Risikoaversion:
Kapital für Pioniere,
nein danke?
Warum die Infrastruktur der Zukunft «Made in Switzerland» sein könnte.
Die Schweiz hat es zum dritten Mal in Folge an die Spitze der globalen Rangliste der innovativsten Länder geschafft. Im aktuellen Jahr 2019 feiern wir auch den Schweizer Pionier Alfred Escher, der 200 Jahre alt geworden wäre. Ihm haben wir nicht nur den Gotthardtunnel, die Credit Suisse und die Swiss Life, sondern auch die ETH Zürich, die mit ihrer umfassenden Ausbildung von Ingenieuren über Generationen massgeblich zum guten Abschneiden im Innovationsranking beigetragen hat, als Vermächtnis zu verdanken. Da stellt sich die Frage: Wer tritt heute in seine Fussstapfen?
Leidige Risikoaversion
Vor gut einem Jahr wurden in der Schweiz knapp 13 000 Erwachsene im Alter von 18 bis 70 Jahren in einer Umfrage zum Thema «Mut» befragt. Diese Studie des Forschungsinstituts Sotomo ergab, dass Schweizer folgendes Verhalten als besonders mutig ansehen: «Angst überwinden», «Grenzen überschreiten» und «Komfortzonen verlassen». Allerdings: Bei Finanzanlagen und Glücksspielen waren die Befragten gemäss Selbsteinschätzung sehr, sehr vorsichtig. Drei Viertel der Befragten wären gerne mutiger. Offenbar herrscht also in der Schweiz aktuell eine Kultur vor, die das Wagnis scheut und ungern «ausprobiert», ungeachtet dessen, was man damit erreichen könnte. Es fehlt die Risikobereitschaft.
Dieser Umstand ist bedenklich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass am Horizont bereits der perfekte Sturm der digitalen Transformation aufzieht. Von all jenen, die in ihrem Joballtag gefangen sind, weitgehend unbemerkt, erleben wir eine richtiggehende «Datenexplosion»: Für das Jahr 2020 prognostiziert IDC, dass global 44 000 Exabyte Daten verfügbar sein werden. Das sind fünfzigmal mehr als 2010. Oder anders: Wollten wir diese Datenmenge ausdrucken, müssten wir 700-mal mehr Bäume zu Papier verarbeiten, als auf unserer Erde insgesamt wachsen. Hinzu kommt eine «Rechenpowerexplosion». Gemäss einer Studie von Kurzweil werden im Jahr 2020 Computerprozessoren für nur 1000 US-Dollar so viel Rechenkraft haben wie ein erwachsenes menschliches Gehirn.
Was abstrakt klingt, hat reale Auswirkungen: Sollte die Prognose von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne zur Veränderung der Jobsituation aufgrund der digitalen Transformation zutreffen, würden bis zu 47 Prozent der heutigen Jobs mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verschwinden. Vom Wegfall betroffen wären primär Routinejobs in der Administration, in Verkauf, Service, Landwirtschaft und Produktion: Smarte Algorithmen in Maschinen und Robotern werden sie übernehmen, da sie schneller, zuverlässiger, günstiger und besser verfügbar sind als Menschen. Diese Digitalisierungswelle kann man nicht stoppen. Man kann aber durch ständige Weiterbildung lernen, darauf zu «surfen» – statt darin zu ertrinken.
Gibt es «Kapitäne», die die Schweiz durch den Sturm der digitalen Transformation sicher ins digitale Zeitalter mit seinen neuen Infrastrukturen führen und rechtzeitig neue zukunftsgerichtete Arbeitsplätze und neue Wertschöpfung für eine hochgradig automatisierte digitale Wirtschaftswelt schaffen? Die Antwort ist: Ja. Es gibt digitale Pioniere in der Schweiz, aber dabei handelt es sich bis anhin um eine nur wenige tausend Menschen grosse, immerhin ständig grösser werdende Gruppe wagemutiger Technologie-Start-up-Gründer, die ihre eigenen Ideen auch in einem Klima der Risikoaversion realisieren wollen. Die meisten von ihnen arbeiten nicht mehr mit und an den Infrastrukturen des Industriezeitalters – Brücken, Tunnels, Netze usw. –, sondern an smarten Weiterentwicklungen ihrer Nutzung und gänzlich neuen Systemen für eine Welt von morgen. Gut möglich, dass man in 200 Jahren ihre Ideen feiern wird. Welche zum Beispiel?
