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Riskantes Spiel um die digitale Diskurshoheit

Riskantes Spiel um die digitale Diskurshoheit

Im Kampf gegen Fake News stellt sich die Machtfrage: Wer darf publizieren, wo und wie?

 

Account gesperrt. Twitter sperrt Accounts, die gegen die Twitter-Regeln verstossen.» Abgebildet vor einem neu­tralen, grau-weissen Hintergrund lautet so die schlichte Botschaft, die derzeit Besucher jenes Nutzerprofils erwartet, das ­spätestens seit 2015 die Öffentlichkeit in Atem hielt wie kein zweites: ­@­realdonaldtrump. Nun ist es also aus. Donald J. Trump, dem 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, wurde sein liebstes Spielzeug und zugleich sein wichtigstes Instrument politischer Machtausübung genommen: der Twitter-Account.

Endlich, könnte man sagen. Denn der Druck auf die grossen Silicon-Valley-Plattformen Twitter, Facebook und Google, Trump die kommunikative Reichweite zu entziehen, hatte sich über Jahre aufgestaut. Von aussen – im urbanen, kosmopolitisch orientierten Milieu verankerte Medien, Politiker und ­Aktivisten fordern immer häufiger und immer lauter, rechtspopulistischen Kommunikatoren die Plattform zu entziehen. Aber auch von innen – das Silicon Valley ist in den USA als Hort linksliberaler Werte ­bekannt. Die Mitarbeiter der Tech-Riesen sind stets sichtbar engagiert, wenn wieder einmal ein «Social Justice»-Anliegen wie #MeToo oder #BlackLivesMatter die ­US-Öffentlichkeit ­erfasst.

Entsprechend verbreitet waren Applaus und Erleichterung, als Twitter Ende 2020 begann, Trump-Tweets mit Warnungen und Korrekturen zu versehen. Facebook und YouTube (eine ­Google-Tochter), die beide eine deutlich grössere Nutzerbasis aufweisen als Twitter, zögerten dagegen, diesen Schritt mitzu­gehen. Im September 2020 berichtete das Tech-Medium «Verge», basierend auf einem Leak interner Aufzeichnungen, von den ­verzweifelten Bemühungen der Facebook-Führung, der eigenen Belegschaft ein härteres Vorgehen gegen Trump und seine Unterstützer auszureden. Zuckerbergs Argument: Man dürfe nicht ­vergessen, dass ein sehr grosser Teil der Facebook-Nutzer deutlich konservativere Weltbilder aufwiesen als die kalifornische Tech-Elite.

Deplatforming als Disziplinarmassnahme

Teil der Wahrheit dürfte auch sein: Solange die Republikaner das Weisse Haus und den Senat beherrschten, waren digitale Disziplinarmassnahmen gegen rechtspopulistische Politiker und Kommentatoren stets mit der Gefahr politischer Vergeltung verbunden. Der Januar 2021 veränderte die Spielregeln im Kampf um ­digitale Reichweite also gleich zweifach: Der Sturm vom Wahl­betrug überzeugter Trump-Anhänger auf das Kapitol galt einerseits als ultimativer Beleg der Gefahren digitaler Desinformation. Andererseits ­eroberten die Demokraten die Macht in Washington und kippten damit den politischen Widerstand gegen Plattformbereinigungen.

Wie wirksam das sogenannte «Deplatforming» anrüchiger Kommunikatoren tatsächlich ist, bleibt einstweilen umstritten. Denn es stellt sich die Frage nach der politischen Legitimität eines konzertierten Reichweitenentzugs durch die Plattformriesen. Die Trump-Sperre bilde einen gefährlichen Präzedenzfall, sie zeige die Macht weniger Individuen und Unternehmen über den öffentlichen Diskurs, so lautete der Kommentar von Jack Dorsey, wohlgemerkt, dem Mitgründer und CEO von Twitter. Und selbst Angela Merkel, nicht als Trump-Freundin bekannt, zeigte sich vom Umstand irritiert, dass wenige Tech-Konzerne einem Staatsführer im Handumdrehen das digitale Mikrofon abdrehen können.

«Es ist faszinierend zu beobachten, dass ausgerechnet Journalisten – ­

traditionell Kritiker ökonomischer und politischer Macht – unter

den ­engagiertesten Befürwortern digitaler Verbannungen zu finden sind.»

