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Ronald Clapham und Gerhard Schwarz (Hrsg.): Die Fortschrittsidee und die Marktwirtschaft.

Zürich: NZZ-Verlag, 2006

Je gängiger ein Begriff, desto eher verliert er sich im Unfassbaren. Er taucht in verschiedenen Kontexten auf und füllt sich stets mit anderem Sinngehalt. So etwa der Begriff «Fortschritt». Einst durch Zunftordnungen verboten, dann in der liberalen Gründerzeit geboten, mal mit kulturpessimistischem Unterton ausgesprochen, dann wieder mit Blick auf die technische Revolution bewundert.

Anlässlich eines von der Progress Foundation veranstalteten Workshops diskutierten Persönlichkeiten aus Lehre und Wirtschaft über die Voraussetzungen und Folgen des Phänomens Fortschritt. Nun liegen die Tagungsbeiträge in Buchform vor, ergänzt durch Auszüge aus den Werken moderner Klassiker des Liberalismus und versehen mit einem Vorwort von Gerhard Schwarz.

Die kaleidoskopische Annäherung handelt von Fortschrittsgläubigkeit und Skepsis, von freiheitlicher Ordnung und Fortschritt, von Marktwirtschaft und technologischem Wandel, von Fortschritt durch marktwirtschaftliche Politik – vor dem Leser entspinnt sich ein ganzes Netz von Zusammenhängen, angedachter, aufgenommener und weiterentwickelter Interpretationen, indirekter Kontroversen sowie sich gegenseitig inspirierender Widersprüche.

Eine vortreffliche Einordnung der Fortschrittsidee in das geschichtliche Feld liefert der Aufsatz von Herbert Lüthy. Er führt den Leser einige Schritte zurück, dorthin, wo er ihm aus der Distanz zum Überblick über die historischen Grundlagen verwendeter Denkprämissen verhelfen kann. Herbert Lüthy untersucht, wann Fortschritt die heutige Bedeutung einer der Geschichte immanenten, eindeutig gerichteten Veränderung erlangt hat und wie der Fortschritt zum Gesetz der Geschichte erhoben wurde. Er datiert dies in das halbe Jahrhundert zwischen Spätaufklärung und Frühpositivismus und zeigt auf, wie in früheren Epochen das naturwissenschaftliche Wissen mit Obskurantismus verwoben war, wie Mathematik und Mystik, Astronomie und Astrologie zusammengehörten und dass die moderne Wissenschaft ihre eigene, unwissenschaftliche Geschichte hat. Der Historiker, so das Fazit, darf die Geschichte daher nicht auf die technisch-wissenschaftliche Dimension reduzieren.

Robert Nef nimmt die historische Betrachtungsweise von Herbert Lüthy auf und sieht im neuzeitlichen Fortschrittsglauben eine Fortsetzung des heilsgeschichtlichen Gottesglaubens. Diesen Glaubensstrukturen geht er nach und resümiert verschiedene historische Positionen. Da die persönliche Fortschrittswahrnehmung sowohl von materiellem Wohlbefinden – etwa einer benachteiligten oder privilegierten Position – als auch von der geistig-moralischen Grundhaltung getragen wird, möchte er den Strukturkonservativen streng vom Wertkonservativen geschieden wissen. Auch Karl Poppers Ausführungen lassen sich wie eine mögliche Ergänzung zu Herbert Lüthys historischen Überlegungen lesen, ein Umlegen der gewonnen Erkenntnisse auf die Spannungen seiner Zeit. Eine Geschichte vergangener Tatsachen kann es nicht geben, allein historische Interpretationen sind möglich und von diesen ist keine endgültig. Es gibt keine Geschichte an sich, es gibt unendlich viele Teilaspekte, die alle das menschliche Leben betreffen. Die Geschichte der Machtpolitik aber haben wir zur Weltgeschichte erhoben, wodurch die sittliche und intellektuelle Erziehung korrumpiert wird. Karl Popper plädiert für Individualismus und Altruismus; zu sehr sei traditionelle Geschichtsschreibung auf eine romantisch überhöhte Kombination von Kollektivismus und Egoismus ausgerichtet – ob ihn die postmoderne Dekonstruktion der Glanz- und Heldengeschichte durch die Sozialhistoriker der Postmoderne heute möglicherweise anders urteilen liesse? Da die Geschichte nicht fortschreitet, es keinen Sinn der Geschichte gibt und somit auch kein Ziel, dem sich zu nähern als Fortschritt gewertet werden könnte, bedient sich der Autor einer relativistischen Lebensbeurteilung. Von dieser distanziert er sich an Schluss des Textes überraschend: einen individuellen Fortschritt könne es geben, so etwa, wenn die demokratischen Institutionen verteidigt werden. Ob er da nicht selbst auch – mit Herbert Lüthy gesprochen – im Zeitgeist gefangen war?

