Roastbeef und Apple Pie
Milch und Honig mögen in den USA zwar nicht geflossen sein. Dennoch bot das Land seinen Einwanderern lange Zeit so viele Annehmlichkeiten, dass der Sozialismus auf der Strecke blieb. Holt er heute auf? Ein Gespräch über politische Label, rhetorische Verwirrungen und konkurrierende Kirchen.
Herr Parker, Sie sitzen im Redaktionsausschuss von «The Nation», einer US-Zeitschrift, die sich als Flaggschiff der Linken bezeichnet. Wenn ich von Europa aus nach Amerika blicke, habe ich Mühe, im dortigen Politmeer irgendeine Linke auch nur als Kahn auszumachen: Was heisst «links» in den USA?
Grundsätzlich strebt die Linke in den USA eine Modifikation des Kapitalismus an – und nicht etwa dessen Überwindung, wodurch sie gewiss zahmer wirkt als ihre Namensvetterinnen in Europa. Innerhalb dieses Grosskontexts operieren dann aber auf linker Seite unterschiedliche Gruppen mit verschiedenen Prioritäten. Das Thema der wirtschaftlichen Ungleichheit, mit dem die Linke ihren Ursprüngen entsprechend verbunden war, hat in den USA in vielen dieser Kreise lange Zeit keine zentrale Rolle gespielt; diesem Komplex wendet man sich jetzt erst verstärkt zu. Zuvor bildete die Rechtsgleichheit zwischen unterschiedlichen Identitätsgruppen – Weisse und Farbige, Frauen und Männer – ein Hauptthema. Und nebst diesen Fragen der sozialen Organisation und der individuellen Rechte ist seit den 1960er Jahren auch die Umweltthematik ein Kernanliegen der Linken geworden.
So weit, so bekannt. Viele dieser Themen sind heute in verschiedenen Lagern zu finden und verleihen kaum scharfe Konturen. Ich würde bezweifeln, dass das Rechts-links-Schema in den USA überhaupt greift: Demokraten ziehen in Kriege, Republikaner befreien Bedürftige von Steuern – allenthalben stösst man in der amerikanischen Politik auf Entscheide, die das Muster unterwandern.
Das stimmt zwar, aber man darf sich für eine Gesamtbeurteilung nicht auf Einzelfälle stützen; dass es in einem Zweiparteiensystem innerhalb der beiden Blöcke grosse Unterschiede gibt, ist unvermeidlich. Studiert man die Wahlmuster der beiden Parteien, zeigt sich, dass sie sich lange Zeit wie zwei «Boolesche Operatoren» verhielten, das heisst wie zwei Kreise mit einer beachtlichen Schnittfläche, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aber stark verringert hat. Seit den 1960er Jahren sind die beiden Kreise, sprich Parteien, deutlich auseinandergedriftet.
Was gab den Anstoss für diese Entwicklung? Der Vietnamkrieg und die damit verbundenen Pazifismusbewegungen?
Nein, entscheidend war eine innergesellschaftliche Entwicklung. Die demokratische Partei verfügte lange Zeit über einen konservativen, rassisch reaktionären «Südflügel», das heisst die weissen Südstaatler waren bis zu Beginn der 1960er Jahre fast vollständig in die demokratische Partei integriert. Erst als sich die Demokraten dann vehement dem Kampf um die Bürgerrechte verschrieben, löste sich dieser Südteil von der Partei und lief zu den Repu-blikanern über, die ihrerseits Teile ihrer Basis zu den Demokraten abwandern sahen. So kam es im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung zu einer fundamentalen Verschiebung und letztlich zur heutigen Links-rechts-Polarisierung des gesamten Par-teienspektrums.
Es bleibt die Frage, inwiefern die Label «links» und «rechts» auf die USA angewandt werden können. Die Begriffe stammen aus der Französischen Revolution und bezeichneten dort den Fundamentalgraben, der zwischen den Anhängern verschiedener politischer Systeme verlief. In meinen Augen können diese Etiketten in den USA, einem Land, das diese grundlegenden europäischen Kämpfe nicht hat führen müssen, schwerlich verfangen.