Mehr noch aber ist die (unter Journalisten populäre) These zu hinterfragen, dass es über Social Media verbreitete Desinformation sei, die in den USA und über diese hinaus massgeblich zum Aufstieg des Rechtspopulismus beigetragen habe. Seit 2016, dem Jahr der Brexit-Abstimmung und der Trump-Wahl, ist dieses Narrativ fest im öffentlichen Diskurs verankert: Mis- und Desinformation, also Fake News, verbreite sich wie Lauffeuer auf Facebook, YouTube und Twitter und führe so grosse Teile der Wählerschaft in die Irre. Gerade unter Journalisten mag diese Analyse populär sein, weil meist im selben Atemzug die grosse Bedeutung seriöser Berichterstattung betont wird, die sie selbst zu betreiben meinen; der traditionelle Journalismus sei im Kampf gegen Des­information «systemrelevant». Öffentliche Hand, Stiftungen und Unternehmen investierten daher in den letzten Jahren Millionenbeträge in Initiativen, die mittels Faktenchecks der digitalen Desinformation entgegentreten sollten.

Unbelegte Auswirkungen auf Wahlentscheidungen

Bedenklich sollte dabei stimmen, dass diverse Glieder der hier postulierten Kausalkette als wenig tragfähig betrachtet werden müssen. Weder der Einfluss digitaler Fake News auf die Wahl Trumps oder die Brexit-Mehrheit noch die Wirksamkeit von Faktenchecks gegen die Verbreitung oder Akzeptanz von Fake News sind so klar belegt, wie der mediale Diskurs vermuten lassen könnte. Noch deutlicher formuliert: Bisher fehlte die empirische Evidenz für die Wirkung von Social-Media-Desinformation auf jüngste Wahlentscheidungen. Einige Studien zeigen zwar, dass Faktenchecks die Glaubwürdigkeit und die Bereitschaft zur Verbreitung von Fake News im Netz etwas reduzieren können, aber vor allem unter jenen, die ohnehin nicht besonders anfällig für sie sind.

Der Glaube, rechtspopulistische Poltergeister durch eine «Bereinigung» der Silicon-Valley-Plattformen wieder in ihre Flasche verbannen zu können, mag daher intuitiv plausibel und beruhigend erscheinen. Gut begründet ist er nicht. Zwei empirisch fundierte Erkenntnisse der Medienforschung sind dagegen zugleich bedeutsam, aber für den klassischen Journalismus weniger schmeichelhaft: Erstens beziehen auch die Wähler rechtspopulistischer Parteien oder Kandidaten ihre politischen Informationen weit überwiegend aus den Massenmedien. Zweitens sind es häufig genau diese Massenmedien, die die Botschaften rechtspopulistischer Akteure verbreiten.

Im Falle des Brexits oder der Trump-Wahl etwa dürften Boulevardblätter wie «Sun» und «Daily Mail» sowie TV-Sender wie Fox News das Weltbild rechtsstehender Wähler deutlich stärker geprägt haben als Facebook, YouTube und Twitter zusammen. Doch es wäre zu einfach, darum nun den konservativen Journalismus in eine Schmuddelecke zu schieben. Denn Reichweite erhielt Donald Trump letztlich vor allem durch eine unablässige, nahezu obsessive Berichterstattung journalistischer Institutionen wie «New York Times», «Washington Post» und CNN. Ironischerweise war diese in vielen Fällen getragen von der Intention, dem Einfluss des Populisten entgegenzutreten.

Trump und die Massenmedien in inniger Verbundenheit

Der Medienwissenschafter Musa al-Gharbi weist darauf hin, dass die end- und atemlose Trump-Berichterstattung diversen repu­tablen, aber mit digitalen Geschäftsmodellen ringenden Medienhäusern einen regelrechten Umsatzboom bescherte. Trump wiederum profitierte nachweislich von einem Übermass an Aufmerksamkeit. Trump und die Massenmedien: in gegenseitiger Abneigung innig verbunden, gefangen in einer toxischen Kodependenz. Mit Blick auf seine Twitter-Sperre lässt sich daher durchaus ­erwarten, dass Trumps Einfluss auf den öffentlichen Diskurs abnehmen wird. Nicht aber, weil seinen Anhängern nun der ­direkte Zugang fehlte, sondern weil Journalisten das Futter für ihre aufgeregte Berichterstattung entzogen wird.