Die neuen Pioniere…
Da wäre etwa Luuk van Dijk: In einem unscheinbaren Büro in Zürich werkelt der gebürtige Holländer mit dem Entwicklerteam von Daedalean an einer Autopiloten-Software für selbstfliegende Passagierdrohnen. Sie lesen richtig: Diese sollen rund um die Uhr Personen sicher transportieren können, ohne dass die Passagiere selbst einen Pilotenschein brauchen. Bezeichnenderweise hatte Luuk van Dijk einst bei Elon Musks SpaceX in Los Angeles und bei Google in Zürich gearbeitet.
Im Technopark Zürich programmieren derweil die Monteiro-Brüder aus Brasilien zusammen mit ihrem Schweizer Mitgründer bei Veezoo an einer Software, die es erlaubt, firmeninterne Datenbanken per Sprachanfrage oder Chat zu nutzen. Damit kann jeder Mitarbeitende einfach und ohne Programmierkenntnisse auf Fakten statt auf Bauchgefühl basierende Geschäftsentscheidungen fällen. Statt also tagelang auf einen neuen Report des internen Analystenteams zu warten, erledigt die Software die massgeschneiderte Datenauswertung im Handumdrehen.
Beide Systeme könnten die Art und Weise, wie wir – zum Teil noch gar nicht existierende bzw. nicht regulierte – Infrastrukturen (Luftwege, Kommunikations- und Datenkanäle usw.) nutzen, völlig umkrempeln. Das hat massiven Einfluss auf unser tägliches Leben, also auch auf die Strukturen unseres Arbeits- und Wirtschaftskreislaufs – zuallererst auf die Effizienz. Wer mit dem Auto nach Zürich pendelt statt mit der Drohne, weiss, wovon ich rede. Und wer mal wieder auf einen Report wartet, der gegebenenfalls gar noch per Post zugestellt wird und nur unter langwierigen Erklärungen und schriftlichen Anfragen überhaupt angefordert werden konnte, ebenfalls. Während das System von Veezoo heute schon bei der Versicherung AXA Winterthur im täglichen Einsatz ist, fordert Luuk van Dijks Pioniergeist gleich mehrere Bundesbehörden heraus: Wird man seine Innovationen in dem Land, das sie ermöglicht hat, überhaupt zulassen? Und wenn ja: Wie viel Zeit vergeht bis dahin? Was kostet Luuk das? Die Schweizer Post hat anfangs 2019 ihren Testflugbetrieb mit Güterdrohnen für den schnellen Transport von Blutproben ins Labor nach einem Drohnenabsturz über dem Zürichsee schweizweit komplett eingestellt.
…und die Hürden, vor denen sie stehen
Eine Schweizer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hat im Jahr 2016 vorgerechnet, dass Mark Zuckerberg – wäre er in Zürich steuerpflichtig gewesen – während des Aufbaus von Facebook von 2004 bis zum Börsengang Steuern in der Höhe von 285,5 Millionen Schweizer Franken hätte bezahlen müssen. Und das waren «nur» die Vermögenssteuern auf seine Start-up-Aktien! Dass er sich als frischer Studienabbrecher und Start-up-Gründer vor dem Börsengang diese Mittel hätte beschaffen können, ist, freundlich ausgedrückt, sehr unwahrscheinlich. KPMG-Partner Michael Sterchi kam zum Schluss: «Facebook wäre in Zürich vermutlich gescheitert.»
