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Rückerts Uebersetzung der «Hamasa»

Hochwerte Vettern, wir müssen Euch totschlagen.
Friedrich Rückerts Übertragung der ältesten arabischen Anthologie.

«Ihr seid uns hochwerte und herzliche Vettern, aber wir müssen euch totschlagen» – so kommentiert Friedrich Rückert 1846 das 64. «Heldenlied» aus seiner Übertragung der «Hamasa», der ältesten Anthologie der arabischen Literatur. «Wir weinen über euch, wenn wir euch töten», heisst es dort, «und töten euch, als kümmert’ es uns nicht.» Auch unter Vettern, hier den Bruderstämmen der Bakr und Taglib, gelten die ehernen Gesetze blutiger Fehde. Der deutsche Nachdichter aber gestattet sich die Distanz eines ironischen Kommentars. Wievielmehr täte er es heute, wenn er sähe, wie die «hochwerten und herzlieben Vettern» der monotheistischen Religionen einander totschlagen und ihre obsoleten Heldenlieder dazu singen.

Die «Hamasa» ist im 9. Jahrhundert u.Z. von dem arabischen Dichter Abu Temmam aus vor- und frühislamischen Dichtungen zusammengestellt worden. Rückert hat den zeitlichen Rahmen in seinen Anmerkungen bis zu Gedichten des 14. Jahrhunderts gespannt und ist auch sonst in seiner Übertragung, nicht immer zur Freude seiner Fachkollegen, ziemlich frei verfahren. Eigentlich hat er eine eigene Anthologie geschaffen. Abu Temmam, wahrscheinlich 806 geboren, war Sohn eines christlichen Weinhändlers aus Damaskus. Als Zwanzigjähriger hat er als Wasserträger in der grossen Moschee von Alt-Kairo gearbeitet; er muss also in der Zwischenzeit übergetreten sein. Dann stieg er in Bagdad zum Panegyriker der Kalifen auf. Devot scheint er freilich nicht gewesen zu sein. Berühmt war er vielmehr für seine Schlagfertigkeit. Als er dem Kalifen al-Mu’tasim drei Tage lang immer wieder dasselbe Gedicht vortrug, fragte der ihn schliesslich mit bescheidenem mannestümelnden Witz: «Warum entschleierst du uns immer wieder deine Alte?» Der Dichter antwortete: «Bis ich ihren Brautpreis voll erhalten habe.» Woraufhin der Kalif ihn endlich angemessen entlohnte. 845 ist Abu Temmam, vom Hofdichter zum Postinspektor befördert, in Mossul gestorben.

Friedrich Rückert hat an der Übertragung und Kommentierung der Anthologie von 1828 bis 1833, dann erneut von 1841 bis 1846 gearbeitet. Seit 1826 war er Professor für orientalische Sprachen in Erlangen, seit 1841 in Berlin. Seine Leistung ist um so bewundernswerter, als er im Arabischen, das sich nach seiner bescheidenen Einschätzung «nicht so spielend lernt als das Persische», weitgehend Autodidakt war. Dass nach der Edition seiner «Weisheit des Brahmanen» im Rahmen der historisch-kritischen Gesamtausgabe seiner Werke, der «Schweinfurter Edition», nun diese Übertragung wieder zugänglich wird, hat seine eigene Logik; es ist eine beeindruckende Demonstration des literarischen Kosmopolitismus zu Zeiten des westöstlichen Fundamentalismus. Rückert, politisch ein nationalistischer Hitzkopf «Geharnischter Sonette», war literarisch ein Universalist, ein poetischer Globalisierer, der dem Pathos von Goethes Begriff «Weltliteratur» Realität gab. Polyglott wollte er sein, um die eine Sprache der Poesie sprechen zu können.