Die digitale Verbannung Trumps markiert gleichsam ein neues Kapitel im Kampf gegen Social-Media-Desinformation. Denn die Sperrung, der Ausschluss vom digitalen Diskurs, ist eine offensichtlich schwerwiegendere Intervention als das Veröffentlichen eines korrigierenden Faktenchecks. Es ist der Schritt vom Nudging zum Verbot. Dieser Schritt mag notwendig sein, weil Faktenchecks alleine wenig wirksam sind. Gewollt oder ungewollt macht die Verbannung aber auch deutlich, dass der Kampf gegen Fake News auch eine Machtfrage impliziert – die Frage, wer im digitalen Zeitalter in welcher Form Einfluss auf den öffentlichen Diskurs ausüben kann: Medien, Plattformen, Politik?

«Bisher fehlte die ­empirische Evidenz für die

Wirkung von Social-Media-­Desinformation

auf jüngste Wahl­entscheidungen.»

Unbestritten ist, dass die Digitalisierung in den letzten rund zwanzig Jahren das mediale Angebot stark ausgeweitet hat und damit die traditionellen Massenmedien einem schmerzhaften Wettbewerb unterwarf. Der als linker Querkopf bekannte Journalist Glenn Greenwald weist darauf hin, dass dieser Umbruch ­keineswegs nur den Journalismus erschütterte, er erschütterte den traditionell durch die gesellschaftlichen Eliten geprägten, weil kuratierten öffentlichen Diskurs. Alternative Medien und die ­Social-Media-Präsenzen unabhängiger Kommentatoren – Profis wie auch Laien – verschafften Stimmen Gehör, die bisher im ­öffentlichen Diskurs als irrelevant oder unziemlich galten. Der Diskurs wurde dadurch bunter, breiter, aber auch rauer und kon­troverser. Greenwald interpretiert daher die lautstarke Forderung nach einem «Deplatforming» problematischer Stimmen als einen Versuch der (Wieder-)Herstellung elitärer Diskurs­hoheit.

Eine Rückkehr zur elitären Diskurshoheit?

Es ist faszinierend zu beobachten, dass ausgerechnet Journalisten – traditionell Kritiker ökonomischer und politischer Macht – unter den engagiertesten Befürwortern digitaler Verbannungen zu finden sind. Lässt sich dies mit einer Sehnsucht nach Rekonstruktion prädigitaler Macht über die öffentliche Agenda erklären? Oder empfinden sich – Greenwalds Analyse folgend – Journalisten als Bestandteil jener Elite, die das Privileg der Diskurshoheit zu verteidigen sucht? Zu diesem Zweck wird selbst den Silicon-Valley-Riesen ihr disruptives Wirken verziehen. Denn ohne ihre Kooptation in den Kreis der «Gatekeeper» ist kein Stich gegen ­diskursive Störenfriede zu machen.

Selbst unter aktiver Mithilfe von Facebook, Twitter & Co. bleibt bislang unklar, ob das Ideal des gebändigten, kuratierten digitalen Diskurses realistisch und wirksam sein kann. Dies hängt nicht zuletzt von der Antwort auf die Frage ab, ob es wirklich digitale Desinformation war, die dem Rechtspopulismus Zulauf ­verschaffte. Lautet sie «Nein», dann werden die Social-Media-Sperren der letzten Wochen (und erwartbar nächsten Monate) dem Versuch gleichen, das Loch in einem Staudamm mit einem Korken zu stopfen. Durch die Betroffenen als Zensur empfundene Interventionen könnten den Frust politischer Störenfriede weiter eskalieren lassen. Angesichts unseres lückenhaften Verständnisses digitaler Desinformation gehen also die Freunde des «Deplatforming» eine Wette mit gefährlich hohem Einsatz ein.

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Porträt des Kinderarztes Beat Richner in seiner Rolle als Musikclown Beatocello, aufgenommen mit seinem Cello anlässlich des Internationalen Jahres des Kindes 1979. Bild: Keystone / Susann Schimert-Ramme.
Der Triumph der ­Gesinnung über die Urteilskraft

In der Ablehnung einer westlichen Fortschrittsgeschichte konzentrierte sich die Geschichtswissenschaft zuletzt einseitig auf die Dekonstruktion von Mythen. Debatten sollten heute wieder näher an die Praxis rücken.

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