Inzwischen hat das Steueramt Zürich mit der Substanzwertmethode zwar ein Start-up-freundlicheres Steuerregime (für die ersten fünf Jahre nach Gründung) aufgezogen. Da die meisten Tech-Start-ups aber eh erst nach fünf Jahren wertvoll werden, weil sie ja erst mal ein neues Produkt entwickeln müssen, ändert das wenig. Wie lässt sich die entstehende Lücke in unternehmerischem Sinne schliessen? Die Lösung klingt einfacher, als sie eigentlich ist: Die Umsetzung innovativer Ideen braucht Risikokapital und Leute, die an Jungunternehmer glauben. Während in Schweizer Start-ups im letzten Jahr gemäss Swiss Venture Capital Report lediglich 1,2 Milliarden Schweizer Franken investiert wurden, erhielten Start-ups in Israel, das bezüglich der Einwohnerzahl vergleichbar gross ist, insgesamt 6,4 Milliarden Schweizer Franken. Das ist gut fünfmal mehr Risikokapital. Seit mehreren Jahren sollen der Zukunftsfonds und der Swiss Entrepreneurs Fund mit je 500 Millionen Franken Risikokapital starten – im Februar 2019 hat letzterer endlich die ersten 100 Millionen Kapital und die FINMA-Zulassung erhalten. Im sogenannten «Death Valley» der Wachstumsfinanzierung, wenn ein Start-up mehr als fünf Millionen Schweizer Franken von Investoren sucht, müssen sich Schweizer Start-ups die Mittel von ausländischen Kapitalgebern beschaffen. Das Erschreckende: Schon zu Alfred Eschers Zeiten war das nicht anders! Beim Gotthard-Eisenbahntunnel kam 3,5-mal mehr Kapital aus Deutschland und Italien als aus der Schweiz.
Kapital für Technologie-Start-ups: «Nicht mehr gefragt»?
Als ich im Herbst 2014 mit dem Swiss ICT Investor Club (SICTIC) den ersten nur auf Schweizer Technologie-Start-ups fokussierten Business Angel Club mitgegründet habe, wurde mir von vielen Seiten gesagt, dass Investments in Schweizer Technologie-Start-ups seit dem Platzen der «Internet-Bubble» im Jahr 2000 eh nicht mehr gefragt seien. Ende 2018 zählte SICTIC dann gut 250 Investoren und gut jedes Dritte ICT/Fintech-Start-up, das im Swiss Venture Capital Report erwähnt wurde, hat im letzten Jahr Geld von SICTIC-Investoren erhalten.Die folgenden Grafiken veranschaulichen den Trend hin zu mehr Software-Start-ups in der Schweiz deutlich.
Klar ist: Risikokapital für Technologie-Start-ups ist in der Schweiz nach wie vor rar, obwohl sich die Schweizer diese unternehmerische Initiative durchaus leisten könnten – und im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der lokalen Wertschöpfung auch sollten! Natürlich: Die Investitionen in Beton für neue Mietblöcke am Zürichsee scheinen aktuell «sicherer». Aber wer soll die Dinger beziehen, wenn die Schweiz es nicht schafft, das Gleis in Richtung prosperierende Digitalwirtschaft mit neuen Infrastrukturen und Abläufen zu wechseln? Oder einfacher: Was wäre die Schweiz heute ohne Eschers Glaube an eine funktionstüchtige Nord-Süd-Achse, eine Bank zur Finanzierung grosser Projekte, eine Lebensversicherung und ein hochkarätiges Ausbildungszentrum als Magnet für die besten Ingenieure und Innovatoren und den Start erfolgreicher Karrieren – und seine Nachahmer? Ich sag’s Ihnen: ein Land mit veralteter Infrastruktur, das international den Anschluss an die Wirtschaft verloren hätte und nur aufgrund der schönen Bergwelt noch Erwähnung finden würde. Vom Bergtourismus allein können wir aber nicht leben.