Die Grenzen seiner literarischen Orientalistik hat er selber in einem Nachlassgedicht glossiert: «Auf dem Lehnstuhl der Poesie / Und dem Lehrstuhl der Philologie / Wollt’ ich sitzen zugleich./ Ich habe mich – das seh’ ich jetzt – / Zwischen zwei Stühlen niedergesetzt / Und sitze da nicht weich.» Noch härter sitzt der Leser bei der Lektüre der Einleitung zur Neuedition. Sie ist hochgelehrt; man ist aber auch mehrfach versucht, sie gemäss Rückerts «Ermutigung zur Übersetzung der Hamasa» als «trockne Spreu den trocknen Keuchern» zu überlassen.

Auch die «Hamasa» mutet auf den ersten Blick «geharnischt» an. Sie trägt ihren Namen nach dem grössten Teil der 881 Gedichte umfassenden Sammlung, den «Heldenliedern«. Die Neuedition übersetzt «Hamasa» einmal mit «Heldentum«, einmal mit «Enthusiasmus, Leidenschaft» und – aktualisierend – «Engagement». Nichts bringt das Blut in heroischen Frühzeiten offenbar inspirativ so in Wallung wie eben das Blut. Dafür, dass es in reichstem Masse fliesst, sorgt unter den arabischen Stämmen die Blutrache, jenes Perpetuum mobile tödlicher Gewalt, das nicht stillzustellen ist und eine gewisse humane Kompensation nur in den ebenso kategorischen Gesetzen der Gastfreundschaft findet. Heutige westliche Okkupanten arabischer Länder haben offensichtlich keine Ahnung von der Zwangslogik der Blutrache, wenn sie glauben, hier durch Gewalt den Zirkel der Gewalt durchbrechen zu können. Das hat Abu Temmam schon zu glossieren gewusst. Und Rückert noch mehr. Das Resümee eines der obligaten «Bruderkriege» lautet kurz und knapp: «Dann mit gebrochnen Speeren schieden sie, / wir mit gebog’nem Schwert, vom Kampfverein.// Sie nachteten im Hochland mit Gestöhn, / Und Wunden banden wir beim Sterneschein.»

Aber unter den «Heldenliedern» finden sich auch ganz andere Töne, etwa die Klage eines vom Schicksal geschlagenen Vaters: «Doch unsre Kinder stehn vor uns / als unsre Herzen da im Raum. // Wenn eines rauh ein Wind anweht, / so flieht mein Auge Schlaf und Traum.» In Gedichten, die Rückert «modern» nennt, tritt an die Stelle des «wehrhaften herben Beduinentums zahme städtische Geselligkeit» – gottlob! –, die sich von der «gewaltsamen Aufrüttelung» der «Schrecken des Gewissens» durch den Islam nicht in die Pflicht nehmen lässt. «Beduinen-Wolleben» macht sich breit. Dem fünften Buch der wieder eher heldisch inspirierten «Schmählieder», dem abschliessenden zehnten Buch «Weiberschmähungen» (worunter sich gerechterweise auch «Männerschmähungen» finden) stehen neben den «Sprüchen der feinen Sitte» sowie «Gast- und Ehrenliedern» die Liebeslieder entgegen. Auch hier sind die Übergänge zu den Klagen fliessend: «Nichts Unglückseligeres als ein Verliebter, / mocht’ er auch süssen Schmack der Lieb’ erlangen; / Denn weinen siehst du ihn zu allen Zeiten / aus Furcht entweder oder aus Verlangen: / Ihn macht, den Lieben fern, die Sehnsucht weinen, / und weinen, ihnen nah’, des Abschieds Bangen: / So ist ihm heiss das Auge bei der Trennung, / Und heiss ist ihm das Auge beim Umfangen.»

«Die Poesie», so Rückerts Summe in der vorangestellten Selbstermutigung zur Übersetzung der «Hamasa», «hat hier ein dürftges Leben, / bei durstgen Herden im entbrannten Sand, / Mit Blütenschmuck und Schattenduft umgeben, / mit Abendthau gelöscht den Mittagsbrand.»

Friedrich Rückert, «Hamasa oder die ältesten arabischen Volkslieder», gesammelt von Abu Temmam, übersetzt und erläutert von Friedrich Rückert, hrsg. von Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger. Göttingen: Wallstein Verlag, 2004.

LUDGER LÜTKEHAUS, geboren 1943, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i.Br.

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