Das mag sein. Klar ist, dass die politischen Gravitationszentren auf den beiden Kontinenten andere sind. Legt man die Sphäre der europäischen und die Sphäre der amerikanischen Politik übereinander, dann wird man eine deutliche Verschiebung bemerken: Das Zentrum der amerikanischen Politik liegt in der Rechten der europäischen Sphäre. Insofern sind die Begriffe tatsächlich schwer anwend- und vergleichbar. Und ebenso klar ist, dass sich in den USA nie eine starke sozialistisch-linke Tradition entwickelt hat. Anders als in Europa konnte der Sozialismus bei uns nie auch nur organisatorisch Fuss fassen.
Woran liegt das?
Was denken Sie?
Ich kann nur vermuten: Dem Sozialismus standen in den USA Pionier-spirit, Unabhängigkeitsmythos und Self-made-Mentalität im Weg.
Wenn man alles auf ein Narrativ eindampfen will, ist das sicher eine Erklärung. Aber die Sache ist etwas komplexer. Im wesentlichen sehe ich zwei Gründe. Einerseits war die Bildung starker Gewerkschaften in den USA sehr schwierig. Die Organisation solcher Gemeinschaften basierte auf stabilen nationalen Identitäten, und eine solche Identität fehlte in den USA, die als Migrationsland mit Wellen immer wieder anderswoher kommender Arbeiter konfrontiert war. Das ist aber nur eine Seite der Geschichte. Grundlegend war daneben auch, dass das amerikanische Lohnniveau immer substantiell höher war als das europäische. Wer also aus Europa in die USA auswanderte, verdiente dort zumindest schon mal mehr als zu Hause. Das neue Land bot die Möglichkeit, nach oben zu kommen oder weiterzuziehen, sprich notfalls immer wieder neu anzufangen. Insgesamt war die Situation also verhältnismässig komfortabel. Der deutsche Soziologe Werner Sombart sagte deshalb treffend, in den USA seien alle sozialistischen Utopien an Roastbeef und Apple Pie erstickt.
In der Rhetorik zumindest ist der Sozialismus aber auch in den USA quicklebendig: Präsident Obama wird von seinen Gegnern gerne als Sozialist oder gar als Kommunist bezeichnet…
Ach, das ist gänzlich exzessives Gerede der Rechten!
Nun lässt sich schwerlich abstreiten, dass Obama den Sozialstaat ausbaut und zumindest Futter für dieses Gerede liefert. Aber ganz nüchtern: Wie würden Sie ihn beschreiben, wo im politischen Spektrum ihn verorten?
Mit europäischen Ellen ist er kaum zu messen – da ist in meinen Augen Andonis Samaras, der konservative griechische Ministerpräsident, linker als Obama. Wenn man die Verortung innerhalb der beschriebenen, im Verhältnis zu Europa verschobenen Politsphäre vornimmt, dann ist Obama eindeutig näher beim amerikanischen Zentrum als demokratische Vorgänger wie Roosevelt oder Johnson. Das hängt mit verschiedenen Dingen zusammen, nicht zuletzt mit seinem Alter, er ist ja so jung, ein Kind in meinen Augen!
Na ja, ein inzwischen doch über 50jähriges Kind. Aber sicher eines seiner Zeit.
Genau, Obama ist nicht in der Zeit des Bürgerrechts- oder Vietnamkampfes politisiert worden, sondern ist stark von den Anliegen der oberen Mittelschicht geprägt. Das heisst, er identifiziert sich mit den Umweltfragen und der Gleichheitsthematik in unterschiedlichen Identitätsgruppen. Was aber die wirtschaftliche Gleichheit anbelangt, so kann er dahinter nur bis zu einem gewissen Grad stehen, denn Wall Street und Finanzwelt haben sich mit Geldzahlungen einen bedeutenden Platz in der demokratischen Partei gesichert.
Gerade im Zusammenhang mit der Wall Street respektive der Frage der Vermögensverteilung ist jüngst eine neue linke Kraft aufgekommen – und alsbald wieder verschwunden: Warum ist die Occupy-Bewegung so rasch gescheitert?
