichtum sowie der medizinische Fortschritt (Stichworte «Wellness», «Anti-Ageing») ermöglicht es der jetzt mächtigen älteren Generation, den kulturellen Generationentransfer gleichsam aufzuschieben. Die Babyboomer – also die 68er Generation – scheinen ihre Brands und ihre feuilletonistische Definitionsmacht gegenüber einer nachrückenden Generation ebenso vehement zu verteidigen wie das Ancien régime seine Privilegien.

Die Globalisierung wird von der jungen Generation in den reichen westlichen Gesellschaften nicht nur als Anbruch des goldenen Zeitalters, sondern auch als Beginn einer Periode grundsätzlicher Unsicherheit erlebt. Die Anzeichen einer tiefen Zukunftsverunsicherung gehen zum einen auf eine neue Statusunsicherheit bei den weniger begabten und ungenügend ausgebildeten Jugendlichen zurück; in der globalisierten Wissensgesellschaft steigt für Jugendliche das Risiko, den Anschluss zu verpassen. Zum andern könnten die zunehmend als ungelöst und «schicksalhaft» empfundenen «grossen Weltfragen» (Ökologie, Klima) bei Jugendlichen in naher Zukunft zu fundamentalen weltanschaulichen Verwerfungen führen.

THOMAS HELD, geboren 1946, ist promovierter Soziologe und Direktor des Thinktanks «Avenir Suisse». Der Text geht auf ein Thesenpapier zurück, das 2007 an einer Tagung des Vereins für Zivilgesellschaft zum Thema «Jugend» präsentiert wurde.

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