Ein inspirierender Gegensatz öffnet sich zu der in anderen Beiträgen immer wieder geäusserten Befürchtung, dass ein traditionsloser Individualismus die Gesellschaft und damit das Fundament der Freiheit – seine eigene Voraussetzung – zersetzen könnte. Womit sich ein weiteres Themengebiet öffnet: Voraussetzungen, die Fortschritt ermöglichen, und die Unmöglichkeit der Voraussehbarkeit und Planbarkeit. Mit historischen Prognosen – etwa jener von Malthus – und dem Prognostizieren ganz allgemein setzt sich Christian Watrin auseinander. Michael Wohlgemuth untersucht Gemeinsamkeiten und Gegensätze von wirtschaftlichem und politischem Wettbewerb und analysiert die Überlegenheit von Demokratie und Marktwirtschaft, wenn es darum geht, eine bestmögliche Voraussetzung für Fortschritt anzubieten. Friedrich A. Lutz wiederum, der im abgedruckten Aufsatz die Fortschrittshaltung moderner ökonomischer Denkschulen untersucht, weist auf die negativen Aspekte des Fortschritts hin und mahnt zu Skepsis gegenüber einem Reichtumsstreben, das – als Fortschritt (miss)verstanden – immer mehr das Denken beherrscht und die kulturelle sowie die moralische Seite der menschlichen Existenz gefährdet.

Nicht nur der geistig-seelische Lebensbereich ist indes bedroht. Das marktwirtschaftliche System, dessen Ungleichheit den fortschrittsfördernden Antrieb zu Veränderungen gewährleistet und damit den materiellen Fortschritt mehrt, könnte durch die eigene Dynamik in Frage gestellt werden. Friedrich August von Hayek gelangt zu einem verblüffend-erschreckenden Ende: die materiellen Errungenschaften unserer Zivilisation haben nicht nur neue Ansprüche geweckt, sondern sie haben auch jenen die Macht gegeben, diese Zivilisation zu vernichten, denen nicht zuteil wird, worauf sie einen Anspruch zu haben meinen. Da sich die Kenntnis neuer Möglichkeiten rascher verbreitet als Wohlstandsgewinne, ist ein grosser Teil der Menschen der Welt heute so unzufrieden wie noch nie in der Geschichte. Und jene, sie sich benachteiligt glauben, sind entschlossen, sich zu nehmen, was sie beanspruchen. Der Weltfriede und mit ihm die Zivilisation hängen so von dauerndem, schnellen Fortschritt ab – ein beinahe apokalyptisches Szenario.

Fortschritt bleibt auch nach der Lektüre der anregenden Beiträge ein offener Begriff; ein Definitionsversuch war denn auch nicht beabsichtigt. Die vielschichtige Beleuchtung zahlreicher Facetten des Phänomens Fortschritt verhilft jedoch dem Leser zu besserer Einsicht in die Ursachen des Veränderungsdranges unserer Welt.

besprochen von Matthias Müller, Jurist in Zürich.

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