Ich glaube, die Occupy-Leute haben sich zu lange mit falschen Fragen aufgehalten. Sie verwandten enorm viel Energie darauf, das Aufkommen von Hierarchie und Autorität zu vermeiden, waren permanent damit beschäftigt, sich zu fragen, ob auch wirklich jeder einzelne bis ins Detail in allen Punkten angehört worden sei. Das ist irgendwie süss. Aber nicht effektiv. Und ich verstehe es nicht. Ich habe keine einzige anarchistische Zelle in meinem Körper, ich glaube an Hierarchie und Ordnung. Vielleicht ist auch das wieder ein Generationenproblem, eine Art Verständnislücke zwischen meiner Generation und jener meiner Studenten, die sich vornehmlich in dünnen Identitätsnetzwerken bewegen und vor konkretem Handeln zurückschrecken.
Wenden wir uns nun von parteipolitischen Spaltungen ab und einem Bindeglied zu: In allen Blöcken und Ären amerikanischer Politik war und ist Religion ein wichtiger Faktor. Alexis de Tocqueville hat die Religion als wichtige «politische Institution» der amerikanischen Demokratie beschrieben – hat sich daran in den letzten 170 Jahren irgendetwas geändert?
O ja, sehr vieles. Tocquevilles Statement behielt seine Gültigkeit bis in die 1950er Jahre, inzwischen aber hat die Religion viel von ihrer Funktion als soziale Barriere und Kennzeichnung verloren. Immer höher steigt zudem die Prozentzahl jener, die sich gar keiner Konfession zugehörig fühlen. Das sind inzwischen 10 bis 15 Prozent, bei den Jungen dürften es mindestens 30 Prozent sein. Das führt dazu, dass wir uns langsam, aber sicher in eine europäische Richtung entwickeln: Auch in den USA distanzieren sich die Leute zusehends von den organisierten Kirchen, und deren Einfluss auf das Denken der Menschen schwindet stetig.
Aus europäischer Warte mutet das anders an. Politiker, die öffentlich für Regen beten und regelmässig den Segen Gottes beschwören, wie sie in Amerika gang und gäbe sind, sind in der Alten Welt undenkbar geworden.
Natürlich, das ist eine langfristige Entwicklung, wir sind noch nicht in der grossen religiösen Indifferenz angekommen, befinden uns aber derzeit historisch gesehen mitten in einem gewaltigen Wandel. Schauen wir etwa die Haltung gegenüber der Homo-Ehe an: Binnen 20 Jahren hat sich hier unglaublich viel verändert; man kommt nicht umhin, eine steigende Zahl von Befürwortern zu registrieren. Häufig täuscht da die Berichterstattung. Wenn man ein 50jähriges Mitglied einer weissen evangelikalen Gemeinde zur Homo-Ehe befragt, wird dessen Reaktion natürlich negativ sein; würde man sich aber zur Abwechslung einmal an einen 25jährigen derselben Gemeinde wenden, müsste man feststellen, dass sich die Dinge bewegen.
Hätte ein Atheist Chancen, zum Präsidenten gewählt zu werden?
Das hängt ganz davon ab, wie er sich präsentiert. Stellt sich ein Kandidat auf, deklariert sich als Atheist und bittet als solcher um Wahlunterstützung, dann verliert er. Stellt er sich aber auf und bittet darum, dass seine religiösen Gefühle als Privatsache respektiert und folglich nicht thematisiert werden, dann werden die Leute ernsthaft prüfen, in welchen inhaltlichen Punkten sie mit ihm übereinstimmen.
In der Theorie klingt das gut. Praktisch aber dürfte dem Kandidaten die Lobby fehlen: Welche Partei würde je einen Atheisten portieren? Sind nicht alle beide viel zu tief mit Religionen und Kirchen verstrickt, als dass sie sich einen «ungläubigen» Vertreter leisten könnten?
Wählerblöcke sind immer von einer bestimmten Identität geprägt. Und natürlich haben sich Religion und Politik über die Jahrzehnte oder besser Jahrhunderte so sehr überlagert, dass trotz all der Veränderungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt haben, Religion noch immer ein wichtiger Faktor für Identität und folglich Politik ist. In einem Migrationsland, wie die USA eines sind, ist das unvermeidbar.
Was heisst das? Worin konkret liegt der Grund für die politische Macht der Religionen in den USA?
Der Grund ist Gegenstand von Kontroversen, es gibt aber zwei Standardargumente: die Religionsfreiheit und die Migrationsgeschichte, die die USA beide seit ihren Anfängen prägten. Der erste Grund berührt die politische Weitläufigkeit der Religionen. In Europa hat sich die Religion im 19. Jahrhundert fast überall mit der etablierten Macht verbunden und ist dadurch zu einer tendenziell rückwärtsgewandten Kraft geworden. In den USA hingegen, wo es nie eine einzelne institutionalisierte Kirche gab, hat sich keine Verbindung mit einer bestimmten politischen Tendenz ausgebildet. Wenn man heute vornehmlich von konservativen christlichen Rechten hört, so ist das eine grobe Verkürzung: Tatsächlich ist die Religion hier nie eine nur rückwärtsgewandte Kraft gewesen; auch aufseiten jener, die sich als fortschrittlich begreifen, hat sie floriert und sich so quer durchs gesamte politische Spektrum gezogen.
In Europa, wo zwei monolithische Kirchen lange eng an die Macht gekoppelt gewesen sind, ist der religiöse Einfluss kaum mehr spürbar. In den USA mit ihren unzähligen konkurrierenden Kirchen ist er ungebrochen – macht etwa der Wettbewerb die Religion fit?
Das ist eine diskussionswürdige Theorie, ich halte sie aber nicht für hieb- und stichfest. Zwar hilft sie, die Aufsplitterung des Protestantismus in viele Kleinstkirchen zu erklären: Hier ist tatsächlich zu beobachten, wie Wettbewerb Diversität begünstigt. Mit Blick auf den Katholizismus greift dieser Ansatz aber nicht oder nur beschränkt. Freilich stand und steht die katholische Kirche im Wettbewerb mit anderen Konfessionen, doch hat dies zu keiner Splittung innerhalb der Glaubensrichtung geführt. Anders als der Protestantismus hat sich der Katholizismus nicht durch Spaltungen, sondern Fusionen, das heisst durch die Integration all der unterschiedlichen europäischen Katholiken in eine multikulturelle, multiethnische amerikanische Kirche, behaupten können. Die Kraft des Katholizismus, die auf tieferem Niveau doch auch beachtlich ist, ist mit Wettbewerb und Diversität also nicht zu begründen.
Dafür aber mit der Migration: Mit den «Hispanics» wandert der Katholizismus verstärkt in die USA ein.
Die Migration ist wie erwähnt tatsächlich die zweite wichtige Erklärung für die Virulenz der Religion. Allerdings setzt die Bedeutung schon lange vor der massiven hispanischen und asiatischen Einwanderung ein, die wir seit den 1960er Jahren erleben. Amerika ist ein Einwanderungsland, und wir wissen aus der Forschung, dass die Religion etwas vom wenigen ist, was Migranten vom einen Land ins andere mitnehmen. Sprache, Kleider, Essen, all diese Merkmale mögen sie ablegen, an der Religion aber halten sie in den allermeisten Fällen fest, weil sie darin einen konstitutiven Faktor ihrer Identität sehen.
Wenn nun die Bedeutung der Religion statistisch zurückgeht, was bedeutet das dann für die Politik? Werden die Stadt-Land- oder Nord-Süd-Linien die religiösen Gräben bruchlos weiterführen?
Aufgrund der vielfältigen Überlagerungen zwischen Religion, Region und Politik ist den Prägungen kaum zu entkommen. Wissen Sie, wie viele Weisse in Mississippi 2012 für Obama gestimmt haben?
Zehn Prozent, zwanzig?
Neun! Während in Vermont 70 Prozent der Weissen Obama gewählt haben. Mississippi war im Bürgerkrieg ein sezessionistischer südlicher «Confederate State», Vermont ein im Bund der Vereinigten Staaten verbliebener nördlicher «Union State». Diese Furchen sind enorm tief. Meinen Studenten sage ich immer, sie sollen die drei R im Kopf behalten: Rasse, Region und Religion. Kennt man die Ethnie einer Person, weiss man, wo sie lebt und was sie glaubt, kann man ihr Wahlverhalten mit grosser Wahrscheinlichkeit ziemlich genau voraussagen.
Dieses Gespräch kam dank der freundlichen Unterstützung durch das St. Gallen Symposium zustande.